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Zehn plus - ein Europa: Slowenien

Jerne: Die Vorteile sind zum Beispiel, dass wir die Grenzen einreißen. Und das Schengen-Abkommen, der freie Handel in Europa...

Christina Janssen | 09.07.2003
    Tina:

    Ich glaube, dass die großen Länder in der Europäischen Union mehr Macht haben und mehr durchsetzen können als ein kleines Land wie Slowenien. Das ist nicht fair - wir sind doch alle gleich.

    Matei:

    Vielleicht fühlen wir uns den ehemaligen jugoslawischen Ländern ein bisschen enger verbunden, weil wir so lange ein Land waren. Aber wir sind in der Mitte Europas. Das ist gut.

    Tina, Jerne und Matei. Drei Schüler aus Ljubljana und ihre Gedanken zur Europäischen Union. Drei 17-jährige und ihre Lieblings-Musik. Sie begeistern sich für Europa, sie fürchten aber auch um ihre Kultur. Balkanpartys und Gypsy-Mambo sind bei den jungen Leuten in Slowenien angesagt, Tito - der längst verstorbene Gründer des kommunistischen Nachkriegs-Jugoslawien - ist Kult. Doch sie sind alle längst in der Europäischen Union angekommen. Der EU-Beitritt? Da wird sich für uns etwas kaum ändern, so die selbstbewusste Replik, wir leben schon lange genauso wie ihr.

    Tatsächlich war Slowenien schon zu jugoslawischer Zeit die stabilste, die wirtschaftlich erfolgreichste, die wohlhabendste Teilrepublik im Vielvölkerstaat. Ein Land von der Größe Hessens, zwischen Österreich, Italien, Ungarn und Kroatien gelegen - mit Alpengipfeln im Norden und einem schmalen Küstenstreifen an der Adria. Es war dieses kleine Slowenien mit seinen zwei Millionen Einwohnern, das - gemeinsam mit Kroatien - die Lunte am Pulverfass Jugoslawien zum Glimmen brachte:

    Soll die Republik Slowenien ein selbstständiger und unabhängiger Staat werden?

    Diese Frage beantworteten nahezu 90 Prozent der Wahlberechtigten im Dezember 1990 - am 23.12. - mit Ja. Ein halbes Jahr später erklärt sich Slowenien für unabhängig. Präsident Milan Kucan am Tag der Feierlichkeiten:

    Heute ist ein großes Fest, wir feiern unsere Unabhängigkeit. Wir sind ein unabhängiger Staat geworden. Heute dürfen wir träumen, morgen ist wieder ein anderer Tag.

    Wenig später kreisen Flugzeuge der Jugoslawischen Volksarmee über der slowenischen Hauptstadt. Panzer rollen auf die Grenzen zu.

    Das Ultimatum ist abgelaufen. Die Schlacht wird wohl gleich losgehen. Unsere Zöllner, Polizisten und Arbeiter hier am Grenzübergang sind von Einheiten der Bundesarmee eingekreist. Und unsere slowenische Armee ist schon in der Nähe.

    Fernsehbilder von Angriffen auf slowenische Grenzposten, ein Krieg vor der eigenen Haustür - das war ein Schock für Europa. Doch die Sache verlief glimpflich: Die Kämpfe dauerten nur zehn Tage, es gab 64 Tote. Ein prominenter Befürworter der slowenischen Unabhängigkeit im Ausland war Hans-Dietrich Genscher. Ihm verdanken die Slowenen, dass Deutschland den neuen Staat Ende 1991 anerkannte. Die Europäische Gemeinschaft folgte wenige Wochen später. Grausame ethnische Konflikte blieben Slowenien erspart. Nicht zuletzt deshalb, weil das Land ethnisch so homogen strukturiert ist: Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung sind Slowenen, drei Viertel sind katholisch.

    So erlangte Slowenien ohne größere Zerreißproben die Freiheit und wurde zum ersten Mal ein eigenständiger Staat. Seitdem marschiert das Land auf einem schnurgeraden Weg in Richtung Europäische Union. Man traut sich etwas zu - auch als Zwei-Millionen-Zwerg in der großen Union:

    Slowenien war nie wirklich hinter dem Eisernen Vorhang. Deshalb war unsere Ausgangsposition schon ziemlich gut. Wir haben zwar, als Jugoslawien zerbrach, zunächst mal die Hälfte unserer Märkte verloren, aber wir haben uns sehr schnell erholt. Eine ganz schöne Leistung. Das war wirklich eine Erfolgsgeschichte. Slowenien ist klein, es ist sehr flexibel und effizient. Und wenn ich das alles zusammenfassen: Es sind die Menschen!

    Die größte Stärke Sloweniens, das sind seine Menschen, sagt der slowenische Europa-Minister Janez Potocnik - einer der populärsten Politiker seines Landes. Fleiß, Gründlichkeit und Sparsamkeit sagt man den Slowenen nach. Nicht umsonst galten sie als die Preußen Jugoslawiens. Der Erfolg jedenfalls spricht für sich: Gemeinsam mit Estland steht Slowenien an der Spitze der EU-Beitrittsländer. Seit Mitte der 90er Jahre wächst die Wirtschaft um jährlich drei bis vier Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt laut Regierung derzeit unter 7 Prozent. Was Lebensstandard und Bruttoinlandsprodukt angeht, hat Slowenien Portugal und Griechenland schon überholt. Das Erfolgsrezept? Darauf weiß der Wirtschaftswissenschaftler Joze Mencinger eine einfache Antwort:

    Ich glaube, es war sehr wichtig, dass wir nicht auf die internationalen Finanzinstitutionen und andere Ratgeber aus dem Westen gehört haben. Sie wollten die übliche Schock-Methode anwenden, die sich in der Regel als falsch erweist. Wie zum Beispiel in Lateinamerika. Der Grundgedanke war, dass wir in einer Welt leben, in der die Nachfrage immer größer ist als das Angebot. Deshalb forderten sie die radikale Öffnung. Bei uns war die Situation aber umgekehrt. Und so war es auch in Ostdeutschland: Sie haben Ostdeutschland wieder aufgebaut und die Firmen dort gleichzeitig durch Wettbewerb zerstört. Deshalb verstehe ich die Leute nicht, die uns sagen wollen, was wir zu tun haben. Wir wissen schon selbst ganz gut über Wirtschaft bescheid.

    Mit anderen Worten: Lasst uns das mal alleine machen. Damit wäre eines der wenigen Probleme angesprochen, die die EU-Kommission immer wieder bemängelt. Der Vorwurf: Slowenien lässt ausländische Investoren nicht ran an den Speck. Stimmt nicht, behauptet Europa-Minister Potocnik:

    Nein, nein, ganz und gar nicht. Ausländische Investoren sind in Slowenien sehr willkommen. Die Frage ist aber, wie wird Slowenien gesehen? Bei uns ist der Standard viel höher als in den meisten anderen Beitrittsländern, die Löhne sind fast so hoch wie in der EU. Das heißt: Man muss andere Gründe haben, um in Slowenien zu investieren. Wir könnten zum Beispiel der Brückenkopf für die Märkte auf dem Balkan sein - wenn die Lage sich dort stabilisiert. Wir hatten immer Kriege in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, Investoren brauchen aber stabile Verhältnisse. Und in eine solche Welt treten wir ein, wenn wir Mitglied der EU werden.

    Joze Mencinger, Rektor der Universität Ljubljana, sieht das anders. Sich nur langsam zu öffnen, sei eine bewusste Strategie gewesen. Und das zurecht:

    Ja, die ausländischen Investoren sind nicht glücklich. Und ich kann sie verstehen. Der Grund ist, dass sie bei uns nicht so viel an der Privatisierung verdient haben wie in anderen osteuropäischen Ländern. Also jammern sie. Aber das ist ihr Problem. Wenn sie egoistisch sein können - wir können es auch.

    Ein Wirtschaftszweig steht allerdings unbestritten schlecht da: die Landwirtschaft. Ein statistisch gesehen kleines und dennoch schwerwiegendes Problem. Gerade einmal 3 Prozent trägt der Agrarsektor zur Wirtschaftsleistung bei, doch es sind Zehntausende Familien, die ganz oder teilweise von der Landwirtschaft leben.

    Wir werden nicht mehr konkurrenzfähig sein. Unsere Bauernhöfe sind einfach zu klein.

    Marietta Markic bewirtschaftet mit ihrer Familie einen kleinen Hof außerhalb der Hauptstadt. Jeden Morgen verkauft sie ihr Gemüse - Kohl, Kartoffeln, Karotten, Salat - auf dem Markplatz inmitten der barocken Innenstadt Ljubljanas.

    Wir besitzen zwei Hektar selbst, sechs haben wir dazu gepachtet. Wir bewirtschaften unseren Hof zu dritt, produzieren Gemüse, haben ein paar Kühe, verwenden nichts künstliches - wir sind ein Öko-Hof. Es ist hart. Wir leben schon jetzt jeden Monat von der Hand in den Mund.

    Aus den müden blauen Augen spricht die Sorge um die Zukunft. Die meisten slowenischen Höfe sind zu klein, um der Konkurrenz im europäischen Binnenmarkt standzuhalten. Das sieht auch die Politik und bemüht sich, Übergangsregelungen zu finden. Umstrukturieren ist das Schlagwort. Doch das heißt: Viele Landwirte werden aufgeben müssen. Nur wenige, wie der Obstbauer Boris Jakoncic, sehen dem EU-Beitritt mit Optimismus entgegen. Jakoncic baut in der fruchtbaren Grenzregion zu Italien im großen Maßstab Obst an. In der EU sieht er eine doppelte Chance: Expansion und Export:

    Der Markt wird größer werden. Und ich hoffe vor allem, dass ich dann in die Europäische Union exportieren kann. Ich produziere Wein und Obst. In diesem Sektor hatten wir in Slowenien bislang viel Import, aber der Export war sehr problematisch. Das wird jetzt leichter. Und dann kann ich hoffentlich mehr exportieren, vor allem nach Österreich.

    Trotz so unterschiedlicher Lebensumstände verbindet die Klein-Bäuerin und den Agrarunternehmer eines: Beide haben im EU-Referendum vergangenen März für den Beitritt bestimmt. Wie in allen Beitrittsländern wird es auch in Slowenien Gewinner und Verlierer geben. Alle aber fügen sich in die Notwendigkeit. Und das ist es, was die politische Kultur in Slowenien prägt: In den richtungweisenden Fragen sind sich fast alle einig. So einig, dass man sich als Journalist manchmal geradezu langweilt, meint Radioredakteur Drago Flis.

    Es gibt keine Differenzen zwischen Opposition und Regierung. Die haben alle gesprochen: Wir sind für Europa usw. Es ist eine mühsame Arbeit, nach Differenzen in der slowenischen Politik zu suchen. Es ist ein Kampf um Positionen, nichts anderes. Ich bin sehr tief enttäuscht über die slowenische Politik.

    Drago Flis sitzt in seiner stickigen Redaktionsstube im Haus des Nationalen Hörfunks, blättert in seinen Zeitungsstapeln und sinniert über Slowenien und den Wandel seit der Wende. Ein Wandel, der auf einer Ebene kaum zum Tragen kommt: Im ganzen Land - in Politik, Wirtschaft und Medien - sitzen noch immer die alten Eliten und ihre Nachfolger an den Schalthebeln. Symbolgestalt dieser Entwicklung ist der ehemalige Präsident Milan Kucan: Ein charismatischer Karrierepolitiker des alten Jugoslawien, der Slowenien die weiche Wende vollziehen ließ und sie selbst vollzog. Der das Land von 1990 bis zum vergangenen Jahr als Staatsoberhaupt führte und sich noch heute einer geradezu manischen Verehrung erfreut. Zum Verdruss der Opposition:

    Wenn Sie sich das Buch anschauen Who is Who , wer ist wer in Slowenien, dann werden Sie sehen: Die wichtigsten Positionen in unserer Wirtschaft besetzen die "old boys" aus der alten Clique. Das sind die Leute, die früher bei den Parteikongressen der Kommunistischen Partei in den ersten Reihen gesessen haben. Wenn Sie ein Foto von damals mit einem Foto unserer Wirtschaftsbosse heute vergleichen - dann sehen sie die gleichen Leute.

    ...klagt der konservative Parlamentsabgeordnete Mihael Brejc. Und Janez Juhant, Professor für Philosophie an der Universität von Ljubljana pflichtet ihm bei:

    Das größte Problem ist das Medienwesen. Also, die elektronischen Medien sind nach wie vor indirekt durch die Regierung abhängig. Die anderen, also die Zeitschriften, sind zwar privatisiert, aber in dem Sinne, dass die Schicht, (die) die Oberhand gewonnen hat, auch da ihren Einfluss hat.

    Ins gleiche Horn stoßen slowenische Intellektuelle, die von Demokratiedefiziten sprechen. Der Schriftsteller Drago Jancar prägte gar den Begriff von der Demokratur, einem Zwischenzustand zwischen Demokratie und Diktatur. Diese Debatte sieht der Journalist Drago Flis gelassen: Ja, die alten Machtstrukturen sind noch da. Na und?

    Es ist wahr, dass das System im Grunde das gleiche geblieben ist. Ich halte das nicht unbedingt für schlecht, aber es ist das alte geblieben, weil Slowenien sehr klein ist. Wir haben kein sehr großes Kaderpotential. Man kann nicht die ganze politische Klasse einfach auswechseln. Das geht eigentlich nicht.

    Für den EU-Beitritt spielen diese innenpolitischen Diskussionen keine Rolle. Darauf setzt auch der Europa-Minister: O-Ton 19 Potocnik (englisch):

    Wissen Sie, wir haben hier ganz normale demokratische Institutionen. In allen Ländern gibt es Leute, die zufrieden sind, und Leute, die unzufrieden sind. Nirgendwo ist es ideal. Denn die Demokratie ist nicht die beste Sache der Welt, sondern nur die beste, die wir kennen. Ich bin nicht gegen Veränderungen. Aber wenn wir uns unsere Entwicklung der vergangenen zehn Jahre anschauen, dann kann man wirklich sagen, dass wir schon viel erreicht haben - in punkto Demokratisierung und in punkto Wirtschaft. Das sind Fakten, die jeder anerkennt, der uns von außen betrachtet. Von innen sieht das oft anders aus. Diese Argumente sind auch absolut legitim, und sie sollten Teil der Debatte sein - denn das ist Demokratie.

    Ein solches Selbstbewusstsein kommt bei vielen Slowenen gut an, meint der junge Journalist Andrej Stopar. Vor allem bei den jungen Slowenen seien die Regierungsparteien deshalb beliebt:

    Die Liberaldemokraten und auch die ehemaligen Kommunisten, sind sehr, sehr attraktiv für die jungen Leute. Für die Leute, die Karriere machen möchten. Das kann man verstehen, weil die die Macht haben und gute Bildung ermöglichen. Und die Opposition, die rechten Parteien, sind gewöhnlich sehr konservativ, und das ist nicht sehr attraktiv für die jungen Leute, meine ich.

    Die jungen Slowenen rauchen West und diskutieren über Tito; sie trinken das heimische Bier Lasko Pivo und freuen sich auf den westlichen Wohlstandsclub. Doch eine Sorge teilen sie mit vielen ihrer Landsleute. Die Sorge um die eigene Kultur: Tina:

    Unsere Sprache ist etwas ganz Besonderes. Und wenn so viele Fremdwörter in unsere Sprache kommen, dann verlieren wir sie vielleicht irgendwann ganz. Wir haben eine so beeindruckende Bandbreite an Dialekten in unserem Land. Und es wäre ein Jammer, das zu verlieren.

    Matei:

    Genau wie Tina es sagt: Unsere Sprache und unsere Kultur. Denn wir haben eine tolle Mischung aus italienischer, österreichischer, ungarischer, kroatischer Kultur - wir sind in der Mitte von allem. Und das ist schön.

    Pirai:

    Der Balkan und Europa - es ist gut, dass wir das alles sind. Und wir wollen so bleiben.

    Es ist das Jugoslawien-Trauma, das in solchen Aussagen und in der teils bizarren Tito-Nostalgie unter den jungen Leuten durchschlägt. Dennoch ist Slowenien ein durch und durch mitteleuropäisch geprägtes Land. Klein und selbstbewusst. Durch seine leidvolle Geschichte der Fremdbestimmung und von außen befohlener Assimilation verfügt das Land über Erfahrungen, von denen die EU durchaus etwas lernen könnte, da ist sich Europa-Minister Janez Potocnik sicher:

    In dieser Erweiterungsrunde treten völlig neuartige Länder in die EU ein - slawischsprachige Länder, östlich geprägte Länder. Und ich glaube, es ist gut, wenn wir begreifen, dass auch das Europa ist. Das können die alten EU-Länder von uns lernen. Von Slowenien im speziellen könnten sie viel über den Balkan lernen - über die Kommunikation mit diesen Ländern: Wir verstehen ihre Logik, wir haben im gleichen Staat gelebt, im gleichen Rechtssystem, wir sprechen die gleiche Sprache, wir haben Freunde dort. Und es ist gut, in der EU einen Vermittler zu haben, der diese instabile Region besser versteht. Und im übrigen sind wir auch ein gutes Beispiel für diese Länder, wie man zum Mitglied der Europäischen Union werden kann.

    Und was kann Slowenien von der Europäischen Union lernen? Der Oppositionspolitiker Mihael Brejc hat - ohne lang nachzudenken - ein aufschlussreiches Beispiel parat:

    Im EU-Konvent war ich Mitglied einer Gruppe, die einen Bericht vorbereiten sollte zum Thema "Komplementäre Kompetenzen". Und ganz am Anfang habe ich den Vorsitzenden der Arbeitsgruppe gefragt, was das heißen soll: komplementäre Kompetenzen. Die Antwort: Na ja, das ist ziemlich schwer zu erklären, aber Sie werden es mit der Zeit schon herausfinden. Und ich habe mir gesagt, na klar, ich bin ja hier, um etwas zu lernen. Aber nach zwei Monaten habe ich wieder gefragt. Und am Ende haben sie einfach den Namen geändert - in "unterstützende Maßnahmen". Das war irgendwie lustig.