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Zeichen gegen Antisemitismus
Protest braucht Symbol

Als ein Zeichen gegen Judenhass finden in mehreren deutschen Städten Kundgebungen statt. Die Kippa, die dabei viele Teilnehmer als Zeichen der Solidarität tragen, hält Sozialpsychologe Harald Welzer für ein naheliegendes Symbol: "Für Protestaktionen ist eine Form von Identifizierbarkeit notwendig", so Welzer im Dlf.

Harald Welzer im Gespräch mit Michael Köhler | 25.04.2018
    Mehrere Teilnehmer der Solidaritätskundgebung «Berlin trägt Kippa» der Jüdischen Gemeinde zu Berlin tragen eine Kippa. Anlass ist der Angriff auf einen Mann mit Kippa in Prenzlauer Berg.
    Mehrere Teilnehmer der Solidaritätskundgebung «Berlin trägt Kippa» der Jüdischen Gemeinde zu Berlin tragen eine Kippa (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Michael Köhler: Nach den Angriffen auf Juden in Deutschland findet heute in Berlin eine Solidaritätsaktion statt. Aber auch in anderen Städten. Kippa tragende Männer wurden in den letzten Wochen beschimpft oder attackiert. Gläubige Juden trauen sich nicht mehr das öffentlich zu zeigen und zu tragen. Ihnen wird sogar abgeraten. Ein persönliches Zeichen gegen Antisemitismus soll heute Abend auch von Nicht-Juden durch das Tragen der Kippa gesetzt werden.
    Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat sich viel mit Fragen von Überlieferung, kollektiver Erinnerung und Gedächtnisproduktion befasst.
    Ihn habe ich gefragt, früher trug man ganz offensichtlich, sagen wir, einen DGB-Sticker oder ein Parteiabzeichen, heute strickt man "pussy hats", Wollmützen gegen frauenfeindliche Äußerungen Präsident Trumps. Das Gestrickte als Ausdruck selbst gemachter Autonomie. Wird Protest inzwischen zum Ausdruck einer spontanen Mode, ein befristetes Erkennungszeichen, hat sich der Protest verändert?
    Harald Welzer: Na ja. Ich glaube, notwendig für Protestaktionen ist ja irgendeine Form von Identifizierbarkeit, irgendeine Form von Symbol. Und jetzt nach den antisemitischen Angriffen ist die Kippa natürlich das Naheliegendste und es ist ja im Grunde genommen letztlich so ähnlich wie nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo, dass jeder dann plötzlich mit entsprechenden Symbolen oder "Charlie!" und so was durch die Gegend gelaufen ist, oder die Leute das auf ihre Homepages getan haben. Das ist ja hier, finde ich, eine sehr sinnfällige und naheliegende Aktion, die Kippa zu verwenden als ein Symbol der Solidarität mit der angegriffenen jüdischen Bevölkerung.
    "Menschenfeindliches Klima"
    Köhler: Es fällt leicht, sich, ich will nicht sagen, sich darüber lustig zu machen, aber doch zumindest darüber zu schmunzeln. Es ist bequem, es erfordert nicht viel Mut, es passiert in geschützter Umgebung, sich zu solidarisieren. Und doch ist es vielleicht eine Form, sich Luft zu machen?
    Welzer: Ich finde, wir erleben ja im Moment so einen erstaunlichen Zug hin zur Menschenfeindlichkeit – durch die Begrifflichkeiten, die im politischen Raum kursieren, durch die beständigen Angriffe der AfD verbaler Art auf Zuwanderer, auf Flüchtlinge, die Suche danach, wer jetzt denn eigentlich die größte Problemgruppe im Land ist. Man denke an die Echo-Verleihung, die skandalöse, und so. Wir kriegen ja so ein etwas menschenfeindliches Klima und ein menschenfeindliches Klima ist dann immer auch gewissermaßen so eine gefühlte Legitimation für Leute, die dann meinen, sie müssten richtig Gewalt anwenden. Insofern glaube ich, man muss jetzt sehen, wie viele Leute daran teilnehmen werden, aber ich finde diese Aktion zunächst mal nachvollziehbar und auch möglicherweise wirkungsvoll, dass man sagt, die Mehrheit der Bevölkerung ist gegen die Ausgrenzung, gegen die Diffamierung anderer Menschen, gegen das Verächtlichmachen. Insofern finde ich das erst mal spontan eine einleuchtende Aktion.
    Köhler: Sind das die Ostermärsche von heute?
    Welzer: Die gibt’s ja nicht mehr. Das ist sicherlich ein großer Unterschied zu, sagen wir mal, den großen Zeiten der Friedensbewegung, der Anti-AKW-Bewegung, dass es diese Form von Massendemonstrationen zur Artikulation und Durchsetzung eigener politischer Interessen, dass das verloren gegangen ist. Ich glaube, das letzte Großereignis dieser Art war die Demonstration in Berlin gegen TTIP mit 200.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, aber die wurde zum Beispiel medial gar nicht groß gespielt, kam in der "Tagesschau" nur als verschwindend kleine Meldung, und da hat sich ja sehr viel in der Medienlandschaft auch verändert, die es vielleicht auch schwieriger macht, Protest heute sichtbar zu machen.
    Protest ist auch ein Pop-Phänomen
    Köhler: Ist Protest auch ein Pop-Phänomen?
    Welzer: Protest ist ganz grundsätzlich ein Pop-Phänomen. Ich glaube sogar, dass erfolgreicher Protest nur dann möglich ist, wenn es Elemente von Pop-Kultur aufnimmt. Dazu gehört dann wiederum eine Symbolik, dazu gehört eine Ästhetik, dazu gehört ein gewisser Witz. Das Verstaubte sieht man dann ja gelegentlich, wenn man Gewerkschaftsdemonstrationen sieht mit den Trillerpfeifen oder mit dem Sarg, in dem wieder irgendwas zu Grabe getragen wird. Das sind total abgestandene Formen.
    In der Protestkultur ist es eigentlich nicht gelungen, etwas Neues, wirklich auch Interessantes zu entwickeln. Mit einer Ausnahme vielleicht, wenn Sie sich an den G20-Gipfel und die Proteste in Hamburg erinnern. Da gab es zum Beispiel eine Kunstaktion mit den "Grauen Männern", wo eine große Zahl, ich glaube, es waren tausend Leute in grauer Montur mit Lehm verkleidet durch die Straßen marschiert sind, um wahrscheinlich den Finanzkapitalismus auf diese Weise zu symbolisieren. Das würde ich schon in die Abteilung kreativer Protest rechnen. Aber im Großen und Ganzen hat man sich das Protestieren leider auch ein bisschen abgewöhnt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.