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Zeichner Simon Schwartz
Geschichtsbilder von der Seitenlinie aus erzählt

Comic-Autor Simon Schwartz liefert "grafische Weltliteratur", so Kritiker über dessen Werk. Seine Grafic Novels behandeln große historische Themen aus ungewöhnlicher Perspektive. Die Ausstellung "Geschichtsbilder" in Oberhausen zeigt ein Making-of.

Von Peter Backof | 01.10.2019
Cover Grafic Novel „drüben!“,
Das Cover zur Graphic Novel „drüben!“ von Simon Schwartz ( © Simon Schwartz)
Simon Schwartz: "Mich reizt es jetzt nicht, einen Lexikonbeitrag zu illustrieren. Mir geht es schon darum: Wenn ich heutzutage einen historischen Stoff erzähle, dann muss es einen Grund geben. Es muss also einen Mehrwert für die Gegenwart geben."
Denn Simon Schwartz bedient selber gerne das ganze Spektrum des Mediums; illustriert auch gelegentlich - angewandt künstlerisch - für "Die Zeit". Aber das Herzblut fließt für die großen Graphic Novels. Mit dem Band "drüben!" ist er vor zehn Jahren bekannt geworden: ein Mauerfall-Epos, in dem er die Fluchtgeschichte seiner eigenen Familie aus der DDR erzählt, aus kindlicher Perspektive.
Geschichte aus ungewöhlichen Persoektiven
"Meine Bücher handeln oft von historischen Großereignissen, aber ich erzähle sie gerne von der Seitenbande. Als ich das Buch gemacht habe, da war 20 Jahre Mauerfall, dieses Jahr haben wir 30 Jahre Mauerfall. Was mir aufgefallen ist: dass meine Generation, die die DDR oder die Wende oder Westdeutschland als Kinder erlebt hat, als Zeitzeugen nie ernst genommen wurde. Also Kinder werden prinzipiell nicht als historische Zeitzeugen ernst genommen."
Aber der erwachsene Simon Schwartz ist mittlerweile fast schon so etwas wie ein Vorzeige-Comicautor. In Erfurt steht ein "Denkmal der friedlichen Revolution", ein gewaltiger Kubus, ein begehbares Geschichtspanorama mit seinen Motiven. Dieser Kubus steht als Miniaturmodell in einer Vitrine, in der Oberhausener Ludwiggalerie. Die Ausstellung "Geschichtsbilder" ist eine Retrospektive, von "Jim und Sam" an; ein erster, noch etwas unbeholfen gezeichneter Strip des damals Elfjährigen. Über die Jahre und mit den großen Novels wie "Packeis" oder "IKON" wurde alles raffinierter.
Simon Schwartz hat keinen einzigen Zeichenstil, er hat viele: Der Inhalt sucht sich bei ihm die Form. Bei der Entdeckung des Nordpols in "Packeis" schaffen blassblaue Aquarelle eine Atmosphäre klirrender Kälte. Und bei der Geschichte um die russische Oktoberrevolution fließt orthodox-christliche Ornamentik ein – und steht für so etwas wie russische Mentalität.
Botschafter der Comic-Kunst
Die Ausstellung ist atmosphärisch dicht, obwohl alles nur flach an der Wand präsentiert ist, gerahmt und hinter Glas. Comics sind Kunst! Und Simon Schwartz ist einer ihrer Botschafter.
"Ich hatte ja in diesem Jahr eine Ausstellung im deutschen Bundestag gehabt. Der deutsche Bundestag hat mich angefragt. Und das fand ich besonders bemerkenswert, denn im Jahr 1926 wurde im Reichstag das 'Gesetz gegen Schmutz und Schund' verabschiedet, das sich auch gezielt gegen grafische Literatur, ergo Comics, richtete. Und das hat - mit darauffolgenden Gesetzen in der BRD und der DDR; zum Beispiel den Jugendschutz in der BRD - eigentlich weiter zum schlechten Leumund der Comics in Deutschland beigetragen. Und dass der deutsche Bundestag sagt ... und dass sie Comics zeigen, ist schon ein sehr sehr großer Ritterschlag für die Kunstform Comic in Deutschland."
Es hat sich viel getan im letzten Jahrzehnt, mit Autoren wie Sascha Hommer, Karin Kramer, Birgit Weyhe. Und auch Schwartz ist Protagonist der Emanzipation grafischer Literatur. Das macht viel Arbeit. "IKON" hat ihn, von der ersten Idee bis zur Postproduktion, sechs Jahre lang beschäftigt: "'IKON' beschäftigt sich mit der Ikonisierung von Personen und verrückterweise mit dem Thema Fake News."
Im Comic stürzt sich also eine attraktive junge Frau vom Schöneberger Ufer in den Landwehrkanal. Und wird zur Ikone. Ikone durchaus im aktuellen Sinn wie bei Greta Thunberg oder Edward Snowden. "So ist es bei 'IKON` auch mit der ´falschen Anastasia´: Es ist letzten Endes egal, ob sie die echte Anastasia ist oder nicht. Wichtig ist nur, wofür sie steht."
Sie steht für Mechanismen von Öffentlichkeit, die es zu allen Zeiten gab. Der Mehrwert für die Gegenwart, nach dem Simon Schwartz immer auf der Suche ist. "Ja, es geht um Geschichtsbilder. Wie entsteht unser Bild von Geschichte; was glauben wir denn: Was echt ist oder was nicht echt ist, ja? Und inwiefern fälschen wir das auch zum Teil?"
Die Ausstellung "Geschichtsbilder": Es ist ein literarischer Raum, der sich da auftut. Es ist Erzählkunst aus Bild und Text. Auch mit allen unbequemen Konsequenzen für den Literaten: "Ich muss mir sehr sicher sein, dass die Geschichte auch lang genug trägt und ich nicht nach der Hälfte der Zeit sage: 'Boah, ich kann es nicht mehr sehen, ich haue das jetzt alles in die Tonne!'"