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Zeit für ein Lifting

Fünf U-Bahn-Stationen trennen das frühe 19. Jahrhundert vom 3. Jahrtausend: Im Geschäftsviertel La Défense, nahe dem historischen Zentrum von Paris, überbieten die futuristischen Bauten einander. Aber die Menschen, die hier leben und arbeiten, sind ganz die Alten geblieben.

Von Bettina Kaps | 02.06.2013
    Ein sandiger Platz unter mächtigen Platanen. Zwölf Männer spielen Petanque. Rundherum sitzen Leute. Sie schauen zu, wie die Kugeln rollen. Die Spieler haben ihr Mittagessen auf einem Mäuerchen abgestellt: Nudelsalat, ein angefangenes Sandwich, Wasserflaschen. Ihre Zeit ist knapp. Bald müssen alle wieder an die Arbeit, sagt José, ein 40-Jähriger in Jeans und Polohemd. Er zeigt auf ein Hochhaus, dessen Spitze von den Baumkronen verdeckt wird.

    "Ich bin Wartungsbeamter, ich kümmere mich im Turm des Stromlieferanten GDF um Strom, Klimaanlagen, Schlösser. Wir spielen hier das ganze Jahr über. Eine Ausnahme machen wir nur, wenn es regnet oder schneit."

    Sein Mitspieler trägt einen akkurat geschnittenen Kinnbart, graue Flanellhose, weißes Hemd. Vincent erzählt, dass er als Banker arbeitet. Die beiden Männer kennen sich nur über die Petanque.

    "Jeder kann mitmachen, man muss nur seine Boule-Kugeln mitbringen. Die Petanque bringt mich auf andere Gedanken, das ist wirklich eine gute Arbeitsunterbrechung."

    Der Bouleplatz liegt am Rand der Esplanade. Die breite Hauptader des Geschäftsviertels La Défense ist Teil der Königsachse, die unter dem Sonnenkönig Louis 14 begonnen wurde: Sie führt schnurrgerade vom Louvre über den Platz der Concorde und den Triumphbogen bis hin zum Grande Arche. Der moderne Triumphbogen aus dem 20. Jahrhundert ist das Wahrzeichen von La Défense.

    Diesseits und jenseits der Esplanade erheben sich schlanke Wolkenkratzer mit spiegelnden Glasfassaden. Die zahllosen Fenster schillern in Schattierungen von Blau, Grau, Grün. 2.500 große Firmen sind in La Défense angesiedelt, 180.000 Menschen arbeiten hier. Dennoch ist es erstaunlich ruhig. Der Grund: Alle Fahrzeuge - Autos, Bahnen, Busse, LKW fahren unter der Bodenplatte. Die Esplanade ist eine riesige Fußgängerzone: Statt Ampeln und Kreuzungen wechseln sich Springbrunnen, Blumenbeete und moderne Kunstwerke ab.

    Unter einem rosa blühenden Baum sitzt ein alter Mann auf einer Bank und genießt die Sonne. Gérard ist in La Défense zu Hause, er hat hier seine Gewohnheiten. So ruht sich der 90-Jährige stets auf derselben Bank von seinem Spaziergang aus. Er schaut in die Ferne, wo sich der Pariser Triumphbogen im Morgendunst abzeichnet.

    "Jeden Vormittag laufe ich die Défense ab, also die ganze Esplanade, an den Hochhäusern vorbei. Ich liebe das Viertel! Immerhin habe ich hier Jahrzehnte lang gearbeitet habe. Stellen Sie sich vor: Ich habe 1939 hier angefangen, das ist lange her. Damals musste ich zu Fuß über die Seine-Brücke gehen, so weit fuhr die Metro damals nicht. Mir gefällt es sehr, wie sich La Défense entwickelt hat. Und dass jetzt neue Hochhäuser gebaut werden, stört mich gar nicht!"

    Gerard erzählt, dass er Schlosser gelernt und sich später zum Ingenieur hochgearbeitet hat. Heute genießt er den Ruhestand in einer schönen Wohnung, sie liegt im 16. Stock.

    Von dort oben sieht er ganz Paris, vom Bois de Boulogne bis zum Hügel von Montmartre.

    In manchen Seitenstraßen geht es allerdings auch ohne Verkehr sehr laut zu: Da wird renoviert, abgerissen, neu gebaut. Philippe Chaix ist Leiter der Behörde, die für den Ausbau des Geschäftsviertels zuständig ist. Er steht vor einem Modell des Stadtteils, das auch in dem kleinen Museum zur Geschichte von La Défense ausgestellt ist. Viele Türme, die hier noch zu sehen sind, werden bald verschwunden sein, sagt er.

    "Der historische Teil von La Défense wurde in den 60er-Jahren gebaut. Also vor einem halben Jahrhundert. Jetzt ist die Zeit der Renovierung gekommen: Wir bauen La Défense neu, und zwar auf La Défense."

    Gründe dafür gibt es viele: Die Türme altern, sind nicht mehr zeitgemäß, schlucken zuviel Energie. Ein anderes Modell zeigt die zukünftige Skyline: Zehn spektakuläre Wolkenkratzer sind bei weltbekannten Architekten in Auftrag gegeben. Der erste, Tour First genannt, ist schon fertig. Das schraubenförmige Gebäude ist das höchste Haus in Frankreich. Aber nicht für lange: Norman Foster arbeitet an eleganten Zwillingstürmen. Deren Höhe hat er jetzt auf 320 Meter reduziert, sagt Philippe Chaix, denn der Eiffelturm soll auch im 2. Jahrtausend nicht übertrumpft werden. Dennoch werden die neuen Hochhäuser mit mehr als 90 Etagen den jüngsten Londoner Wolkenkratzer "The Shard" überragen und somit die höchsten Türme Europas sein - zumindest bei ihrer Einweihung, sie ist für 2019 geplant.

    Abdelnasser und Cedric sind Finanzberater in einer Investmentgesellschaft. Die jungen Männer machen Zigarettenpause vor der gläsernen Eingangstür ihrer Firma.

    "Ich finde das genial. Immer höher, das gefällt mir, das ist modern und verleiht dem Viertel zusätzliche Bedeutung. Außerdem können dann noch mehr Menschen in La Défense arbeiten, es ist ja jetzt schon das größte Geschäftsviertel in Europa. Ein solcher Turm macht es noch wichtiger."

    Christine raucht vor einem Nachbargebäude, ihr gefällt die Bauwut nicht.

    "Direkt hinter meinem Hochhaus wird gerade ein neuer Wolkenkratzer gebaut. Vorher hatte ich einen schönen Ausblick auf die Pferderennbahn von Longchamp. Jetzt sehe ich nichts mehr, dabei liegt mein Büro im 18. Stockwerk. Ich schaue jetzt nur noch in ein fremdes Büro. Die beiden Hochhäuser berühren sich fast, von meinem Fenster aus könnte ich den Angestellten gegenüber zuwinken."

    Der Weg führt an einem hohen Lüftungsschacht vorbei, der kaum noch als solcher erkennbar ist. Er ist mit knallig bunten Glasfaserröhren verkleidet – eins von etwa 70 Kunstwerken hier. La Défense ist auch ein Freiluftmuseum. Unübersehbar ist die orangerote Stahlskulptur von Alexander Calder. Wie eine Spinne mit drei Beinen behauptet sich die gigantische Plastik gegen die Hochhäuser rundherum.

    Ein paar Schritte entfernt steht ein Bauwerk, das nicht durch seine Höhe auffällt, sondern durch eine ungewöhnliche Form: ein schwebendes Gewölbe, das auf nur drei Pfeilern gelagert ist. Das weiße Dach erinnert an eine Muschel. Dieses architektonische Meisterwerk, kurz CNIT genannt, war das erste große Gebäude, das in La Défense errichtet und 1958 vom Präsidenten Charles de Gaulle eingeweiht wurde. Damals diente es als Ausstellungshalle, heute ist es Hotel, Geschäfts- und Kongresszentrum.
    Gleich neben der Halle steht ein weißer Kubus mit einer hohen, flachen, lichtdurchlässigen Wand. Man muss schon sehr genau hinschauen, um das dezente Kreuz zu entdecken: Diese Wand ist ein Kirchturm.

    Die Kirche "Notre Dame de Pentecote" ist ebenfalls ein Ort, an dem Angestellte der umliegenden Büros ihre Mittagspause verbringen: beim Gottesdienst. An diesem Tag sind fast alle 300 Plätze des Gotteshauses besetzt. Nicht nur die Architektur der Kirche ist ungewöhnlich, auch die Art, wie sie betrieben wird, sagt Jean-Marc Gombert. Er stellt sich als "Maitre de maison" vor, als eine Art Hausherr also, der die Besucher begrüßt.

    "Wir sind keine traditionelle Pfarrgemeinde, sondern ein Ort, wo man beten, die Messe feiern und sich treffen kann. Mittwochs bieten wir in unserer Cafeteria auch ein Mittagessen an. Im Unterschied zu den meisten Kirchen sind wir sonntags nicht geöffnet."

    In den Räumen der Kirche übt regelmäßig ein Gospelchor: Rund 90 Frauen und Männer treffen sich in der Mittagspause zum Singen. Dafür müsse man nicht gläubig sein, betont Catherine. Die braunhaarige Sopranistin arbeitet bei der Großbank Société Générale.

    "Die Chorprobe fügt sich sehr gut in meinen Arbeitstag ein. Hier singen überwiegend Leute, die in La Défense arbeiten und mittags nur begrenzt Zeit haben. Wir müssen also alle ein bisschen schnell machen. Mein Hochhaus liegt gut zehn Minuten entfernt. Ich beeile mich immer, damit ich auch wirklich eine Stunde zum Singen habe."

    Catherine ist für die Filialen ihrer Bank in Neukaledonien und auf Tahiti verantwortlich. Aufgrund der Zeitverschiebung arbeitet sie sehr früh morgens und spät abends – mittags hat sie daher etwas mehr Luft als andere Kollegen, sagt sie. Beim Singen erholt sie sich vom Stress der Arbeit.

    "Das gibt mir ungeheuer viel Schwung. Der Chor übt immer freitags. Nach einer langen und oft sehr anstrengenden Woche kann ich anfangen, ein bisschen zu entspannen. Hier zu singen, das ist für mich das reine Glück."

    Damit La Défense nicht nur tagsüber belebt ist, werden häufig Events organisiert, zum Beispiel Tanzabende, große Licht- und Lasershows, Musikfestivals. So auch jetzt wieder: Kurz vor dem Grande Arche ist ein Spiegelzelt aufgebaut. Dort wird aktuelle Musik gemacht: Rock, Pop, Hip-Hop, Electro. Abends kosten die Konzerte Eintritt, aber in der Mittagspause wird gratis gespielt.

    Wer selbst aktiv sein will. kann einen Abstecher ins Einkaufszentrum "Les quatre temps" machen. Mit seinen 250 Läden ist es eine der größten Shoppingmeilen in Europa. Aus der Eingangshalle tönt Musik: dort wird hin und wieder Tango getanzt.

    Die Esplanade steigt zum Ende hin sanft an, der moderne Triumph-Bogen liegt auf einem Hügel. Seine weißen Marmortreppen sind dicht besetzt von Menschen, die Picknick machen. Angestellte mischen sich hier mit Touristen. Der Bogen selbst ist so immens, dass die Kathedrale Notre Dame mit Türmen und Dachreiter darin problemlos Platz fände. Einzige Enttäuschung: die Aufzüge zum Dach der Grande Arche stehen still. Sie sind außer Betrieb, und niemand weiß, wie lange noch.

    Im Bogen treffen Touristengruppen aus aller Welt aufeinander. Auch Miech und Hendrik aus Amsterdam lassen den Blick über die Wolkenkratzer und die Königsachse bis nach Paris hin schweifen.

    "Ich bin überrascht, dass die Gebäude so hoch sind und so dicht nebeneinander stehen. La Défense gefällt uns sehr, vor allem, weil es in dem Viertel so geschäftig zugeht. Es scheint, als ob die Menschen hier eine sehr lebendige Gemeinschaft bilden würden. Wir fragen uns, ob die Leute hier alle nur arbeiten, oder ob sie hier auch leben."

    Der Weg durch die Seitenstraßen führt auch an kleineren Gebäuden mit zehn bis 20 Etagen vorbei. Soziale Wohnungsbauten, die ein wenig schäbig aussehen, stehen neben schönen Appartement-Häusern. Vor einem Hauseingang treffe ich eine ältere Frau, sie trägt ihre Einkäufe nachhause. Renate ist Deutsche. Mit ihrem französischen Mann Jean-Pierre hat sie lange in Nizza gelebt.

    Als sie dann in Rente gingen, haben sie es anders gemacht als viele andere Senioren: Das Ehepaar ist nach Norden gezogen, in die Nähe von Kindern und Enkeln. Aber nicht nach Paris oder in einen der gutbürgerlichen Vororte. Nein, Renate und Jean-Pierre haben sich für La Défense entschieden.

    "Die Défense ist ein Viertel, in dem man sehr angenehm wohnen kann. Das ist für viele erstaunlich, aber es ist ruhig, es ist eine Fußgängerzone, die Metro haben wir unter unseren Füßen, bequemer geht es nicht. Wir sind in 15 Minuten im Zentrum von Paris. Dieses moderne Viertel mit sehr viel Grünanlagen, mit Kunstwerken und interessanter Architektur ist ein Viertel, das uns gefällt."

    Renate zeigt ihre Wohnung, die im 1. Stock liegt: Vom Wohnzimmerfenster aus sieht man zuerst die Weite des Himmels, wo heute große Wolken vorbei ziehen. Dann fällt der Blick auf Paris mit dem Triumphbogen und schließlich auf die Fußgängerstraße, wo es vor Menschen wimmelt. Ihr Mann ist auch begeistert.
    "Dieses Viertel verändert sich ständig. Es ist unglaublich, immerfort werden Türme zerstört und neu gebaut… Viele Freunde sind überrascht, wenn sie uns besuchen, dass es hier nicht ewig gleich aussieht, wie in Paris. Das Gegenteil ist der Fall. wir mögen das, diese Bewegung. Ich sage immer: Hier sind wir im 3. Jahrtausend."

    Morgens, erzählt Renate, weckt sie Vogelzwitschern und nach Büroschluss, wenn die meisten Angestellten das Geschäftsviertel verlassen haben, macht sie mit ihrem Mann einen Abendspaziergang: Rund um die Hochhäuser, die dann, wie sie sagt, so malerisch beleuchtet sind.