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Zeitlos anregend

Theaterkritiken sind für den Tag geschrieben. Deshalb gibt es nur wenige Kritiker, deren Schriften als zeitlos gültige theoretische und wissenschaftliche Texte überdauern. Siegfried Melchinger wirkt noch heute mit seinen Texten als Anreger für Theatermacher.

Von Hartmut Krug | 22.11.2006
    In seiner Schrift "Versuch einer Selbstkritik", in der er nach Maßstäben für den Theaterkritiker forschte, erklärte Siegfried Melchinger:

    "Alle Kritik hat das Recht, öffentlich nein zu sagen."

    Als Theaterkritiker war Siegfried Melchinger in den 50er und 60er Jahren einer der einflussreichsten nicht nur Deutschlands, sondern Europas. Zugleich aber war der Germanist und Altphilologe auch Theatertheoretiker und Theaterpraktiker. Als Praktiker rief er das Theater zur Unruhe auf. Als Theoretiker versuchte er, in die geforderte Unruhe ästhetische Ordnung zu bringen. Heraus kamen bei dieser intellektuellen Quadratur des Kreises zahlreiche Bücher, die wie zum Beispiel das "Drama zwischen Shaw und Brecht" noch heute von Dramaturgen und Studenten als Standardwerke genutzt werden. Als Mitherausgeber der Fachzeitschrift "Theater heute" schrieb er in deren erster Ausgabe 1963, dass Theater nicht einfach den Zeitgeist zu spiegeln habe:

    "Es schafft Gegenwirklichkeit, Antispiegelwelt, weil es dem Widerspruch zu der Zeit, wie sie ist, entspringt."

    Für Siegfried Melchinger, der am 22. November 1906 in Stuttgart als Sohn eines Postamtmannes geboren wurde, stand in seinem 82-jährigen Leben immer das Theater im Zentrum. In Tübingen promovierte er 1927 über "Die Dramaturgie des Sturm und Drang", in Stuttgart, Frankfurt, Berlin und München war er Redakteur und Kritiker, am Theater in der Josefstadt Wien Chefdramaturg, bei der "Stuttgarter Zeitung" von 1953 bis 1962 Feuilleton-Chef, und von 1963 an war er sowohl Mitherausgeber der Zeitschrift "Theater heute" wie Professor für Theorie des Theaters an der Stuttgarter Hochschule für Musik und darstellende Kunst. In allen Funktionen hat er sich um sinnliche Vergegenwärtigung des Theaters bemüht, getreu seiner Devise:

    "Theater wird von lebenden Menschen für lebende Menschen gemacht, - was wir uns vorstellen, sind Vorstellungen."

    Leidenschaft und Engagement bestimmten für ihn Inhalt und Form des Theaters. "Schule des Durchschauens" nannte der Regisseur Walter Felsenstein Melchingers Kritiken. Als Mitglied der Jury des ersten Berliner Theatertreffens hat Melchinger in einem Rundfunkinterview 1963 die Wahl von Rudolf Noeltes Inszenierung von Sternheims "Der Snob" unter anderem so begründet:

    "Das Stück erreichte unsere Aktualität, indem es das Wesen jeder Gesellschaft, in der Repräsentation mehr gilt als Wahrheit, zur Darstellung brachte. So wuchs Sternheims Thema, der snobistische Adelstick des Bourgeois, über die wilhelminische Zeitbedingtheit hinaus. Wir sahen Lebewesen zu Gespenstern werden, weil sie sein wollten, wie sie den anderen zu erscheinen wünschten."

    "Das Theater der Gegenwart", "Die Welt der Tragödie" und "Das Theater der Tragödie" halten noch heute stand als große analytische Werke, in denen Melchinger die Schaubühne nicht als moralische, sondern als kritische Anstalt betrachtet. Und seine "Geschichte des politischen Theaters", 1971 entstanden in Zeiten studentenbewegter Diskussionen über aktuelle politische Wirkungsmöglichkeiten des Theaters, lässt sich auch dann mit Gewinn lesen, wenn man des Autors Absage an die Veränderungs- und Aktualisierungswut heutiger Regie nicht teilt:

    "Politisches Theater ist kritisches Theater. Öffentlichkeit ist das wichtigste Kriterium, durch das sich politisches von nichtpolitischem Theater unterscheidet. Die meisten politischen Stücke sind Denkspiele. Politisches Theater zeigt mehr als Geschichtsbücher: Menschen, die Geschichte machen, und Menschen, mit denen Geschichte gemacht wird."

    So erscheint Siegfried Melchinger mit seiner historisch ausgreifenden Analyse politischen Theaters fast als ein zum Engagement auffordernder Gesellschaftskritiker:

    "Im Grunde, das ist eine bestürzende Erfahrung, hat das Theater so gut wie nichts erreicht, seit es sich mit Politik befasst. Nun, da nichts erreicht worden ist, stellt sich die Aufgabe auch fürderhin: durch politisches Theater einzugreifen in den Übermut der Politiker und jener tiefsten Erfahrung das Wort zu reden, die von Heraklit bis Mao so verstanden worden ist, das das eine nicht ist ohne das andere, und die eine unpopuläre Schlussfolgerung nahe legt: dass der Widerspruch eine Konstante der Existenz ist und bleiben wird."

    Siegfried Melchingers emotionale und intellektuelle Begeisterung bewahrte seinen Büchern ihre Lebendigkeit und Aktualität.