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Zeitloses über die Zeit

Marcel Proust hatte kein leichtes Leben: In frühester Jugend erkrankte er an Asthma und war gezwungen, seine gesamte Lebensführung der Krankheit anzupassen. So widmete er sich der Kunst, wurde zu einem der feinsinnigsten Beobachter und Autoren seiner Zeit - einer Zeit, deren Gewohnheiten er in seinem Romanwerk detailliert beschrieb.

Von Kersten Knipp | 18.11.2007
    Paris, 1905: Im Gebäude Nummer 102 des Boulevard Haussmann liegt in seinem Bett ein im Grunde noch recht junger Mann. Mitte 30 ist er, doch zur Arbeit am Schreibtisch fehlt ihm die Kraft: Das Asthma, an dem er seit jungen Jahren leidet, raubt ihm den größten Teil der Energie. So schreibt Marcel Proust fortan im Liegen, in einer träumerischen Atmosphäre, die auch den Auftakt zu seinem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" bildet.

    "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal fielen mir die Augen, wenn kaum die Kerze ausgelöscht war, so schnell zu, dass ich keine Zeit mehr hatte zu denken: 'Jetzt schlafe ich ein.'"

    Wachen und Schlaf, Traum und Wirklichkeit: Es ist dieses Halbschattenreich, das dem siebenbändigen Romanwerk seine ganz eigene Atmosphäre verleiht. Einerseits leistet Proust, geboren 1871 als Sohn eines renommierten Mediziners in Paris und so mit den Sitten des gehobenen Bürgertums intim vertraut, eine scharfsinnige und detaillierte Darstellung der französischen Belle Époque, andererseits setzt er sich künstlerisch mit den Gesetzen der Wahrnehmung und Erinnerung auseinander und zwar auf eine Art, die an Sensibilität ihresgleichen sucht. So enthält die "Suche nach der verlorenen Zeit" das vielleicht berühmteste Gebäckstück der Weltliteratur: die "Madeleine", die dem Erzähler, kaum spürt er deren Geschmack auf den Lippen, längst vergangene Zeiten in Erinnerung ruft.

    "In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. [...] Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, dass sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinaus ging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen?"

    Der Erzähler wird sie niemals fassen. Denn die Erinnerungen lassen sich nicht herbeizwingen. All die Bilder, Farben, Gerüche, die Empfindungen seiner Jugend, sie kehren nur für einen kurzen Moment zurück. Die Erinnerungen sind ein Geschenk, und seit Proust wissen wir, wie schwach sie sind, wie wenig dem Willen unterworfen. Doch auch die Wahrnehmung der Gegenwart kennt begnadete Momente, Augenblicke, in denen es scheint, als wolle die Wirklichkeit etwas von sich mitteilen. Etwas, das über alles Physische hinausgeht. So etwa, als der Erzähler eines Tages während einer Kutschfahrt aus der Ferne zwei Glockentürme erblickt.

    "Beim Feststellen und Einprägen der Form ihrer Spitze, der Verschiebung ihrer Linien der Oberflächen, auf denen die Sonne lag, fühlte ich, dass ich noch nicht am Ende meiner Eindrücke war, dass etwas sich noch hinter dieser Bewegung, dieser Helligkeit befand, etwas, das sie zu enthalten und zugleich zu verbergen schienen."

    Es ist dies der Moment, in dem der Erzähler seine Berufung zum Schriftsteller entdeckt. Bereits 1896 hat Proust nach politischen und philosophischen Studien an der Sorbonne seinen ersten Roman "Freuden und Tage" veröffentlicht. Fortan geht es ihm darum, den Rhythmus der Welt in den Rhythmus der Schrift zu übersetzen, in den gemächlichen Sprachfluss der "Suche nach der verlorenen Zeit". Und so lässt Proust die Vergangenheit an sich vorbeiziehen, um deren Sinn und Ordnung im Akt des Schreibens zu durchdringen. Eine gewaltige Aufgabe, die er im letzten Band des Werks, der "wieder gefundenen Zeit". umreißt - und die in einer Art auf den Kopf gestellten Chronologie den Auftakt zu jenem gewaltigen Romanwerk schildert, das der Leser gerade hinter sich gebracht hat.

    "Ja, es war lang, was ich zu schreiben hatte. [...] Wenn ich arbeitete, würde es nur nachts geschehen können. Doch es würde vieler Nächte bedürfen, vielleicht hundert, vielleicht tausend. [...] Zweifellos würden auch meine Bücher wie mein Wesen aus Fleisch und Blut eines Tages vergehen. Doch man muss sich eben abfinden mit dem Tod. Man nimmt die Vorstellung hin, dass in zehn Jahren man selbst nicht mehr ist und in hundert Jahren die Bücher nicht mehr existieren. Ewige Dauer ist den Werken so wenig wie den Menschen verheißen."

    Proust irrte: Sein Werk besteht nach 100 Jahren sehr wohl noch, und nichts deutet darauf hin, dass es nicht auch in den kommenden 100 Jahren noch bestehen wird. Nur ihm selbst war kein langes Leben mehr beschieden: Der Autor der "Suche nach der verlorenen Zeit" starb am 18. November 1922.