Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

"Zeitschneise" in Weimar
Erinnerungspolitisches Kunstwerk droht zu verfallen

Sie liegt zwischen dem Musenschloss der Weimarer Fürsten und dem späteren KZ Buchenwald: eine Schneise durch den Wald. Seit 1999, dem Kulturhauptstadtjahr Weimars, verdeutlicht diese "Zeitschneise“ den kurzen Weg zwischen kulturellem Höhenflug und Barbarei. Gegen ihren Verfall regt sich Protest.

Von Henry Bernhard | 23.08.2020
Der Eingang zur Gedenkstätte Buchenwald
Die "Zeitschneise" lenkt den Blick Richtung Gedenkstätte Buchenwald (imago stock&people)
Jan Klüßendorf ist als Forstamtsleiter auch für den Buchenwald auf dem Ettersberg zuständig. Er rüttelt an verfaulten Stufen auf einem steilen Wanderweg, zeigt, wo mal eine Brücke über einen Bachlauf führte:
"Wir haben die Brücken dann einfach abgerissen, denn ich konnte es nicht mehr vertreten."
Weimar: Kulturhauptstadt Europas 1999 - Bauboom, Kunstskandal und der Kater danachMetropolen wie Athen und Paris waren die Vorgänger: Nie zuvor war so viel Europäische Kulturhauptstadt auf so engem Raum zu besichtigen wie im Jahr 1999 in Weimar. Auch war die Fallhöhe der Kultur hier höher als anderswo – im Schatten des Konzentrationslagers Buchenwald.
Problem Verkehrssicherungspflicht
Der Weg ist noch begehbar, aber es ist mühselig. Die "Zeitschneise", die 1999 eingeweiht wurde, ist arg ramponiert.
An ihrem Anfang jedoch könnte der Ausblick kaum schöner sein: Vor uns der Park, der sanft in den Wald übergeht, der leicht gewellte Abhang. Am anderen Ende der breiten Schneise leuchtet gelb das Schloß Ettersburg, symmetrisch in die Landschaft eingepasst wie in einen Bilderrahmen. Hier, am Sommersitz der Weimarer Herzöge, spielte Goethe den Orest in seiner "Iphigenie", schrieb Schiller seine "Maria Stuart".
Durch den Wald führen historische Jagdschneisen. Eine der Schneisen, die sogenannte "Grünhausallee", endet nach 1.300 Metern an einem Wachturm am ehemaligen KZ Buchenwald. Die Schneise durch den Wald schlägt sich so gewissermaßen auch durch die Zeit.
Gedenkstätte KZ Buchenwald: Blick durch den Stacheldrahtzaun auf das ehemalige Häftlingslager des früheren KZ Buchenwald, aufgenommen am 30.08.2017 bei Weimar (Thüringen)
Weimar und Buchenwald - Viele Verbindungen zwischen Stadt und KZ
Als das KZ Buchenwald eingerichtet wurde, wollte die nahe gelegene Stadt Weimar damit nicht in Verbindung gebracht werden, auch wenn sie mannigfach von dem Lager profitierte.
Initiator Walther Grunwald protestiert gegen Verfall
Die kurze Distanz zwischen den Extremen war 1999 zufällig auch dem Berliner Architekten Walther Grunwald aufgefallen, der damals die Sanierung von Schloss Ettersburg vorbereitete:
"Es ist nicht der Weg vom Guten zum Bösen, von der Kultur zur Barbarei, sondern es findet gleichzeitig statt. So wie wir gleichzeitig Goethe im Kopf haben und die SS als Wissen. Plötzlich kollabierten die beiden Sachen, die fielen für mich in eins. Goethe hat hier seinen "Orest" in Ettersburg gespielt und wurde während dieser Proben von den SS-Schüssen gestört. Das Bild in meinem Kopf! Diese unaufhebbare Gleichzeitigkeit von dem, was hier versucht worden ist an Kultur und was dort drüben stattgefunden hat."
Grunwald initiierte das Projekt "Zeitschneise" in Weimars Kulturstadtjahr 1999, als für vieles Geld da war, auch beim Forstamt von Jan Klüßendorf: "Na gut, wir Förster sind erst mal ein bisschen konservativ und fragen: Was will denn der hier bei uns im Wald? Wir haben uns dann aber mehr oder weniger arrangiert."
Holzbrücken, befestigte Wege, freie Sicht durch die Schneise – mit relativ geringem Aufwand wurde die Grünhausallee als "Zeitschneise" wieder freigelegt und gut begehbar gemacht. Beteiligt hat sich damals auch die Buchenwald-Stiftung, auf deren Gelände ein Teil des Weges verläuft. Ihr Sprecher Rikola-Gunnar Lüttgenau erkennt hier verdichtete Geschichte: "Die Diskrepanz ist so frappierend. Man ist in dem heiteren, luftigen, grünen Ort Schloss Ettersburg und geht dann sozusagen in den dunklen Wald. Und sehr abrupt steht man dann auch vor dem Lagerzaun. Diese Diskrepanz, die ist hier noch einmal verdichtet, die man ohnehin in Buchenwald und Weimar verspürt."
Zur Bedeutung der "Zeitschneise" zwischen dem Schloss Ettersburg und der KZ-Gedenkstätte bekennen sich alle lokalen Akteure: Stadt, Land, Gedenkstätte, Klassik Stiftung, Forst. Problematisch ist nur, dass die Schneise 20 Jahre nach ihrer Freilegung nicht mehr so leicht zu begehen ist, schon gar nicht für ältere Besucher.
Vandalismusvorwurf
Darauf reagiert Walther Grunwald, der Initiator, recht ungehalten. In Briefen an die Thüringer Staatskanzlei 2017 und noch einmal Ende Juli wirft er dem Land vor, dass die Zeitschneise vandalisiert, verrottet und bei Regen kaum noch begehbar sei. Grunwald fordert eine umgehende Sanierung unter seiner Aufsicht. Aber so recht fühlt sich keiner zuständig.
Das Forstamt würde handeln; allerdings müsste sich ein Betreiber und Finanzier finden. Ulrike Lorenz, die Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar, hält den Erhalt der Zeitschneise für unabdingbar: "Auch wir als Klassik Stiftung werden uns abarbeiten an dem Thema: Wie hängt das zusammen? Da wird es nämlich wirklich ungemütlich, aber eben auch sehr interessant, weil das sehr viel über den Menschen in seinem So-Sein sagt. Und es ist ganz klar, so was muss erhalten werden und immer wieder auch gepflegt werden."
Lorenz findet, der Erhalt sollte eine Sache der Weimarer Zivilgesellschaft sein. Sie will verschiedene Förderkreise der Klassik Stiftung, der Weimarer Grünanlagen und des Ettersburger Schlosses ansprechen. Die von Walther Grunwald heftig angegriffene Staatskanzlei will sich zum Thema noch nicht äußern.