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Zeitschriftenkritik

In der literarischen Charakterkunde ist er schon seit längerem als eine besonders gefährdete Spezies verzeichnet: der lesesüchtige Papiersäufer. "Der Papiersäufer", so hat ihn schon vor langer Zeit Elias Canetti beschrieben, "gibt sich nicht mit Büchern zufrieden, von denen man spricht; sie sollen rar und vergessen sein, schwer zu finden... Doch hütet er sich zu sagen, was ihm unbekannt ist, damit ihm keiner beim Lesen zuvorkommt."

Michael Braun | 16.02.1999
    Für den chronisch Lesesüchtigen unserer Tage ist nun ein rettendes Medikament auf den Markt gekommen, das sein unstillbares Verlangen nach abseitigem, entlegenem Druckwerk zumindest für einige Zeit befriedigt. Es ist das neue Heft , die Nummer 191 der Literaturzeitschrift "Die Horen", das uns auf abenteuerliche Expeditionen zu längst verschollenen Autoren und seltsam irrlichternden Gestalten der Literaturgeschichte mitnimmt. Waren die altehrwürdigen "Horen" in den vergangenen Jahren mehr durch konzeptuelle Schwerfälligkeit als durch poetische Phantasie aufgefallen, so ist dem Herausgeberkreis um Johann P. Tammen und Heiko Postma diesmal ein überraschend lehrreiches Heft über schräge Vögel, funkelnde Quertreiber und rabiate Exzentriker der Literatur geglückt. In diesem kleinen, aber unentbehrlichen Lexikon der literarischen Geheimtips versammelt sich vom postbarocken Schelmenromancier Johann Beer, über artistische Randfiguren des Expressionismus wie Ferdinand Hardekopf oder Paul Gurk, bis hin zu zwei modernen Literatur-Flaneuren wie Micky Remann und Eckhard Sinzig, alles, was eben nicht Rang und Namen hat.

    In einem fesselnden Porträt entfaltet die Schweizer Schriftstellerin Ruth Schweikert das wilde Leben der Wiener Bohème-Autorin Bertha Diener alias "Sir Galahad", einer zwischen den Geschlechtern und den literarischen Gattungen vagabundierende Autorin, die 1932 die männer-dominierte Literaturwelt mit einer weiblichen Kulturgeschichte aufschreckte.

    Daneben finden sich luzide monographische Essays zu tragisch gescheiterten Autoren, wie etwa dem Selbstmordphilosophen Philipp Mainländer, der nach Abschluß seiner Schrift "Philosophie der Erlösung" im Jahr 1876 den Zeitpunkt für gekommen hielt, sich durch den Strick von der Miserabilität der Welt zu erlösen; oder auch zu dem lebensmüden Dada-Snob Jaques Rigaut, der so lange mit einem Revolver unter dem Kopfkissen schlief, bis er ihn schließlich 1929 in Paris, gerade 31 Jahre alt, gegen sich selbst richtete. "Ich schreibe", so lesen wir in den Fragmenten von Jacques Rigaut, "um mich zu erbrechen (...) Ich glaube nicht, daß man sich durch die Poesie aus der Affäre ziehen kann. Ich hoffe die Poesie zu vergessen." Mit dieser destruktiven Poetik haben sich auch einige andere verzweifelte Zeitgenossen des Expressionismus hervorgetan; Johannes Theodor Baargeld etwa, der Avantgardist aus Köln, zog es vor, sich der Verlogenheit des Literaturbetriebs durch Flucht in die Berge zu entziehen. Auf einer ausgedehnten Klettertour am Montblanc-Massiv verlor der Gelegenheitsdadaist irgendwann die Orientierung und erfror im Schneesturm. Daß die Spuren all jener literarischen Extremisten von Beer bis Baargeld nicht vom Schneesturm oder vom Winde verweht werden - dafür hat nun die neue Ausgabe der "Horen" gesorgt. Der kurioseste und witzigste Beitrag des Heftes stammt übrigens von Ulrich Holbein, der in halsbrecherischer Wortspielerei in "äußerst unbekannten Manuskripten" von Micky Remann und Eckhard Sinzig geblättert hat. Lesesüchtige aller Länder, aufgepaßt: Nur in Ulrich Holbeins Privatarchiv sind die gepriesenen Wunderwerke von Remann und Sinzig zugänglich. Wem dieser Rechercheweg zu aufwendig ist, der greife zum neuen Heft, der Nummer 191 der Literaturzeitschrift "Die Horen".