Freitag, 19. April 2024

Archiv


Zeitzeugen der Rheinschifffahrt

Heutzutage zeigen weiße Kilometer-Anzeigetafeln die Länge des Rheins an. Doch das war nicht immer so. Vor 150 Jahren entwickelten mehrere europäische Staaten gemeinsam mit den sogenannten Myriametersteinen ein erstes System, um den Rhein längenmäßig zu erfassen und somit die Schifffahrt zu fördern.

Von Gerd Michalek | 18.08.2013
    Wer am Rhein entlang wandert, entdeckt ab und zu am Wegrand sonderbare Sandsteine. Sie heißen Myriametersteine. "Myria" ist griechisch und steht für Zehntausend: Alle zehntausend Meter ein Markierungsstein - dieser Plan entstand vor fast 150 Jahren. Am 23. Mai 1864 beschloss die sogenannte Zentralkommission für die Rheinschifffahrt, den Fluss neu zu vermessen. Zu den Gründen Manfred Tippner, Geschäftsführer des Rheinmuseums in Koblenz.

    "Im 19. Jahrhundert wurden die Wasserwege enorm wichtig, weil man hier große Güter in Massen transportieren konnte. Das war an der Elbe so, am Rhein und an der Donau. Der Rhein ist schon eine internationale Wasserstraße immer gewesen, siehe "Zentralkommission für die Rheinschifffahrt", die heute in Straßburg sitzt, und schon 1816 gegründet wurde. Man wollte natürlich die Länge des Rheins kennen und Stationen für die Schiffer, damit sie wissen, wo sie sind und ihre Fahrstrecke kennen. Dazu kommen natürlich noch die Ausbaumaßnahmen am Rhein, die im 19. Jahrhundert zu einer Verkürzung des Rheins geführt haben."

    Um 1800 hatte besonders der Oberrhein zwischen Basel und Bingen noch unzählige Schleifen, die dem Schiffsverkehr ein Hindernis waren. Sie wurden begradigt, sodass der Fluss mindestens 80 Kilometer Strecke einbüßte und auch schneller wurde. Das anschließende Vermessen des Rheins war eine Knochenarbeit, betonen Werner Bengel und Astrid Sudau von der Bundesanstalt für Gewässerkunde in Koblenz:

    Bengel: "Es war damals ja schon eine Mammutaufgabe, den ganzen Rhein in Zehnkilometer-Schritten beidseitig zu vermarken. Das ist schon ein gutes Tageswerk, bis man dann zwei bis drei Kilometer am Tag durchgemessen bekommt. Die Instrumente waren bedeutend schwerer als heute und nicht automatisiert. Das war eine schweißtreibende, rechenintensive und langwierige Tätigkeit vor Ort."

    Sudau: "Das, was die geleistet haben, ist einfach großartig: über 1000 Kilometer das gemeinschaftlich hinzubekommen, da sage ich: "Hut ab!""

    Die Anrainerstaaten gingen zwar innerhalb ihrer Grenzen separat mit Messlatte und Nivelliergerät zu Werke. Doch sie orientierten sich bereits an der Maßeinheit "Meter" und ließen die bisherige Kleinstaaterei hinter sich. Konkret:

    "Zumindest im Bereich des Rheins sieben verschiedene Längenmaße und 16 verschiedene Flächenmaße, als Beispiel: den Badischen Fuß, den Mannheimer Fuß, den Nürnberger Fuß, den rheinländischen Fuß, den bayerischen Fuß, den allgemeinen Fuß."

    Die Messarbeit und das Setzen der Myriametersteine dauerten wegen nötiger Nachbesserungen bis 1910! Sie Steine sollten den Rheinschiffern im Alltag helfen, ergaben Werner Bengels Recherchen:

    "Dass die Schiffsführer auch ein kleines Büchlein an der Hand hatten mit den Standorten dieser Myriametersteine und das Umfeld mit den nächstgelegenen Ortschaften, und auch die Höhenangaben, damit sich der Schiffsführer insgesamt für seine Passage orientieren konnte."

    Allerdings hatten die Steine bald ausgedient. Sie waren eigentlich zu klein geraten, um gut vom Schiff aus gesehen zu werden. Das führte 1939 zum neuen System: an jedem Rheinkilometer eine große schwarz-weiße Kilometertafel.

    "Es sind ja jetzt gut sichtbare Kilometer-Tafeln, die auch bei Bewuchs im Regelfall zu erkennen sind ganz anders wie früher die Myriameter-Steine! Die heutige Rheinschifffahrt benötigt, wenn Unfälle sind, eine exakte Positionsangabe."

    Neu ist auch der Nullpunkt der Längenmessung. Lag er bei den Myriametersteinen in Basel, so ist er jetzt - weiter zurück verlegt worden stromaufwärts - nämlich an die Rheinbrücke von Konstanz am Bodensee. Die Gesamtstrecke Konstanz-Rotterdam misst heute 1032,8km.

    Die alten Messsteine sind inzwischen verwittert, teilweise ganz verschwunden. Manche kamen zufällig wieder zum Vorschein: etwa der Stein Nummer 54. Er tauchte Ende der 1970er auf, berichtet Dieter Sturm vom Heimatbund Monheim nahe Düsseldorf.

    "Es war auf alle Fälle Niedrigwasser, da tauchte der Stein am Wasserrand auf, in der Höhe von Gut Blee, das ist südlich von Monheim. Der wurde gefunden von einem Toni Schumacher."

    Dieser Toni Schumacher - nicht zu verwechseln mit dem Ex-Fußball-Nationaltorhüter - regte den Monheimer Heimatbund an, den Stein restaurieren zu lassen. Der steht nun gut sichtbar gegenüber des Heimatmuseums am Rheinufer.

    "Wir sind froh, dass wir hier einen Originalstein haben. Denn es gibt mehrere Myriametersteine am Rhein, die nicht original, sondern nachgemacht worden sind. Das ist ein Originalstein, der die Angaben hat, wie sie zu Zeiten der Preußen im 19. Jahrhundert bei der Vermessung des Rheines gängig waren: Er zeigt die Kilometerangaben von der Landesgrenze im Süden bis zur Landesgrenze im Norden, sprich Holland. Aber auch die Gesamtlänge von Basel des Rheines bis zur Mündung ist dort auf dem Stein aufgeführt. Nach damaligen Angaben 540 Kilometer."

    Aufmerksamen Wanderern fällt auf, dass manche Messsteine viel dichter beieinanderliegen als zehn Kilometer. So folgt schon zwei Kilometer flussabwärts hinter Monheim der nächste Stein - Nr. 55 - im Ortsteil Baumberg! Der sei allerdings eine Nachbildung, sagen die Monheimer. Viele Originalsteine sind inzwischen denkmalgeschützt. Wer sich im Internet einen Überblick verschaffen will, findet bei Wikipedia eine umfangreiche Liste der Steine und ihrer Standorte. Diese Liste nutzen auch Werner Bengel und Astrid Sudau, als sie vor zwei Jahren begannen, die alten Myriametersteine messtechnisch zu "reaktivieren" - nämlich als Höhenpunkte. Der Grundgedanke: Weil die Erdkruste nicht starr ist, sondern sich vor allem in Bergbaugebieten absenkt, müssen von Zeit zu Zeit die Höhenangaben sämtlicher Landkarten nachgemessen werden. Und in dieses Höhenpunkte-Netz werden die Myriametersteine integriert.

    "Am Mittelrhein haben wir alle brauchbaren mit einbezogen, wir haben auch ne neuere Messung am Oberrhein von Mainz bis Karlsruhe, da haben wir sehr viele Punkte noch finden können. Die werden alle bis zum Winter höhenmäßig mit eingemessen."

    Sobald Werner Bengel mit seinen Messgeräten am Rhein unterwegs ist, denkt er an seine Berufskollegen vor fast 150 Jahren.

    "Es waren mehrere Länder beteiligt: Preußen, Baden, Württemberg, Hessen, Bayern, Frankreich und die Niederlande. Die gesamte Zusammenarbeit zeugt eigentlich schon damals von dem Europäischen Gedanken."