Freitag, 29. März 2024

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Zensur und Toleranz in Kuba
Kritik unter Kuratel

2013 wurde der kubanische Schriftsteller Ángel Santiesteban als Dissident zu fünf Jahren Haft verurteilt. Denn sein Blog "Die Kinder, die keiner wollte" brachte Missstände auf der Insel zur Sprache. Doch wie steht es um Zensur und Toleranz in der neuen Verfassung Kubas?

Ángel Santiesteban im Gespräch mit Peter B. Schumann | 14.10.2018
    Der Autor Ángel Santiesteban bei einem Interview.
    Das menschliche Verhalten und Leid der Menschen sind die Hauptthemen im Werk des Schriftstellers Ángel Santiesteban (imago / Claudia Rubio)
    Die kubanischen Volksvertreter votieren im Juli einstimmig für ein Menschen- und demokratisches Grundrecht im Entwurf der neuen Verfassung. Seit August bis November 2018 wird landesweit diskutiert. Die Hauptziele der neuen Verfassung aber sind: Sozialismus, Souveränität, Wohlstand.
    "Die Kinder, die niemand wollte" heißt der Blog von Ángel Santiesteban, geboren 1966 in Havanna, in dem er bis zu seiner Inhaftierung auf gesellschaftspolitische Missstände auf der Insel hinwies. Der mehrfach ausgezeichnete ehemalige Hoffnungsträger der kubanischen Literatur wagte es, öffentlich Kritik zu üben. 2013 wurde er zu fünf Jahren Haft verurteilt, für seine Dissidenz. In Deutschland erschien 2018 "Wölfe in der Nacht: 16 Geschichten aus Kuba", in denen Ángel Santiesteban unter anderem auch seine Haft verarbeitet.
    Im Gespräch mit Peter B. Schumann analysiert er die Mechanismen der Zensur und die Grenzen der Toleranz, die in der neuen Verfassung Kubas noch enger gezogen wurden.
    Peter B. Schumann: Ángel Santiesteban, Sie galten Mitte der 1990er-Jahre als eine der großen Hoffnungen einer neuen, jüngeren Generation der kubanischen Literatur. Aber andererseits hatten Sie auch von Anfang an Probleme mit der offiziellen Anerkennung. Sie sollten beispielsweise für Ihren ersten Band mit Erzählungen "13. Grad südlicher Breite" mit dem Preis von Casa de las Américas ausgezeichnet werden. Das war anfangs ein berühmtes Kulturinstitut mit großem Einfluss in Lateinamerika. Aber das wurde verhindert. Warum?
    Ángel Santiesteban: Ich sollte diesen Preis tatsächlich erhalten. Aber die Jury musste ihre Entscheidung revidieren - wie der Autor Abilio Estévez, einer der Juroren, im Nachwort zu meinem auf Deutsch erschienenen Buch "Wölfe in der Nacht" mitgeteilt hat. Denn darin habe ich den Angola-Krieg und die kubanische Beteiligung aus einer zu menschlichen Perspektive beschrieben, die dem Regime nicht gefiel. Es wünschte eine epische, heroische Vision. Ich habe dann den Titel in "Ein Sommertraum" umbenannt und für den Nationalpreis des Schriftstellerverbands UNEAC eingereicht. Und diese Jury hat mir die Auszeichnung zugesprochen. Doch plötzlich wurde das Buch wie eine heiße Kartoffel behandelt, denn der Preis war mit der Publikation des Bandes verbunden. Abel Prieto, der damalige Präsident der UNEAC, rief mich zu sich und forderte mich auf, fünf Angola-Erzählungen zu entfernen. Für dieses Entgegenkommen bot er mir ein Auto oder eine Wohnung an. Nun war meine Frau damals schwanger und wir brauchten eine Wohnung. Da ich die Taktik des Regimes kannte, habe ich die fünf Erzählungen für die Wohnung eingetauscht.
    Schumann: Eine zumindest nachvollziehbare Entscheidung. Wie würden Sie denn Ihre Literatur, Ihre Erzählungen charakterisieren, die in dem auf Deutsch erschienenen Band "Wölfe in der Nacht" enthalten sind?
    "Meine Literatur ist konfliktreich"
    Santiesteban: Meine Literatur ist konfliktreich. Das habe ich mir nicht ausgedacht, das erfordern die Geschichten, die mich bewegen. Das menschliche Verhalten und das menschliche Leid sind die Themen, die mich zum Schreiben anregen. Unterhaltungsliteratur interessiert mich nicht, sondern eine gesellschaftlich engagierte Literatur, die auf die Kubaner einwirkt, denen eine Stimme gibt, die keine haben. Darin sehe ich meine Verpflichtung. Es ist eine für das Regime unbequeme Literatur und deshalb wurde ich marginalisiert.
    Schumann: Wenn man Sie so hört, dann glaubt man, dass Sie eine ganz realistische Literatur schreiben.
    Santiesteban: Es gibt eine Facette, die wenige Leser kennen. Ich habe jedoch auch absurde Erzählungen geschrieben und fantastische, ich fabuliere gerne. Und dann gibt es in dem Band einen Text, der mit meiner Thematik gar nichts zu tun hat: eine Satire über die Wirklichkeit der kubanischen Schriftsteller, die Zensur.
    Schumann: Haben Sie damals bereits in Ihren Erzählungen die Regierung direkt angegriffen?
    Santiesteban: Ich habe nie einer der Massenorganisationen angehört wie den sogenannten Komitees zur Verteidigung der Revolution. Ich habe auch an keinen politischen Aktivitäten des Regimes teilgenommen. Dadurch war ich schon mal abgestempelt. Aber ich habe zunächst keine offene Kritik geübt.
    Schumann: Und Sie waren ja auch nicht der einzige Schriftsteller, der sich kritisch geäußert hat. Es gibt sogar eine lange Tradition gesellschaftskritischer Literatur. Es ist jedoch auch immer wieder überraschend, wie der Staatsapparat darauf reagiert. Die nächste Eskalationsstufe erreichten Sie, als Sie 2008 begannen, einen Blog zu schreiben.
    Santiesteban: Ich habe immer davon geträumt, irgendwo, in der unbedeutendsten Publikation der Insel und auf der letzten Seite ganz unten, einen Platz zu erhalten, wo ich veröffentlichen konnte, was ich dachte. Ich wusste jedoch, dass ich in Kuba niemals so etwas zugeteilt bekäme. Dann machte ich eine Reise in die Dominikanische Republik, wo ich so einen Blog kennenlernte, auf dem man ohne Zensur veröffentlichen konnte, was man wollte. Von solch einer Option hatte ich bis dahin noch nie etwas gehört. Ich habe das für göttliche Fügung gehalten. So einen Blog wollte ich haben.
    Schumann: Und was haben Sie da veröffentlicht?
    Santiesteban: Ich wollte zunächst nur etwas Kulturelles publizieren. Ich wollte keineswegs ein Oppositioneller werden. Dann habe ich mit Sánchez, einem Hardliner des Regimes, gesprochen, denn ich wollte meinen Blog auf die offizielle Plattform Cuba Literaria stellen. Er fragte mich, was ich denn veröffentlichen wolle, und ich sagte ihm: Texte über das, was ich denke. Da meinte er: Diese Bandbreite besitze er nicht. Daraufhin habe ich meinen Blog der oppositionellen Internetzeitung "Cuba Encuentro" in Madrid angeboten, die ihn sofort übernommen hat. Das wurde offensichtlich als Verrat betrachtet, denn wenig später haben zwei Schriftsteller der älteren Generation mich aufgesucht und wollten mir "die Instrumente" zeigen, die ich aber besser nicht kennenlernen sollte. Deshalb empfahlen sie mir, mich von "Cuba Encuentro" zu trennen und am besten auch den Blog einzustellen. Das waren Francisco López Sacha und Eduardo Heras León.
    Blick auf den Hof des Gefängnisses Combinado del Este in Havanna/Kuba während eines Tages der offenen Tür am 09.04.2013.
    Generalansicht des Gefängnisses Combinado del Este in Havanna/Kuba (picture alliance / dpa / EPA / Alejandro Ernesto)
    Schumann: Diese beiden Autoren gehören zur Betonfraktion des offiziellen Kulturapparats.
    Santiesteban: Ja, alle beide. Denen habe ich mitgeteilt: Wenn man erst einmal die Wahrheit gesagt hat, dann kann man nicht mehr zurück. Wenn man die Freiheit erfahren hat, gibt es keine Alternative. Und die habe ich mit dem Blog erfahren. Der Blog ist mein Leben, nie zuvor habe ich eine solche Freiheit verspürt.
    Schumann: Warum heißt der Blog "Die Kinder, die keiner wollte"?
    Santiesteban: "Die Kinder, die keiner wollte" - das ist meine Generation und zugleich der Titel eines Bandes mit Erzählungen, für den ich 2001 den Alejo-Carpentier-Preis erhalten habe. Er enthält jene Texte aus meinem ersten Erzählband, die ich auf Anordnung von Abel Prieto entfernt hatte. Der Titel bezieht sich auch auf diese Erzählungen, die niemand wollte.
    Schumann: Nun sind Sie nicht der Einzige, der in Kuba Blogs verfasst und im Ausland publiziert. Es gibt auch Blogger auf den offiziellen Websites, die sich darum bemühen, die offizielle Version der Dinge darzustellen. Warum hat die Kulturbürokratie ausgerechnet Ángel Santiesteban abgestraft?
    "Den übrigen Schriftstellern sollte signalisiert werden, dass sie die Linie zu beachten hätten"
    Santiesteban: Den übrigen Schriftstellern sollte signalisiert werden, dass sie die Linie zu beachten hätten und nicht überschreiten sollten. Ich glaube, dass es nach mir kein anderer Autor mehr gewagt hat, sich gegen das System aufzulehnen.
    Schumann: Dennoch gibt es in Kuba zahlreiche Beispiele des Widerstands gegen die Regierung, denn die Kultur ist keineswegs monolithisch. Dort regt sich eine ganze Menge an Opposition, seit sich der Staat im letzten Jahrzehnt aus der Finanzierung etwas zurückziehen musste. Sie selbst treten in einer Diskussionsrunde auf, die sich "Estado de SATS" nennt. Sie wird von Antonio Rodiles und seiner Frau Ailer González Mena organisiert - zwei bekannten und vielfach verhafteten Dissidenten. Und dort analysieren namhafte Oppositionelle die aktuelle politische Lage und berichten über die eigene Situation. Wieso wird dieses Programm seit langem geduldet?
    Santiesteban: Früher war es viel größer. "Estado de SATS" begann 2010 mit mehr als 100 Personen im Haus von Rodiles. Aber inzwischen wurde der Zugang zu ihm derart erschwert, dass nur noch eine kleine Gruppe teilnehmen kann. Die Leute wurden bedroht und auch kurzfristig verhaftet, so dass für die meisten der Preis einfach zu hoch war, dorthin zu gehen. Heute haben wir kein Publikum mehr und machen dennoch wöchentlich ein Programm über die aktuelle kubanische Wirklichkeit.
    Schumann: Auf welchen Wegen erreichen denn nun die Diskussionsrunden von "Estado de SATS" oder Ihr Blog "Die Kinder, die keiner wollte" die Bevölkerung in Kuba? Die meisten Kubaner haben ja noch immer keinen Zugang zum Internet.
    Santiesteban: Alle Dissidenten-Programme sind in Kuba verboten. Aber wir verbreiten sie wöchentlich auf USB-Sticks oder CDs, und die Leute reichen sie wie auf einer Kette weiter, wie die berühmten "Pakete". Und so werden sie darüber informiert, was in Kuba los ist.
    Schumann: Diese "Pakete", was ist das? Erklären Sie bitte den Hörerinnen und Hörern des Deutschlandfunks, Herr Santiesteban: Wie funktionieren diese "Pakete", sie sind ja eine kuriose Form der Informationsverbreitung in Kuba und typisch für die Situation?
    Santiesteban: Dieses Material wird in Miami von den dortigen Fernsehkanälen heruntergeladen, auf einem Stick nach Kuba geschickt und auf dem schnellsten Weg in Umlauf gebracht. Das kommt am Sonntag an und am Mittwoch ist es im Besitz von Zigtausenden. Es kostet zwei US-Dollar, und man geht mit seinem Stick zu einem Laden, der das Paket besitzt und abspeichert. Darauf sind Fernsehfilme, Shows, Nachrichten, Tageszeitungen und sogar die neue Verfassung von Kuba enthalten. Doch inzwischen wird auch dieses Angebot zensiert, allerdings von den Händlern selbst, um Schwierigkeiten zu vermeiden. Unsere Programme sind darin nicht enthalten. Wir haben ein eigenes Paket, das intern innerhalb der Dissidenz zirkuliert, die Programme von "Estado de SATS" und internationale Nachrichten enthält, die die Bevölkerung kennen sollte.
    Schumann: Ich habe den Eindruck, dass in den letzten Jahren die Zahl kritischer künstlerischer Arbeiten gestiegen ist, aber auch die Akte des Widerstands gegen das System, vor allem im Bereich der unabhängigen Kunst. Ich erinnere mich an die international sehr bekannte Performerin Tania Bruguera, die in ihrer Parterre-Wohnung aus Hannah Arendts "Ursprünge totaler Herrschaft" gelesen und die Lesung auf die Straße übertragen hat. Oder an die Aktion einer Künstlerin, die sich vor ein paar Wochen vor dem Capitolio mit Fäkalien übergossen hat. Damit wollte sie demonstrieren, dass der Staat einen ganzen Bereich von Kulturschaffenden als "Scheiß-Künstler" behandelt. Ist das ein breiter Widerstand oder sind daran eher kleine Gruppen beteiligt?
    Santiesteban: Das sind vereinzelte Gruppen, denn es herrscht viel Angst unter der kubanischen Bevölkerung. Wie ich schon sagte, ist der Preis für solche Aktivitäten sehr hoch. Du kannst deinen Job verlieren, sie filzen dein Studio, belästigen deine Familie.
    Schumann: Seit einigen Jahren werden immer mehr Filme mit zunehmend kritischen Positionen produziert. Sie entstehen unabhängig vom staatlichen Filminstitut ICAIC, weil dieses kaum noch über Mittel für die Filmproduktion verfügt. Das ist ein völlig neues, wichtiges Phänomen.
    Santiesteban: Der Staat konnte die bisherige Kulturförderung nicht mehr aufrecht erhalten. Also haben die Filmemacher nach fremder, ausländischer Hilfe gesucht und sich aus der staatlichen Bevormundung gelöst. Deshalb können sie eigentlich drehen, was sie wollen. Allerdings müssen auch sie mit Zensur rechnen wie Yimit Ramírez, der in einem ironischen Gespräch zu einer an sich harmlosen Liebesgeschichte unseren Nationalheiligen José Martí als Schwuchtel bezeichnen ließ. Der Film wurde verboten, denn die Freiheit hat in Kuba immer einen Preis. Als die Filmemacher ein neues Filmgesetz gefordert haben, in dem ihr neuer Status juristisch abgesichert werden sollte, hat Abel Prieto, damals Berater des Präsidenten, dies abgelehnt, weil das angeblich Chaos bedeutet hätte.
    Schumann: Er sagte, es gäbe ja ein Gesetz und deshalb bräuchte es kein neues. Nur ist das vor 60 Jahren erlassen worden. Doch immerhin nutzen die Filmemacher ihren Spielraum, um sich kritisch zu äußern. Die Cineasten waren auch die ersten, die über Zensur in Kuba öffentlich diskutierten. Das ist doch ein interessantes Signal oder nicht?
    "Der unabhängige Film existiert"
    Santiesteban: Ich habe an einer dieser Diskussionen teilgenommen, an der einzigen, zu der ich Zutritt erhielt. Das ist längst wieder verebbt, war aber sehr wichtig. Die Filmemacher können sich das leisten, denn sie brauchen den Staat nicht unbedingt. Bei der früheren Studiotechnik war man auf die Hilfe des Staates angewiesen, denn der besaß die Produktionstechnik und übte die Kontrolle aus. Der unabhängige Film wird manchmal unter prekären Bedingungen hergestellt, er existiert jedoch.
    Schumann: Die Schriftsteller haben es da sehr viel schwerer. Sie stellen zwar ihre Texte unabhängig her, aber wenn sie keinen Verlag finden, nützt ihnen das wenig. Gibt es deshalb so wenig kritische Literatur in Kuba?
    Santiesteban: Zumindest ist die kritische Literatur wenig bekannt. Ich glaube jedoch, dass eine ganze Reihe von Schriftstellern kritische Bücher in der Schublade hat. Wenn sie diese ohne Genehmigung im Ausland publizieren, werden sie nie mehr ein Buch in Kuba veröffentlichen können. Bei mir ist das anders: Ich will nichts in Kuba publizieren. Wenn man mir einen Vorschlag machen würde, müsste ich mich fragen, ob ich irgendetwas falsch gemacht habe. In dieser Diktatur will ich nichts veröffentlichen. Ich will unabhängig bleiben, nicht zum Komplizen der Diktatur werden, denn sie zensiert mich, überwacht und verfolgt mich.
    Schumann: Ich kann Ihre radikale Position gut verstehen, denn das Regime hat alles versucht, Ihre unbeugsame Haltung zu brechen. Es hat Sie sogar 2012 vor Gericht gestellt und wegen "Hausfriedensbruchs und häuslicher Gewalt" zu fünf Jahren Haft verurteilen lassen, um sie aus dem Verkehr zu ziehen. Erzählen Sie bitte unseren Hörerinnen und Hörern, wie so ein Verfahren gegen einen Schriftsteller in Kuba abläuft.
    Santiesteban: Nach der Rückkehr von einer Reise in die Dominikanische Republik musste ich feststellen, dass die Staatssicherheit meine nervenkranke Ex-Frau, von der ich seit zweieinhalb Jahren geschieden war, so beeinflusst hatte, dass sie Anklagen gegen mich erhob. Sie hat sich dafür längst entschuldigt. Doch damals hat sie mit dem Geheimdienst paktiert und die unwahrscheinlichsten, demütigendsten und absurdesten Vorwürfe gegen mich vorgebracht. Schließlich haben sie noch einen falschen Zeugen angeschleppt, der behauptete, er hätte mich in die Wohnung meiner Ex-Frau eintreten sehen. Später hat er bekannt, dass die Polizei ihm Versprechungen gemacht, ihn erpresst und bedroht habe, so dass er gezwungen war, gegen mich auszusagen.
    Schumann: Und wie ging dieses Verfahren zu Ende?
    "Man wollte mich hinter Gittern bringen"
    Santiesteban: Sie haben alles versucht um nachzuweisen, dass ich in die Wohnung eingedrungen sei und meine Frau attackiert habe. Nur war ich zu dem Zeitpunkt gar nicht in der Nähe und das konnte ich sogar mit 13 Zeugen nachweisen, aber für die interessierte sich das Gericht überhaupt nicht. Man wollte mich hinter Gitter bringen, mich aus dem Verkehr ziehen, weil ich mich nicht von meinen Aktivitäten abbringen ließ und beispielsweise an einer Demonstration gegen die Verhaftung von Antonio Rodiles teilgenommen habe. Dabei wurde ich zusammengeschlagen und es wurde mir ein Arm gebrochen. Das war 2012, einige Monate, bevor man mich einsperrte.
    Schumann: Sie waren damals ja noch immer Mitglied des Schriftstellerverbands. Haben Sie von der UNEAC Rechtshilfe erhalten?
    Santiesteban: Zu der Gerichtsverhandlung schickte die UNEAC einen Rechtsanwalt, was mich sehr überrascht hat. Und der sagte mir: Das Gericht hat nichts in den Händen, dir wird nichts geschehen. Zu der Verhandlung hatte ein Freund seine Frau, eine ehemalige Staatsanwältin, geschickt. Die sprach mit der Staatsanwältin des Verfahrens und diese sagte ihr: Wir können nichts machen, er ist bereits verurteilt.
    Schumann: Das erinnert mich an die Prozesse, die im sogenannten Schwarzen Frühling 2003 gegen 75 Schriftsteller, Journalisten, Menschenrechtler und Wissenschaftler stattfanden. Das waren richtige Schauprozesse mit drakonischen Strafen. Aber auch dort standen die Urteile von vornherein fest. Das scheint typisch zu sein für die politische Justiz in Kuba. Sie erhielten fünf Jahre Haft. Wie ergeht es einem Schriftsteller hinter Gittern?
    Santiesteban: Ich muss sagen, dass ich mich im Gefängnis freier gefühlt habe als draußen. Hier konnte ich sagen, was ich dachte, und ich konnte die einfachen Kriminellen unterstützen, wenn sie schlecht behandelt wurden. Ich habe dann Haftbeschwerden geschrieben. In meiner Abteilung gab es den sexuellen Missbrauch nicht, der sonst in kubanischen Gefängnissen an der Tagesordnung ist. Die Häftlinge respektierten und bewunderten mich und solidarisierten sich mit mir. Das hat mir die Haft erleichtert.
    Schumann: Konnten Sie im Gefängnis schreiben?
    Santiesteban: Im Gefängnis 15-80 in Havanna habe ich die Erzählung "Mandela, sie kommen dich abholen!" geschrieben, obwohl ich streng überwacht wurde, weil ich die Beschwerden über die schlechten Haftbedingungen nach draußen geschmuggelt habe. Ich konnte heimlich eine Kette von Kontakten aufbauen, die es mir ermöglichte, diese Anzeigen nach draußen und Papier nach drinnen zu organisieren. Und die wurden dann auf meinem Blog veröffentlicht. Das war zu einem Zeitpunkt, als Kuba in Genf wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt wurde, und da waren solche Informationen sehr delikat.
    Schumann: Aber wie haben Sie denn die Texte nach draußen geschafft?
    Santiesteban: Ich habe sie einem Häftling aus der Bruderschaft der Freimaurer, zu der auch ich gehöre, gegeben und der hat sie einem anderen Bruder weitergereicht, bis sie in der Mechanikerwerkstatt landeten. Von dort war es leicht, sie nach draußen zu schaffen und einer Person meines Vertrauens, ebenfalls Freimaurer, zu übergeben.
    Schumann: Sie waren ja ein relativ prominenter Häftling. Hatten Sie besondere Haftbedingungen?
    "Ich war anfangs sehr rebellisch"
    Santiesteban: Das war seltsam in der Abteilung, in die sie mich gesperrt haben. Als ich ankam, wurde so viel Sicherheitsaufwand für mich getrieben, dass die Häftlinge glaubten, ich sei Hannibal Lecter, der Filmkannibale, so viel Wachpersonal erwartete mich. Ich war anfangs sehr rebellisch, habe die Nahrung verweigert, bin in Hungerstreik getreten. Deshalb sagte wohl eines Tages der Häftling, der das Essen austeilte, zu mir: Du bist Mandela. Schließlich hat man mich in eine Einzelzelle gesperrt und mit drei Türen gesichert, damit ja niemand zu mir gelangen konnte. Regelmäßig wurde ich zur Staatssicherheit zum Verhör gebracht. Wenn die Häftlinge das Kommando kommen sahen, riefen sie mir in einem Akt der Solidarität zu: "Mandela, sie kommen dich abholen!"So heißt auch die Erzählung, die ich damals geschrieben habe und die davon handelt, was dort geschah.
    Schumann: Sie haben gerade gesagt, dass Sie sogar in den Hungerstreik getreten sind. Was war der Grund?
    Santiesteban: Ich war 16 Tage im Hungerstreik und wollte eigentlich sterben. Ich war verzweifelt über meine Situation. Ich habe den Wächtern gesagt: Grabt mir ein Loch und ich lege mich hinein, Aber dann haben sie meine Frau gerufen, eine bekannte kubanische Schauspielerin, und sie sagte mir: Du willst hier den Märtyrer spielen, aber du musst deine Aufgabe als Dissident erfüllen. Mach ihnen nicht die Freude zu sterben, denn das hätten sie gern.
    Schumann: Die internationale Solidarität durch Amnesty International, Reporter ohne Grenzen und schließlich auch durch unseren damaligen Außenminister Steinmeier - hat Ihnen das einen gewissen Schutz gegeben?
    "Das Gefängnis ist für die Familie härter als für den Gefangenen"
    Santiesteban: Ja, denn dadurch blieb mein Fall international sichtbar und das hat mich geschützt, denn die Kubaner sind in den Gefängnissen schutzlos der Willkür des Wachpersonals ausgesetzt. Für alle, die nicht durch die sozialen Netzwerke bekannt sind, ist es schrecklich. Kaum einem normalen Kubaner gelingt es, sich unbeschadet gegen das Regime aufzulehnen. Man schickt sie in die entlegendsten Gefängnisse im äußersten Osten. Darunter leiden die Familien am meisten. Sie müssen im Bus stunden- oder tagelang anreisen, um dich für eine Stunde zu besuchen, und das gleiche auf dem Rückweg. Das Gefängnis ist für die Familie härter als für den Gefangenen. Ich war bekannt und deshalb mussten sie mich in gewisser Weise respektieren. Außerdem hatte sich der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte meiner angenommen. Dadurch war das Regime verpflichtet, auf mich zu achten. Das war auch für meinen 14-jährigen Sohn sehr wichtig. Den hat sich ein Polizeikommando auf der Straße geschnappt, hat ihn auf eine Polizeistation verfrachtet und in eine Zelle mit Erwachsenen und Kriminellen für mehrere Stunden eingesperrt. Damit wollten sie mir zeigen, dass sie mir und meiner Familie das Leben unmöglich machen konnten.
    Das Foto zeigt Kubas Präsidenten Miguel Diaz-Canel kurz nach seiner Ernennung.
    Das Foto zeigt Kubas Präsidenten Miguel Diaz-Canel kurz nach seiner Ernennung. (AFP / Alejandro Ernesto)
    Schumann: Hat nicht auch Ihre Tochter darunter zu leiden gehabt?
    Santiesteban: Meine Tochter studierte, als die Belästigungen anfingen: Sie wurde immer wieder zur Polizei zitiert, und alles deutete darauf hin, dass sie ihr Studium nicht zu Ende führen konnte. Sie wollte Kinderärztin werden. Und sie hat die Universität verlassen, was sie eigentlich nicht wollte, und lebt jetzt in Spanien bei der Familie. In Kuba war es für sie unmöglich geworden. Sie attackieren nicht nur dich, sondern auch deine Familie.
    Schumann: Nun gab es dieses Jahr einen Macht- und einen Generationswechsel wie nie zuvor in der Geschichte der Kubanischen Revolution. Raúl Castro trat ab, und ein neuer Präsident, Miguel Díaz-Canel, wurde zum ersten Mal gewählt, erwartungsgemäß einstimmig vom Parlament. Ist das nicht eine beträchtliche Zäsur, Ángel Santiestaban?
    "Es gibt überhaupt keinen neuen Präsidenten"
    Santiesteban: Es gibt überhaupt keinen neuen Präsidenten, sondern nur ein neues Gesicht, eine neue Marionette. Das Regime wird weiter von den Castros angeführt, zum Beispiel von Alejandro Castro, dem Sohn von Raúl Castro, der zieht inzwischen die Strippen. Díaz-Canel muss die Drecksarbeit machen, damit die Castros im Schatten bleiben können. Er dürfte darüber nicht gerade glücklich sein, denn er kann keine eigenen Entscheidungen ohne Zustimmung treffen. Er verfügt über keine eigene Macht.
    Schumann: Viele hatten erwartet, dass dieser Mann, der vor Jahren als Parteisekretär in der Provinz sich als Pragmatiker gezeigt hatte, eine weniger dogmatische Richtung einschlagen würde. Doch durch eine seiner ersten Maßnahmen zeigte er sich als Dogmatiker alten Stils: Er erließ ein neues Zensurgesetz, den Artikel 349. Was beinhaltet er?
    Santiesteban: Der Artikel 349 ist demütigend. Damit wollen sie die offiziellen Künstler stärken. Alle werden zensiert, die nicht die offizielle Linie einhalten. Wer eine Unternehmung hat und einen Gitarristen auftreten oder einen Maler ausstellen will, muss sich zuerst eine Genehmigung in einer staatlichen Agentur beschaffen. Dort wird der Künstler und sein Werk begutachtet und es werden diejenigen akzeptiert, die offizielle Lieder singen und sich in nichts einmischen.
    Schumann: Mit dem Artikel 349 soll der Privatsektor reglementiert und die Zensur vor allem im Bereich der unabhängigen Kunst verschärft werden. Zurzeit wird in Kuba eine neue Verfassung von der Bevölkerung in öffentlichen Veranstaltungen diskutiert. Es ist immerhin die erste Verfassungsreform seit rund 40 Jahren. Ist das demokratische Kosmetik oder dient sie dem demokratischen Fortschritt?
    Santiesteban: Anfangs sah es so aus, als ob Kuba sich zu einem freien, demokratischen Land entwickeln wollte. Doch dann wurde die Kommunistische Partei ausdrücklich als höchste Instanz über der neuen Verfassung etabliert und damit war jeder Gedanke an eine demokratische Öffnung zunichte gemacht. Das Ganze soll den Anschein einer Demokratisierung erwecken und dazu wird auch noch das Volk zur Diskussion aufgerufen. Das alles ist ein Trick, um das internationale Publikum zu beeindrucken.
    Schumann: Was wissen Sie von diesen öffentlichen Diskussionen über die Verfassung?
    Santiesteban: Die jetzigen Diskussionen darf niemand aufzeichnen oder filmen, damit nicht bekannt wird, was das Volk denkt. Ich habe selbst nicht teilgenommen, aber Familienangehörige und Nachbarn haben mir gesagt, dass die Leute den Präsidenten direkt wählen wollten, dass die Partei nicht über der Verfassung stehen dürfe und dass jene Zusätze gestrichen werden sollen, die so vage gehalten sind, dass sie der Ungerechtigkeit Vorschub leisten können.
    Schumann: Sehen Sie für Kuba irgendeine Perspektive der Veränderung?
    Santiesteban: Nein, ich sehe keine Perspektive. Hier heißt es offiziell: "Wir schicken Venezuela die Freiheit." Und "Wir schicken Nicaragua die Freiheit." - Wenn wir ihnen Unterstützung schicken. Aber das sind Länder, die mehr Freiheit haben als wir. In Venezuela und Nicaragua kann man auf der Straße demonstrieren, es gibt eine legale Opposition und Medien, in denen sie ihre Meinung sagen kann. Aber wenn wir demonstrieren, werden wir sofort verhaftet. Wenn es in Kuba zu einem Massenaufstand käme, würde sie in einem Massaker erstickt. Das ist den Kubanern bewusst. Niemand möchte hier für nichts sterben. Ich glaube, für Kuba gibt es nur einen internationalen Ausweg. Ich hoffe, dass die Europäische Union ihren Umgang mit dem Regime überdenkt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.