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Zentralisierung der Sicherheitspolitik
"Nicht gerade das Musterbeispiel für perfekte Organisation"

Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius ist gegen die Vorschläge von Bundesinnenminister Thomas de Maizière für eine stärkere Zentralisierung der Sicherheitspolitik. Der Föderalismus sei nicht das Problem, sagte der SPD-Politiker im Deutschlandfunk. "Mammutbehörden" wie das BAMF seien nicht gerade das Musterbeispiel perfekter Organisation.

Boris Pistorius im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 03.01.2017
    Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD).
    Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius im DLF: "Wir müssen alles tun, um diese Menschen, die wir selbst für gefährlich halten, an der kurzen Leine zu führen." (dpa-news / Holger Hellmann)
    Ann-Kathrin Büüsker: "Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten", so überschreibt Thomas de Maizière seinen heutigen Beitrag in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung". "Zeit für mehr Sicherheit in Zeiten wachsender Unsicherheit", das ist die Überschrift des Papiers von Vizekanzler Sigmar Gabriel, das er gestern unter anderem dem ARD-Hauptstadtstudio zugespielt hatte. Die innere Sicherheit, sie steht derzeit ganz oben auf der politischen Tagesordnung, was nach dem Anschlag von Berlin wohl nachvollziehbar ist. Nun sind durch de Maizière und Gabriel viele neue Ideen in der Welt, die Falk Steiner zusammenfasst.
    Falk Steiner berichtete aus unserem Hauptstadtstudio. Der Bundesinnenminister möchte, was die innere Sicherheit angeht, also Kompetenzen verstärkt beim Bund bündeln, den Föderalismus in gewisser Weise beschneiden. Wie das im Innenministerium in Hannover ankommt, dazu habe ich kurz vor dieser Sendung mit Boris Pistorius gesprochen, dem niedersächsischen Innenminister. Wo wir gerade so viel über innere Sicherheit sprechen, wollte ich von ihm zunächst wissen, wie unsicher Deutschland aus seiner Sicht gerade ist.
    Boris Pistorius: Wenn man manche Vorschläge liest, dann muss man ja glauben, hier ist in den letzten 70 Jahren seit Gründung der Bundesrepublik eigentlich nichts richtig gelaufen, und wir leben in einem der unsichersten Länder der Welt, und, mit Verlaub, das ist nun wirklich Unfug. Unsere Strukturen haben sich bewährt, sie haben sich über die Jahrzehnte immer weiter verbessert, und Deutschland ist nach wie vor eines der sichersten Länder der Welt, trotz des furchtbaren Anschlags in Berlin.
    Büüsker: Und gerade der Anschlag von Berlin zeigt ja, dass da offensichtlich sehr viel falsch gelaufen ist. Im Fall Amri, da hatten wir ganz viele Daten über ihn, mehr Datenerfassung hätte eigentlich gar nichts gebracht, aber niemand scheint etwas mit diesen Daten gemacht zu haben.
    Pistorius: Den Eindruck würde ich jetzt so nicht teilen. Ich würde aber gern erst das Ergebnis der Untersuchung, die ja ansteht, abwarten wollen. Fest steht für mich, und das ist hier, glaube ich, eines der Hauptprobleme, dass wir es nicht verantworten können und dass wir nicht erklären können der Öffentlichkeit, dass jemand, der als Gefährder eingestuft ist, der keine gültigen Papiere hat, dass der sich in Deutschland frei bewegen kann, ohne dass wir wissen, wo er ist.
    Büüsker: Also fehlt es hier an Austausch zwischen den Behörden?
    Pistorius: Nein, es fehlt weniger an einem Austausch zwischen den Behörden, sondern eine rechtliche Handhabe dafür, zu prüfen und zu wissen, wo jemand ist, den wir für gefährlich halten. Darum geht es. Es geht nicht darum, den in Haft zu nehmen, dafür gibt es im Zweifel nie die Möglichkeit, jedenfalls nicht dann, wenn konkrete Tat-Absichten nicht nachgewiesen werden können. Aber wenn jemand von uns als gefährlich eingestuft wird im Hinblick auf einen möglichen islamistischen Terroranschlag oder anderes, dann müssen wir die Möglichkeit haben, zu wissen, zu kontrollieren, wo er ist, und das geht zum Beispiel mithilfe einer elektronischen Fußfessel, die ich schon auf der vorletzten IMK als Prüfauftrag eingebracht habe, weil ich eben der Auffassung bin, natürlich muss man das rechtsstaatlich sauber prüfen, und man darf damit keinen Schindluder treiben. Aber wir müssen alles tun, um diese Menschen, die wir selbst für gefährlich halten, auch an der kurzen Leine zu führen.
    "Wir brauchen gemeinsame Datenbanken"
    Büüsker: Sie haben jetzt die Innenministerkonferenz angesprochen. Auf der letzten im November wurde erstmals eine gemeinsame Datenbank zur Ländergrenzen überschreitenden Strafverfolgung beschlossen. Wie kann es denn sein, dass es so was in Deutschland bisher nicht gegeben hat?
    Pistorius: Das ist eine gute Frage, die Sie eigentlich stellen müssten an die Bundesinnenminister und die Länderinnenminister der vergangenen 70 Jahre oder jedenfalls der vergangenen 30, seit es Datenbanken gibt.
    Ja, das ist ein Versäumnis, das aber jetzt nachgeholt wird oder beseitigt wird, endlich. Das ist auch notwendig, wir brauchen gemeinsame Datenbanken, wir brauchen gemeinsame Zugriffsmöglichkeiten auch dann, wenn noch kein Strafverfahren eingeleitet ist. All diese Dinge brauchen wir, die sind in Arbeit. Aber ich erinnere daran, dass es ja zum Beispiel im letzten Sommer noch nicht einmal eine Schnittstelle bei der Registrierung von Flüchtlingen zwischen den Bundes- und den Landesbehörden gab. Erst, als wir darauf hingewiesen haben, wurde der Stein dann ins Rollen gebracht.
    "Der Datenaustausch ist das Problem"
    Büüsker: Also muss man schon sagen, dass Föderalismus hier ein Problem ist.
    Pistorius: Nein, nicht der Föderalismus ist ein Problem, sondern die Anpassung der Strukturen. Föderalismus ist weder Selbstzweck noch ist er der Kern des Problems.
    Der Föderalismus mit seinen Länderpolizeien und seinen Länderstrukturen funktioniert. Was besser gemacht werden muss, ist der Datenaustausch. Das Gleiche gilt übrigens auf europäischer Ebene auch. Der Datenaustausch ist das Problem und die Bündelung von Kompetenzen da, wo es angezeigt ist.
    Büüsker: Innenminister Thomas de Maizière fordert jetzt mehr Kompetenzen für den Bund. Ist das eine gute Forderung?
    Pistorius: Interessant an der Forderung ist zunächst mal, auf welche Hypothese er sich dabei stützt. Und die habe ich nicht gefunden. Ausgangshypothese müsste ja sein, dass jetzt der Fall Amri, der Fall des Anschlags in Berlin, dass der offenbart, dass es erhebliche Lücken in der Zusammenarbeit der Länder gegeben hat. Kann ich bislang nicht erkennen, jedenfalls noch nicht. Muss man sich genau ansehen.
    Von daher sage ich immer, man kann ja solche Forderungen aufstellen, aber dann sollte man auch den Anlass dafür benennen, der einen zu dieser Schlussfolgerung treibt. Und das fehlt. Ich kann wie gesagt nicht erkennen, dass es hier ein solches Defizit gegeben hat. Wenn es das gibt, muss man über dessen Beseitigung reden, völlig selbstverständlich, aber nicht der Föderalismus ist hier das Problem. Und nebenbei bemerkt kann ich auch nicht erkennen aus meiner langen Berufstätigkeit, dass die großen Mammutbehörden gerade das Musterbeispiel an perfekter Organisation sind. Ganz im Gegenteil.
    Ich frage mich im Übrigen auch, woher Herr de Maizière das Selbstbewusstsein nimmt, mehr Kompetenzen auf Bundesebene zu ziehen. Ich denke an die Schwierigkeiten, die wir mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatten, mit der Bundesagentur für Arbeit, mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz und anderen Behörden. Das sind ja nicht alles Musterbeispiele für perfekte Verwaltung in den letzten 20 Jahren.
    "Ich halte das für ein Ablenkungsmannöver, was da gerade passiert"
    Büüsker: Aber Herr Pistorius, was spricht denn dagegen, dass der Bund mehr Kompetenzen bekommt?
    Pistorius: Dagegen spricht zunächst mal grundsätzlich überhaupt nichts. Die entscheidende Frage ist nur, auf welche Art und Weise.
    Ich halte das eigentlich für ein Ablenkungsmanöver, was da gerade passiert. Zum einen steht die Klausurtagung der CSU in Wildbad Kreuth bevor, das heißt, offenbar will Herr de Maizière jetzt noch mal gerade mit Blick nach Bayern zeigen, hier, ich bin der Bundesinnenminister und ich zeige euch jetzt mal, wie wir hier Law-and-Order-Politik machen und den Bund stärken, weil nur der Bund die Probleme lösen kann. Das ist gewissermaßen so eine Hypersensibilisierung auf das, was aus Wildbad Kreuth zu erwarten ist.
    Und das zweite Thema ist: Wir beklagen alle gemeinsam seit Jahren die lückenhafte und schlechte Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden auf europäischer Ebene. DA kommen wir keinen Schritt voran, aus welchen Gründen auch immer. Das ist Sache des Bundes.
    Gleichzeitig bricht jetzt Herr de Maizière eine Diskussion vom Zaun über die Zusammenarbeit der Länder untereinander und eine Bündelung, eine Heranziehung von Kompetenzen auf Bundesebene. Auch das ist eher eine Ablenkung von dem größeren Problem, das wir auf europäischer Ebene haben.
    "Videoüberwachung hilft, aber sie löst das Problem nicht"
    Büüsker: Herr Pistorius, Sie kritisieren, dass Thomas de Maizière jetzt hier auf die CSU reagiert. Gleichzeitig reagiert aber auch Ihr Parteikollege, der Vizekanzler Sigmar Gabriel, auf das Thema innere Sicherheit. Er hat auch ein Papier zu dem Thema vorgelegt, wo er unter anderem mehr Videoüberwachung fordert, also noch mehr Daten. Wo Sie gerade gesagt haben, dass eigentlich dann der Austausch fehlt. Also, wie kann noch mehr Videoüberwachung zu noch mehr Sicherheit führen?
    Pistorius: Da müssen wir zwei Dinge auseinander halten. Die Daten, die bei einer Videoüberwachung gespeichert werden, werden nach einer gewissen Zeit wieder gelöscht, wenn man sie nicht braucht. Das hat weniger etwas zu tun mit Datenbanken zwischen Polizeien des Bundes und der Länder. Da gibt es Nachholbedarf, das hat aber nichts zu tun mit Videoüberwachung.
    Und mehr Videoüberwachung gleichzusetzen mit mehr Sicherheit, ist eine These, der ich immer schon widersprochen habe. Es ist ein Mehr an gefühlter Sicherheit und eine Erleichterung der Strafverfolgung. Dennoch bin ich auch der Auffassung, dass mehr Videoüberwachung Sinn macht. Wir erleben ja gerade wieder bei der schrecklichen Tat da an der U-Bahn-Station in Berlin oder anderen Fällen, dass Videoüberwachung nun mal hilft, die Straftäter zu bekommen. Und allein das kann schon abschreckende Wirkung haben, aber vor allen Dingen erleichtert es eben auch die Strafverfolgung.
    Von daher bin ich auch dafür. Aber man darf es unter zwei Gesichtspunkten nicht tun. Der Erste wäre zu behaupten, damit würde ich hundertprozentige Sicherheit gewährleisten. Das tut man nicht. Videoüberwachung verhindert im Zweifel nur wenige Straftaten. Und der zweite Fehler, den man nicht machen darf, ist zu glauben, damit Erwartungen wecken zu können, die keiner erfüllen kann. Videoüberwachung hilft, aber sie löst das Problem nicht. Und vor allen Dingen dürfen wir nicht überziehen. Es hilft uns nichts, wenn kein videoüberwachungsfreier Raum mehr in Deutschland besteht.
    Deswegen klare Abgrenzung – ja, Bahnhöfe, Flughäfen sowieso, haben wir auch schon. Bestimmte gefahrgeneigte und besonders gut frequentierte Plätze, dagegen spricht überhaupt nichts, das kann man sich angucken. Ich bin sehr dafür, dass wir das tun.
    Büüsker: So der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet, und Herr Pistorius ist eigentlich noch im Urlaub, weshalb auch die Handyleitung einigermaßen schlecht war. Wir entschuldigen uns dafür.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.