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Zentrifuge statt Zentralismus

Entmachtet Brüssel die nationalen Parlamente? Die Diskussion um die Macht der Europapolitiker wird in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU durchaus unterschiedlich geführt. Die Spanier votierten zum Beispiel im Gegensatz zu Frankreich mit großer Mehrheit für den europäischen Verfassungstext. Fürchten die Bürger dort keinen Brüsseler Zentralstaat?

Von Hans-Günter Kellner | 12.03.2007
    Der Bahnhof Atocha in Madrid wurde 1992 zum größten Umsteigebahnhof Spaniens. Künftig werden auch die Hochgeschwindigkeitszüge nach Barcelona hier abfahren. Gegenwärtig wird an der Strecke noch gebaut. Fast vier der fünf Milliarden Euro Baukosten übernimmt die Union. Nirgends sonst hat sich die Förderung so sehr auf die Lebensverhältnisse ausgewirkt, wie in Spanien, meint José Luis González Vallvé, Direktor des Madrider Büros der EU-Kommission:

    " Als Spanien 1986 der EU beitrat, lag unser Pro-Kopf-Einkommen bei 70 Prozent des europäischen Durchschnitts. Heute sind wir bei 95 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens der 15 alten EU-Staaten. Auch viele andere Regionen erhalten Mittel, in Deutschland, Italien, Portugal oder Griechenland, nicht überall sind sie so effizient. "

    Auch Deutschland profitiert vom Geld für die Spanier. Spanien importiert sechs mal mehr aus den EU-Staaten, als es netto an EU-Fördermitteln erhält, erklärt González Vallvé. Aber nicht nur die Mittel spielen in der Debatte in Spanien eine Rolle, sondern auch die Kompetenzen Brüssels, etwa wenn Golfplätze und Villensiedlungen in EU-Schutzgebieten errichtet werden sollen:

    " Sobald die spanischen Behörden die Schutzgebiete ausgewiesen haben, überwacht die EU die Aktivitäten dort. Erhält die Kommission einen Hinweis auf eine Verletzung der Bestimmungen in diesen Gebieten, werden die spanischen Behörden darauf aufmerksam gemacht. Fast ein Viertel der Oberfläche Spaniens ist in einem Schutzprogramm der EU aufgenommen. "

    Kritik löst die EU in Spanien hingegen aus, wenn Gemeinschaftsaufgaben am Eigensinn der Mitgliedsstaaten scheitern. Zum Beispiel bei der gemeinsamen Überwachung der EU-Außengrenzen, wie im vergangenen Jahr vor den Kanarischen Inseln, als die europäischen Partnerländer nur zwei Schiffe und zwei Flugzeuge entsenden wollten. Die Spanier wünschen sich eine entscheidungsfreudigere Union. Kritik an einer Kompetenzanhäufung in einem sich immer mehr zentralisierenden Europa, wie sie etwa jüngst Alt-Bundespräsident Roman Herzog geäußert hatte, gibt es in Spanien kaum. Europaexperte José Ignacio Torreblanca vom regierungsberatenden Elcano-Institut fragt sich viel mehr, wie lange diese Debatte noch geführt werden soll:

    " Ich sehe eher eine Gefahr zentrifugaler Tendenzen als die eines zentralistischen Europas. Jeder Staat kümmert ist nur um die eigenen Interessen. Seit 20 Jahren debattieren wir über die gleichen Themen: Gewaltenteilung, einen Kompetenzkatalog, das Subsidaritätsprinzip usw. Ich dachte, diese Themen seien endlich geklärt, wir wären endlich an einem zwar nicht perfekten, aber doch von allen akzeptierten Gleichgewicht der Kräfte angekommen. Europa blockiert sich selbst, immer wieder und wieder mit den gleichen Debatten. "

    Über die Kompetenzen der Kommission hätten schließlich die Mitgliedsstaaten entschieden, nicht die Kommission selbst, gibt er zu bedenken. Die Union trage auch keine Schuld daran, wenn nationale Regierungen unbequeme Debatten in ihren Parlamenten - wie etwa zum Nichtraucherschutz - vermeiden und diese Themen lieber Brüssel überlassen. Das Problem der mangelnden Kontrolle der Kommission durch das Parlament hätte für Torreblanca die EU-Verfassung hingegen gelöst. Die spanische Regierung ist eine der entschiedensten Befürworter dieser Verfassung. Mit den gegenwärtigen Strukturen kommt Europa nicht vorwärts, ist sich Torreblanca sicher.

    " Da wir Einstimmigkeit darüber erzielen müssen, wird der Verfassungstext in der gegenwärtigen Form nicht in Kraft treten. Es wird verhandelt werden, es wird eine noch weiter reduzierte Kompromisslösung geben. Heute sagen viele, es sei ein Fehler gewesen, den Text überhaupt Verfassung zu nennen und die Leute dazu zu befragen. Ob damit jedoch das Demokratiedefizit löst, wenn man nicht mehr mit der Bevölkerung spricht? Das werden wir erst 2009 sehen, wenn die Wahlbeteiligung noch weiter sinkt."