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Zerfressene Schalen

In der Schottischen See zwischen den Falklandinseln, der Antarktischen Halbinsel und Südgeorgien haben Wissenschaftler des Britischen Antarktisdienstes Bedingungen gefunden, wie sie für die Weltmeere erst in rund 90 Jahren erwartet werden. In der aktuellen Ausgabe von "Nature Geoscience" berichten sie über ihre Entdeckung.

Von Dagmar Röhrlich | 26.11.2012
    Im Januar und im Februar ist Geraint Tarling vom British Antarctic Survey normalerweise nicht in Großbritannien anzutreffen, sondern auf einem Schiff namens James Clarke Ross. Dann versuchen er und seine Kollegen in den Südozeanen vor der Antarktis trotz des oft stürmischen Wetters ihre Proben aus dem Wasser zu holen. Geraint Tarling ist Spezialist für Zooplankton, und derzeit interessieren ihn gerade stecknadelkopfgroße Meeresschnecken, die Seeschmetterlinge:

    "Sie leben in den obersten 200 Metern der Meere - von der Arktis über die Tropen bis zur Antarktis. Diese Meeresschnecken bilden Schleimnetze aus, mit denen sie winzige Partikel von pflanzlichem Plankton fangen. Dann ziehen sie diese Netze ein und verdauen ihre Beute. Seeschmetterlinge leben in Schalen, die sie aus einem Material namens Aragonit aufbauen, also einer leichter löslichen Form von Calciumcarbonat."

    Also von Kalk. Weil es so leicht löslich ist, reagiert Aragonit besonders empfindlich darauf, dass sich das Kohlendioxid aus der Verbrennung von Gas, Kohle und Öl im Meerwasser löst und es zunehmend saurer macht:

    "In den saureren Ozeanen der Zukunft sollten sich Organismen, die Aragonit für den Schalenaufbau einsetzen, als erstes auflösen. Im Labor ist der Nachweis bereits gelungen. Wir haben in den Südozeanen dort Proben genommen, wo karbonatarmes, korrosives Tiefenwasser bis nahe zur Oberfläche aufwallt. Diese Zonen waren so lange unproblematisch, wie das Oberflächenwasser, mit dem sich dieses Tiefenwasser mischte, das Korrosionspotenzial abpuffern konnte. Da nun das Oberflächenwasser selbst saurer wird, funktioniert das nicht mehr. Unter diesen Bedingungen sollten sich die Schalen der Seeschmetterlinge auflösen, und genau das haben wir gesehen."

    Was mit den Tieren passiert, zeigt sich erst unter dem Elektronenmikroskop. Dort lassen sich die einzelnen Schichten der Schneckenschalen analysieren:

    "Bei den untersuchten Schalen war etwa die Hälfte des Calciumcarbonats verschwunden. Dabei sind die schützenden äußeren Lagen am stärksten betroffen, und die Korrosion dringt nach innen vor. Allerdings nicht gleichmäßig. Vielmehr gab es Teile, die komplett durchlöchert waren oder die sich bereits vollständig aufgelöst hatten, während andere noch intakt zu sein schienen."

    Als die Forscher die Seeschmetterlinge einfingen, lebten sie noch: Die Auflösung ihre Schale ist also nicht tödlich für die Tiere:

    "Sie erkranken leichter, werden schneller von Pilzen befallen und schwimmen langsamer. Die statistische Auswertung zeigt, dass die Seeschmetterlinge in den Zonen, in denen das Tiefenwasser aufsteigt, kleiner sind als ihre Verwandten im normalen Meerwasser. Wenn sie nicht aus diesen Wassermassen herauskommen, werden sie ihren Lebenszyklus nicht mehr vollenden, weil sie aufhören zu wachsen."

    Noch findet diese Auflösung der Seeschmetterlinge nur in speziellen Zonen statt, in denen heute schon die Bedingungen herrschen, wie sie für die Ozeane der Zukunft typisch sein dürften. Aber bis 2050 könnte während des Winters in den Südlichen Ozeanen und der Arktis aus dieser besonderen Situation Normalität geworden sein - und bis 2100 rund ums Jahr.

    "Diese Seeschmetterlinge sind aus zwei Gründen wichtig: Zum einen stehen sie als Bindeglied zwischen pflanzlichem und tierischem Plankton weit unten in der Nahrungskette. Wir haben sie ebenso in den Mägen von größerem Zooplankton gefunden wie in denen von Vögeln, Fischen und Walen. Da sie in den Südozeanen zu den wenigen Organismen gehören, die Kalkschalen ausbilden, sind sie außerdem in den biogeochemischen Zyklen sehr wichtig."

    Dass Seeschmetterlinge ganz aus dem System Südozean herausfallen werden, ist noch nicht ausgemacht. Derzeit versuchen die Tiere, die Korrosion zu kompensieren, indem sie das aufgelöste Material von innen her ersetzen. Allerdings stecken sie dadurch immer mehr Energie und Material in den Schalenaufbau - aber das hat Grenzen: Bleibt der Stress, könnten sie mit Wachstum und Fortpflanzung Probleme bekommen.