Freitag, 19. April 2024

Archiv


Zerrbild der Gesellschaft

Mit "Die Welt des Juan Carlos Onetti" würdigt Mario Vargas Lloso einen Schriftsteller, der vor 100 Jahren in Uruguay geboren wurde. Von Schreibenden aus Lateinamerika werden seine Werke hoch geschätzt. Dennoch kennen ihn auf dem Kontinent nur wenige.

Von Michaela Schmitz | 26.10.2009
    Für Vargas Llosa sei die Literatur eine Ehefrau, für ihn selbst eine Geliebte, habe Juan Carlos Onetti zu ihm gesagt, als sich die beiden im Sommer 1966 auf dem Internationalen Pen-Kongress persönlich kennenlernten. Im Gegensatz zu Llosas Schreibdisziplin mit festen Arbeitszeiten schrieb Onetti, wenn es ihn gerade überkam, manchmal auf lose Zettel, langsam, Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Unorthodox wie die Schreibgewohnheiten sei auch sein Auftreten gewesen, erinnert sich Llosa:

    "Schüchtern und zurückhaltend bis zum Verstummen schwieg er zumeist in sich gekehrt, eine Zigarette nach der anderen rauchend und sperrte sich mit einer Flasche Whisky und einem Haufen Krimis in seinem Hotelzimmer ein, aber was er sagte, war immer klug, allerdings gefärbt von beißender Ironie oder herbem Sarkasmus. Er sprach nicht gern von seinen eigenen Büchern."

    Die bis dahin auch nur bei einem sehr kleinen Kreis von Lesern und Kritikern Aufmerksamkeit gefunden hatten. Sie überhaupt zu bekommen, sei damals noch sehr schwierig gewesen, berichtet Llosa.

    In seinem neuen Essay wirft Llosa seinen persönlichen Blick auf "Die Welt des Juan Carlos Onetti" – fundiert, aber nach eigenen Worten nicht streng wissenschaftlich. Der 1909 in Montevideo geborene Onetti sei von Kindesbeinen an ein obsessiver Leser und fanatischer Träumer gewesen, so Llosa. Schon als kleiner Junge zieht er sich zum Lesen gerne in einen leeren alten Schrank zurück oder er liest stundenlang

    Am Grund einer Zisterne, in die sein Bruder Raúl ihn in einem Eimer herunterließ, ausgerüstet mit einem Korbstuhl, einem Krug Limonade und dem Buch Prediger

    Der nihilistisch anmutende Bibeltext sollte die pessimistische Weltsicht seiner Bücher nachhaltig prägen, bemerkt Llosa. Als 14-Jähriger verlässt Onetti die Schule ohne Abschluss. Er hält sich und seine Familie in Buenos Aires erst mit Gelegenheitsarbeiten, später als Journalist über Wasser. Sein erster literarischer Text "Der Schacht" entsteht nach Onettis Aussage aus Verzweiflung eines Wochenendes ohne Zigaretten. Nach einigen Texten folgt der Roman "Das kurze Leben". Hier ereignet sich der "Urknall" des Onettischen Erzählkosmos': Die Erfindung von Santa María. Der fiktive Ort im Nirgendwo zwischen Argentinien und Uruguay entspringt der Fantasie der Hauptfigur Brausen – als Flucht in eine Scheinwelt jenseits seines belastenden Alltags in seiner Werbeagentur.

    Santa María wird seinen Erfinder Brausen überleben. Figuren und Orte tauchen in ähnlicher oder abgewandelter Form in Onettis folgenden Romanen immer wieder auf. Ab Mitte der 50er-Jahre entstehen während Onettis Tätigkeit als Leiter der Städtischen Bibliotheken in Montevideo unter anderem die Romane "Leichensammler" und "Die Werft". Dieser erzählt die Geschichte einer von Einsamkeit, Vernachlässigung, Stagnation, Ungeziefer und Rost zerfressenen bankrotten Werft, eine halbe Bootsstunde vor Santa María.

    Doch die Fantasie und der eiserne Wille ihres Präsidenten Petrus, des Hauptgeschäftsführers Larsen, des technischen Geschäftsführers Kunz und des Verwalters Gálvez halten sie in Betrieb Sie begeben sich täglich ins Büro, halten die Arbeitszeiten ein, überprüfen abgelaufene Bestellungen, aufgegebene Projekte, und stellen der Buchhaltung Gehälter in Rechnung, die sie niemals beziehen werden.

    Der unabwendbare Verfall gerinnt zum zynischen Abbild der Realität und der aussichtslose Rettungsversuch zeichnet ein Zerrbild christlichen Heilsversprechens. 1974 wird Onetti unter der Militärjunta kurzfristig inhaftiert. Er flüchtet ins spanische Exil. Dort fängt der 66-Jährige als Kellner, Türsteher und Verkäufer bei Null an. Trotzdem schreibt er weiter. 1980, ein Jahr nach Veröffentlichung von "Lassen wir den Wind sprechen", wird ihm überraschend der Cervantespreis zugesprochen. Eine von Vargas Llosa für den Autor schon Jahrzehnte zuvor geforderte späte Auszeichnung. Denn für Llosa ist Onetti der Begründer des modernen lateinamerikanischen Romans – auch und gerade durch seine unorthodoxe Art zu erzählen.

    Roberto Arlt ähnele Onetti in seinem "anarchischen Individualismus", meint Vargas Llosa, und sein "wüster Stil" orientiere sich an Céline. Durch sein atemberaubendes Spiel mit Schein und Wirklichkeit bewirke Onetti einen den Leser herausfordernden Orientierungsverlust, potenziert durch die gleichzeitige Offenlegung der Entstehungsbedingungen der Fiktion. Angeregt, vermutet Llosa, durch William Faulkners literarische Schöpfung eines eigenständigen fiktiven Landstrichs, entwickelt Onetti seinen mythischen sanmarianischen Erzählraum. Bezüge zu Faulkner sieht Llosa auch in Onettis Verfahren, die lineare Chronologie durch eine wie im Traum erlebte zirkuläre Zeit zu ersetzen. Alles in allem eine Revolution der lateinamerikanischen Literatur, durch die Onetti für Llosa zum Erfinder des magischen Realismus' wird.

    Der Cervantespreis erlaubt es Onetti auch im Alter weiter zu schreiben – bis zum letzten Roman "Wenn es nicht mehr wichtig ist", wo es am Ende heißt:

    "Jetzt, definitiv und für immer in Monte, mache ich weiterhin meine Aufzeichnungen, denn absurderweise spüre ich, dass ich das tun muss, so als erfüllte ich ein heiliges Versprechen, das ich nie gegeben habe, doch an das ich mich gleichwohl gebunden fühle. (...) Ich habe das Wort "Tod" geschrieben und mir dabei gewünscht, dass es nicht mehr sei als das, ein mit zitternden Fingern geschriebenes Wort."

    Ein Jahr nach Veröffentlichung stirbt Onetti 84-jährig in Madrid.
    Vargas Llosa gelingt es in seinem Essay, die wegweisende Bedeutung Onettis für die lateinamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts fachlich fundiert und gleichzeitig persönlich überzeugend darzustellen. Für Onetti-Einsteiger ist das Buch ein kurzweiliger Überblick über Leben und Werk; Onetti-Kenner finden bestimmt einige neue Details und Interpretationsansätze. Sicher bleiben bei Llosas Leitgedanken einer Fantasiewelt als Ventil für das Leiden an der Wirklichkeit auch Facetten von Onettis Werk unberücksichtigt. Wichtiger aber ist Llosas Beitrag zur Aufgabe, Onetti zu der Bekanntheit zu verhelfen, die seiner literarischen Bedeutung entspricht.

    Mario Vargas Llosa: Die Welt des Juan Carlos Onetti
    Suhrkamp 2009, 221 Seiten, 24,80 Euro