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Zerrissene Stasi-Akten
Warum die Rekonstruktion stockt

Nach der Wende wurden Millionen Stasi-Akten zerrissen und bis zur endgültigen Vernichtung in Säcke gesteckt. Bürgerbewegte konnten damals 16.000 dieser Säcke sicherstellen. Doch die aufwändige Rekonstruktion ist trotz Digitalisierung ins Stocken geraten - und die Opfer bangen um Aufklärung.

Von Silke Hasselmann | 26.03.2018
    Zerrissene Stasi-Akten: Viele Säcke mit solchen Schnipseln warten noch auf Rekonstruktion.
    Viele Säcke mit solchen Schnipseln zerrissener Stasi-Akten warten noch auf Rekonstruktion (picture alliance / dpa / Stephanie Pilick)
    Schwerin am Bleicherufer. Zu Besuch in der Stasi-Unterlagenbehörde von Mecklenburg-Vorpommern.
    "Na, wollen wir mal gucken, was wir da haben."
    "Ich bin als Zersetzer geführt worden."
    Heiko Lietz war zu DDR-Zeiten Pfarrer in Güstrow. Dass das Ministerium für Staatssicherheit einen sogenannten "Zersetzungsplan" ausgearbeitet hatte, um ihn zu zermürben, das weiß er aus jenen Stasi-Akten, die er bereits 1993, also vor 25 Jahren, zu Gesicht bekommen hatte.
    "In dem Augenblick war ich in eine Welt eingetaucht, die so massiv auch mich beeinflusst oder mich geprägt hat."
    Was er damals erfuhr, war schon schlimm. Etwa dass und wie umfangreich der junge Küster ihn bespitzelt hatte. Dabei waren seine Akten offenkundig nicht einmal vollständig. Denn dass die Staatssicherheit ausgerechnet in den letzten DDR-Jahren ihr Interesse an dem systemkritischen Pfarrer verloren haben soll, ist unwahrscheinlich.
    Tausende Säcke zerrissener Akten sichergestellt
    Kein Einzelfall, sagt Anne Drescher. Sie ist Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern, also der damaligen DDR-Bezirke Rostock, Neubrandenburg und Schwerin.
    "Wir haben zum Beispiel Menschen, die sagen, sie waren 1988/89 sehr aktiv gewesen und sind beobachtet worden, sind zugeführt worden, hatten Festnahmen erlebt, Befragungen - das muss sich doch irgendwie in ihrer Akte widerspiegeln. Und sie stellen einen Antrag und es kommt die Information: 'Es ist nichts vorhanden zu Ihnen.' Dann ist klar, dass natürlich gerade das brisanteste Material als erstes versucht wurde zu vernichten. Anzunehmen ist natürlich, dass so etwas sich in den Säcken mit den vorvernichteten Materialien noch befindet. Das sind ja Millionen Blatt, auf denen die unterschiedlichsten Informationen stehen können."
    Rückblick: Im November 1989 und im Januar 1990 befiehlt die Führung des schon bald umbenannten DDR-Ministeriums für Staatssicherheit den hauptamtlichen Offizieren eine gründliche Aktenvernichtung. Wochenlang laufen Reißwölfe und Papiermühlen auf Hochtouren. Gleichzeitig landen Zig-Millionen Papiere von Hand zerrissen in Müllsäcken. Sie sollen später unwiederbringlich vernichtet werden. Doch landauf, landab kann die DDR-Bürgerbewegung rund 16.000 dieser Säcke rechtzeitig sicherstellen.

    Die meisten werden ins bayrische Zirndorf in die Vorgängerbehörde des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gebracht. Dort beginnt im Jahr 1995 die Rekonstruktion der Stasi-Akten. Zunächst breiten die Mitarbeiter die pro Sack rund 3.000 Papierschnipsel auf großen Tischen vor sich aus. Dann suchen sie zueinanderpassende Puzzleteile - ein zeitraubender Prozess. Zehn Jahre später - und längst im neuen Jahrtausend angekommen - liegen noch immer ca. 45 Millionen zerrissene Stasi-Dokumente in rund 15.500 unbearbeiteten Säcken.
    Säcke mit vorvernichteten Akten der ehemaligen Stasi liegen im Keller der Außenstelle in Frankfurt (Oder) des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
    Säcke mit vorvernichteten Akten der ehemaligen Stasi liegen im Keller der Außenstelle in Frankfurt (Oder) des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (picture alliance / dpa-Zentralbild, Patrick Pleul)
    Virtuelle Rekonstruktion sollte Prozess beschleunigen
    Deshalb erteilt der Deutsche Bundestag der Stasiunterlagenbehörde den Auftrag, sich um ein automatisiertes, massentaugliches Verfahren zu kümmern. 2008 ist es soweit, wie dieses Pressevideo verspricht:
    "Ein neues Verfahren macht die zeitnahe Wiederherstellung aller Akten möglich: die virtuelle Rekonstruktion. Nach erfolgreichen Laborversuchen tritt das Projekt in die Pilotphase. Säcke mit zerrissenen Stasi-Unterlagen werden an das Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik in Berlin geliefert."
    Dort sollen die Forscher den Inhalt aus 400 Säcken in überschaubarer Zeit wieder lesbar machen - mit ihrem weltweit einmaligen Verfahren:
    "Die Fragmente werden schichtweise aufgenommen. Der verwendete Scanner verfügt über einen schnellen Einzugsmechanismus und erfasst Vorder- und Rückseite in einem Durchgang. Der Scanner liefert scharfe und farbechte Bilddateien in hoher Auflösung. Die aus diesen digitalen Abbildern berechneten Merkmale wie Konturen, Beschriftung, Linienverläufe und Papierfarbe ermöglichen später die virtuelle Rekonstruktion der Fragmente zu vollständigen Dokumenten."
    Es geht um die Automatisierung von visuellen Prozessen - und das auch mithilfe der von Fraunhofer entwickelten Computersoftware "ePuzzler". Die soll in dem digitalen Archiv die zueinander passenden Fragmente suchen und diese am Bildschirm zu einer lesbaren virtuellen Akte zusammensetzen.
    Frist für Rehabilitierung und Entschädigung läuft aus
    Welches Material genau sich in den Säcken befindet, weiß niemand. Doch die Erfahrung mit wiederhergestellten Papieren zeigt, dass es sich nicht um belanglose Urlaubsanträge, Speisepläne oder Materialbeschaffungsformulare handelt. Rekonstruiert wurden bislang vielmehr Akten über die in der DDR untergetauchte RAF-Terroristin Silke Maier-Witt, über Oppositionelle wie Robert Havemann, Jürgen Fuchs, Stefan Heym, sagt die Schweriner Landesbeauftragte Anne Drescher.
    "Es sind Berichte von Inoffiziellen Mitarbeitern gefunden worden, die sehr dazu beigetragen haben, politische Verfolgung für Bürger der DDR zu belegen. Es sind Materialien gefunden worden von der Ausspähung der Friedensbewegung Ost und West. Also Dinge, die uns helfen zu verstehen, was an Verfolgungsmaßnahmen vom Ministerium in Auftrag gegeben und durchgeführt wurde gegen Menschen, die sich für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung engagiert haben."

    In den mehr als 27 Jahren seit dem Untergang der DDR haben viele Opfer vor allem mit Hilfe von Stasiakten eine Rehabilitierung erwirkt. Doch noch immer begehren Menschen Akteneinsicht - in Mecklenburg-Vorpommern allein voriges Jahr etwas mehr als eintausend. Manche trauen sich erst jetzt einen Blick auf einen oft verschlossen gehaltenen Teil ihres Lebens zu. Andere erhoffen sich mit ihren Folgeanträgen, dass bislang vermisste Stasidokumente nun endlich zu finden sein werden. Die Zeit drängt, denn nur noch bis Ende 2019 sieht das geltende Recht Ansprüche auf eine Rehabilitierung beziehungsweise Opferentschädigung vor. Im Bereich des staatlichen Zwangsdopings muss es dafür sogar noch rascher gehen.
    Anne Drescher, Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern, in ihrem Schweriner Büro vor einschlägigen Akten
    Anne Drescher, Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern, in ihrem Schweriner Büro (Deutschlandradio / Silke Hasselmann)
    Opfer von Zwangsdoping hoffen auf Beweise durch Akten
    Beratungsgespräch in Schwerin: Eine ehemalige DDR-Turnerin berichtet, sie habe schon als Minderjährige in ihrem Sportclub blaue Pillen zum Frühstück schlucken müssen - unter Aufsicht des Trainers. Heute ist sich Karin Franke sicher, dass man ihr das Dopingmittel Oral-Turinabol verabreicht hatte. Sie vermutet einen Zusammenhang zu ihren späteren Fehlgeburten und zu ihren zahlreichen schweren wie rätselhaften Erkrankungen. Sie habe gehört, dass sich vielleicht auch in Stasi-Akten Hinweise dafür finden ließen, dass sie jahrelang unwissentlich mit Chemie vollgepumpt worden war.
    "Also erst mal bin ich überhaupt erstaunt, dass es heute noch Möglichkeiten gibt, an irgendwelche Unterlagen heranzukommen. Und erhoffen tue ich mir davon eigentlich, dass ich für mich Wege finden kann, besser mit meinen ganzen Erkrankungen umzugehen. Und -tja, dass man einfach was dagegen tut, dass Menschen ohne ihr Wissen gedopt werden."
    Für das streng geheime Dopingprogramm war der Sportmedizinische Dienst der DDR zuständig. Doch kein gesellschaftlicher Bereich sei derart stark von Spitzeln durchdrungen gewesen sei wie der Hochleistungssport, sagt Anne Drescher. So mancher Trainer, Arzt oder Sportler habe dem Führungsoffizier in informeller Mitarbeit auch das eine oder andere über die Dopingpraxis in ihrem Beritt erzählt.
    "Um eine Anerkennung zu bekommen oder einen Beleg zu haben, dass Sie wirklich durch 'unterstützende Mittel' in sehr früher Kindheit vielleicht geschädigt wurden, müssen Sie ja nachweisen für diese Wiedergutmachungsleistung, dass Sie dann und dann diese Mittel bekommen haben. Das kann man natürlich auch über Patientenunterlagen vielleicht hinbekommen. Aber auch diese Materialen sind ja vernichtet. Wenn wir aber einen Beleg dafür haben, dass dieses in dieser Form in diesem Sportbereich oder in diesem Sportclub oder durch diesen behandelnden Arzt so durchgeführt und diese Mittel so eingesetzt wurden, dann haben wir ja einen Beleg für den einzelnen Sportler und müssen nicht mehr diesen Einzelbeweis antreten."
    Digitalisierung der Akten gestoppt
    Umso wichtiger sei es, die Schnipselsäcke "mit allen verfügbaren Mittel" aufzubereiten - "auch mithilfe der virtuellen Aktenrekonstruktion". So schreiben es Anne Drescher und die anderen fünf Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zu Jahresbeginn in einer gemeinsamen Erklärung. Damit reagieren sie auf eine eher beiläufige Mitteilung vom Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, die er nun auf Nachfrage bestätigt:
    "Es findet zurzeit keine virtuelle Rekonstruktion statt."
    Genau gesagt: seit 2014 nicht mehr. Bis dahin habe das Berliner Fraunhofer Institut nur 23 der vereinbarten 400 Säcke geschafft, sagt Roland Jahn gegenüber dem Deutschlandfunk:
    "Es hat sich gezeigt, dass die Technik der herkömmlichen Scanner, die auf dem Markt waren, nicht ausreicht, hier im größeren Umfang diese Schnipsel zu digitalisieren und dann für den Prozess der virtuellen Rekonstruktion zur Verfügung zu stellen. Und diese Erkenntnis hat dazu geführt, dass die Digitalisierung gestoppt worden ist."
    "Das ist natürlich ein alarmierender Vorgang und auch ein echtes Politikum."
    Meint Ines Geipel, ehedem DDR-Spitzensprinterin und heutige Vorsitzende des Dopingopfer-Hilfevereins.
    "Seit 1995 wird gepuzzelt. Bislang sind 523 Säcke zusammengesetzt. 15.500 sind also noch unerschlossen. Wenn man das hochrechnet, sind wir in etwa 600 Jahren mit den Säcken so weit. Es dürfte also jedem klar sein, dass das nicht hinzunehmen ist."

    Ines Geipel verweist auf das 2. Dopingopfer-Entschädigungsgesetz, das den anspruchsberechtigten Ex-Sportlern nicht mehr viel Zeit für einen Antrag einräumt. Denn das läuft nach jetzigem Stand bereits zum 31. Dezember dieses Jahres aus.
    "Die Opfer kämpfen händeringend um ihre Akten. Es geht um Belege, es geht um Klarheit. Es geht um die jeweils individuelle Geschichte. Und schon von daher ist in keiner Weise nachvollziehbar, dass das Argument für den Stopp die zu geringe Leistungsfähigkeit von Scannern ist. Technik kann hier kein Argument sein und auch nicht das Geld. Es tauchen Jahr für Jahr Millionen SED-Gelder auf. Und genau die wären doch gut eingesetzt, um den Opfern zu helfen zu ihren Geschichten zu kommen."
    Die Schriftstellerin und Doping-Expertin Ines Geipel, die Arme verschränkt, an eine graue Betonmauer gelehnt.
    Die Schriftstellerin und Doping-Expertin Ines Geipel (Ines Geipel (privat))
    Massenhafte und schnelle Aktenrekonstruktion in weiter Ferne
    Doch Geld ist nicht das Hauptproblem. Bis 2014 sind sechs Millionen Euro aus den Etats von Bundesinnen- und Bundesforschungsministerium in die virtuelle Rekonstruktion zerrissener Stasiakten geflossen. 2015 genehmigte der Bundestag einen Zuschlag in Höhe von zwei Millionen Euro, die die Stasiunterlagenbehörde für die Weiterentwicklung der Scan-Technologie ausgeben dürfte. Bis heute hat Behördenchef Roland Jahn die Gelder jedoch nicht abgerufen und weitergereicht. Gefragt nach dem Grund, erklärt er:
    "Es geht natürlich darum, dass das Steuergeld verantwortungsbewusst eingesetzt wird. Und dass das Ganze ein tragfähiges Konzept ist, wo sowohl die Digitalisierung auf sicherem Fundament steht, aber auch die Rekonstruktion auf einem Niveau ist, wo man sagen kann: Das ist ein vernünftiges Arbeiten".
    Die Landesbeauftragte von Mecklenburg-Vorpommern drückt sich deutlicher aus. Ihr Kollege in Berlin sei deshalb so zögerlich, weil die erste Projektphase bis 2014 auf - wie sie sagt - "deprimierende Weise gezeigt" habe, wie weit man noch von einer massenhaften und schnellen Aktenrekonstruktion entfernt sei.
    "Die Hauptarbeit besteht darin - und das, was die meisten Zeit kostet -, diese Schnipsel so vorzubereiten, dass der Computer sie erfassen kann. Die einzelnen Zettel, die aus den einzelnen Säcken herausgenommen werden, müssen gesäubert, geglättet und in Folientaschen eingelegt werden. Und das ist noch nicht maschinell möglich. Unsere Vorstellung ist ja, dass man einen Sack nimmt und oben die ganzen Schnipsel in einen Trichter reinschüttet, und unten kommt die fertige Akte raus. So weit sind wir natürlich noch nicht mit der Technik."
    Der Bundesbeauftragte Roland Jahn - einst selbst vom Ministerium für Staatssicherheit verfolgt und verhaftet - will einen neuen Anlauf wagen. Er stehe dafür, dass seine Behörde ihren gesetzlichen Auftrag erfüllt: die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit aufzubewahren, die darin gesammelten Informationen aufzuarbeiten und sie den betroffenen Opfern auf Wunsch zur Verfügung zu stellen:
    "Es kann nicht sein, dass die Stasi hier einen späten Sieg davon trägt durch diese Vernichtung. Sondern wir müssen alles daran setzen, gerade den Opfern der SED-Diktatur hier eine Hilfe zu bieten, anhand von Dokumenten nachzuweisen, dass sie politisch verfolgt worden sind. Dass sie Schaden erlitten haben. Und in dem Sinne gehört das Zusammensetzen von Schnipsel zu unserer täglichen Arbeit. Das muss natürlich geschehen mit einem vernünftigen, vertretbaren Aufwand. Wir sind dabei, auf Grundlage eines neuen Konzeptes mit der Fraunhofer Gesellschaft einen neuen Vertrag abzuschließen. Wir wollen, dass die Rekonstruktion weitergeht und dass wir hier das Prinzip der virtuellen Rekonstruktion nutzen können, um unser Archiv weiter zu erschließen."
    Zumal er seit langem dafür kämpfe, sagt Roland Jahn, dass der Gesetzgeber die Wiedergutmachungsansprüche von DDR-Unrechtsopfern entfristet.
    Manuelle Rekonstruktion verhalf zu Rehabilitierung
    Ortswechsel: Rostock. Herr Wessel betritt das Gebäude der "Maritimen Societät" und steigt ins zweite Geschoss.
    "Guten Tag! Bin ich hier richtig oder bei wem muss ich mich melden?"
    "Genau, wenn Sie einen Antrag auf Akteneinsicht stellen wollen oder ansonsten eine Beratung zu dem Thema haben wollen, sind Sie genau richtig hier."
    Einmal pro Monat kommen zwei Mitarbeiter der Rostocker Stasiunterlagenbehörde hierher in die Innenstadt, um leichter erreichbar zu sein als an ihrem Außenstellensitz in Waldeck. An diesem Märznachmittag suchen gut zwanzig Menschen Rat. Darunter Herr Wessel, der einige Akten aus seinem Rucksack zieht.
    "Ich zeige Ihnen mal ein paar Sachen. Ich bin seit über 50 Jahren im Seehafen Rostock tätig. Das ist früher Grenzgebiet gewesen. Nach der Wende 1992/93 hat jeder seine Akten einsehen können. Meine Akte gab es nicht."
    "Hmm."
    "Erst - das habe ich hier - im Jahre 2012 und dann später 2016 habe ich das erste Mal Unterlagen erhalten. Nur vom Seehafen Rostock und speziell über die, die mich hier im Umfeld von Rostock beschattet haben, beobachtet haben, Berichte geschrieben haben. Das ist die erste Akte, die habe ich hier."
    Stasi-Akten in der Außenstelle Rostock des BStU 
    Akten der Staatssicherheit der DDR im Originalzustand in der Außenstelle Rostock des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU). (picture alliance / dpa / Foto: Bernd Wüstneck/ZB)
    Wie sich zeigt, wurde auch diese Akte Ende '89 von MfS-Mitarbeitern zerrissen und erst vor wenigen Jahren wiederhergestellt. Der heute 68-Jährige hofft auf neue Funde und stellt einen Folgeantrag auf Akteneinsicht. Das könne durchaus Erfolg haben, meint Außenstellenleiter Volker Höffer, der hier 1992 als Aktenauswerter begonnen hatte.
    "Ich will ein Beispiel schildern, das ich persönlich auch begleitet und erlebt habe: wo eine Lehrerin aus Rostock jahrelang versucht hat, ihre Rehabilitierung in Gang zu setzen und nicht nachweisen konnte, dass sie aus politischen Gründen in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Und tatsächlich aus der manuellen Rekonstruktion eine ganz schmale Akte zurückkam, das waren nicht mal dreißig Seiten, wo aber genau dieser Umstand drin steckte und wo wir dann aus diesen erschlossenen Stasi-Unterlagen die entsprechenden Beweise bereitstellen konnten, sodass sie dann im Kontext der Rehabilitierung ihre ganze Wiedergutmachung durchgesetzt hat."
    Doch zuletzt haben derlei Erfolgsmeldungen abgenommen. Nicht nur, dass die virtuelle Aktenrekonstruktion vor vier Jahren unbemerkt von der Öffentlichkeit eingestellt worden ist. Mittlerweile wird auch kaum noch per Hand gepuzzelt. Das liege laut dem Stasiunterlagenbeauftragten Roland Jahn vor allem daran, dass die meisten der damit befassten Kollegen 2015/16 andere Aufgaben im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erhalten hätten.
    "Im Moment sind wir dabei, neu zu konzipieren. Im Moment sind es nur einige wenige, die manuell diese Schnipsel zusammensetzen."
    Es darf keinen Täterschutz geben
    Eine schlechte Nachricht nicht nur für jene Opfer von DDR-Unrecht, die auf den Inhalt der rund 45 Millionen noch nicht wieder zusammengesetzten Stasi-Akten hoffen. Auch Journalisten, Historiker und andere Wissenschaftler fordern eine rasche Erschließung dieser Recherchequelle ein. Ines Geipel zum Beispiel forscht im Rahmen eines von Mecklenburg-Vorpommern finanzierten Promotionsstipendiums an der Uni Rostock über Menschenversuche im Zusammenhang mit dem DDR-Leistungssport.
    "Was wir brauchen, sind Belege für die Forschungsallianzen von Ost und West, für die Forschungsallianzen zwischen dem Militär - also der NVA - und dem DDR-Sport, zwischen der Pharmaindustrie und dem DDR-Sport. Also das, was im Grunde mit der kriminellen Forschung am Athleten zusammenhängt. Da wir davon auszugehen haben, dass der Geheimdienst der DDR eh nur ein halbiertes Gedächtnis hinterlassen hat, also die Hälfte der Akten im Herbst 1989 physisch vernichtet wurde, ist doch klar, dass die Erschließung dessen, was noch existiert in diesen 15.500 Säcken, umso wichtiger ist. Es darf keinen Täterschutz geben. Der Stopp der Aktenaufarbeitung aber wäre genau das: hochgradiger Täterschutz."
    Entfristungen gefordert
    Derweil registrieren die Stasiunterlagenbehörde und ihre Außenstellen, dass sich viele Menschen erst jetzt - Jahrzehnte nach dem Ende von DDR und MfS - an die wahren Ursachen von Verfolgung, Verletzungen oder Verlusten herantrauen. Der Rechtsausschuss des Bundesrates machte sich kürzlich einen Entschließungsantrag der ostdeutschen Justizminister zu Eigen. Darin wird die Bundesregierung gebeten, "die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Antragsfristen in den Gesetzen zur Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung in der DDR zu schaffen". Es müsse zudem nach 2019 auch möglich sein, Zitat "Repräsentanten der staatlichen Ordnung auf eine Verstrickung in staatlich verübtes Unrecht in der DDR zu überprüfen."