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Zitronen aus Kanada

Bis heute verfolgen ihn die Erinnerungen an das Lager. Sieht er heute einen Frosch, ist es für ihn wieder Sommer - Sommer 1941. Wieder befindet er sich auf einem Feld der KZ-Gärtnerei und will Möhren klauen. Dabei wird er von einem Kapo, einem sogenannten Funktionshäftling erwischt und zum Chef des Gärtnereikommandos gebracht. Dem späteren SS-Hauptscharführer Otto Moll. Sie zwingen den jungen Häftling nun, Abfall vom Komposthaufen zu essen.

Markus Götte | 27.01.1999
    "Nu was soll ich machen, habe ich das mit dem Sand gefressen, aber nachher hat der Kapo ein Frosch gebracht, ah da sagt der Moll, zu die Vitamine bekommst du auch ein bisschen Fleisch. Und soll ich das lebendige Frosch fressen, was soll ich machen, steht der Moll mit Pistole, da fresse ich den lebendigen Frosch." So hat Stanislaw Hantz Karin Graf sein Leben erzählt. Und Karin Graf hat es in ihrem Buch "Zitronen aus Kanada" so aufgeschrieben. Dabei hat sie die Sprache des KZ-Häftlings, sein manchmal schwer verständliches Lagerdeutsch, nicht geglättet oder eingeebnet, sondern ihn oft Wort für Wort zitiert. Ist der Text kursiv gedruckt, spricht Stanislaw Hantz. Ist die Schrift normal, ist es die Autorin. Sie hilft, die Schilderungen des Häftlings einzuordnen, Details zu klären und Personen zu identifizieren. Sie hakt nach, stellt Fragen an ihr Gegenüber, aber auch an sich und die Leser.

    Karin Graf spielt in ihrem Buch mit diesen beiden Perspektiven. Der des Häftlings und ihrer eigenen. Sie läßt den Leser neben sich Platz nehmen, um gemeinsam den Erlebnissen des Überlebenden zu lauschen. So sind ungemein authentische und dichte szenische Darstellungen entstanden. Kein Wunder, daß das gelang, haben Autorin und Häftling doch gemeinsam Episoden aus Auschwitz nachgespielt. "Zum Beispiel als sein Freund Mietek, der ist mal erwischt worden, weil er der SS Würste geklaut hat", erzählt Karin Graf. "Und ich habe das nicht gleich kapiert, die Szene, die er mir erzählt hat, und dann hat er es einfach nachgespielt, plötzlich lag da eine Wurst, natürlich aus Luft, vor seinen Füßen und er hat sich hinter der Wohnzimmerschranktür versteckt, und ich mußte dann den SS-Mann spielen, der ganz forsch da auf ihn zugeht und sagt: ‘Was haben sie da?’. Er spielt den devoten Häftling und erzählt, daß er die gerade da gefunden hat."

    Auf diese Weise sind all die kleinen Erzählungen entstanden, die oft nicht länger als zwei, drei Seiten sind. Szene für Szene stellt die Autorin darin Bezüge vom Gestern zum Heute her - und umgekehrt. Einmal ist es eine Salatschüssel auf dem gedeckten Eßtisch, ein andermal sind es rollende Güterwaggons, die dafür sorgen, daß Stanislaw Hantz im Geiste wieder nach Auschwitz zurückkehrt. Karin Graf erzählt, daß Stanislaw Hantz Brot hortet - weil er immer noch Angst hat zu verhungern. Daß er dem Wort "hinlegen" immer noch ein lautes "Hinlegen, aufstehen, Marsch Marsch" folgen läßt.

    Vier Jahre hat Karin Graf an "Zitronen aus Kanada" gearbeitet. Sie hat unzählige Interviews geführt und ist mit Stanislaw Hantz zu den Orten seines Leidens gefahren. "Weil ich die Frage klären wollte, wie lebt so ein Mensch mit so einer Erfahrung, wie hat er dort gelebt im Konzentrationslager in den Konzentrationslagern, und wie lebt er heute, was hat er von dem Lagerleben in sein Alltag mitgenommen, fünfzig Jahre lang mitgenommen, was ist davon übriggeblieben?"

    Korrespondierend zum Text eröffnen mehr als 50 Bilder eine weitere Betrachtungsmöglichkeit des Überlebenden. Andreas Dahlmeier hat Stanislaw Hantz fotografiert: Wie er wild und ausgelassen gestikulierend in seinem Wohnzimmer erzählt. Wie er in seiner ehemaligen Zelle im Todesblock in sich gekehrt durch die Gitterstäbe ins Nichts starrt. Dahlmeier versucht die unterschiedlichen schmerzhaften Anstrengungen des Erinnerns und Erzählens zu visualisieren. Besonders eindrücklich gelingt ihm dies, bei Aufnahmen auf dem ehemaligen Lagergelände in Auschwitz-Birkenau. Wenn Stanislaw Hantz verzweifelt und etwas ratlos auf einem Feld steht, wo es keine Spuren mehr gibt - nur ein grasgrünes Nichts. Sehr unspektakulär - zumindest für einen einfachen Besucher. Ganz anders ist das aber für den Überlebenden. "Für mich ist das nicht leicht", so Stanislaw Hantz. "Weil ich muß immer zu die alten Zeit wiederkommen und wieder das erleben. Dann bin ich nicht ein Besucher, ich fühle wieder wie ein Häftling. Schaue ich hier von Innen nicht von Außen auf die ganze Leben."

    Auschwitz hält Stanislaw Hantz gefangen - bis heute. Das zeigt Karin Graf auf jeder Seite ihres Buches. Dabei liefert sie interessante neue Einblicke in und Betrachtungsweisen auf ein Leben nach Auschwitz. Über einige ihrer Interpretationen kann man streiten, aber gut, das sind ihre Schlußfolgerungen. Gespeist aus Langzeitbeobachtungen und den unzähligen Gesprächen mit dem Häftling. Es ist ihr Verdienst, sie in so bemerkens- und sehr lesenswerter Weise aufbereitet zu haben.