Samstag, 20. April 2024

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Ziviler Ungehorsam
Extinction Rebellion "auf jeden Fall legitim"

In demokratischen Gesellschaften gebe es eine lange Tradition des zivilen Ungehorsams, sagte der Philosoph Robin Celikates im Dlf. Typisch daran sei, dass er den Gesetzesbruch mit einschließe. Demokratien seien jedoch auf diese Form des Protestes angewiesen, um sich selbst zu regulieren.

Robin Celikates im Gespräch mit Änne Seidel | 09.10.2019
07.10.2019: Aktivisten der Extinction Rebellion werden bei einer Blockade auf der Stadhouderskade vor dem Rijksmuseum in Amsterdam von der Polizei festgenommen.
Manche Anlässe rechtfertigen den zivilen Ungehorsam - welche genau, das ist umstritten (picture alliance / Niels Wenstedt)
Änne Seidel: An der Protestbewegung:"Extinction Rebellion" scheiden sich die Geister: Kritiker sehen in den Blockade-Aktionen einen Angriff auf den Rechtsstaat und die Demokratie. Im Netz kursieren sogar Warnhinweise, sich dieser Bewegung bloß nicht anzuschließen. Andere wiederum feiern die selbsternannten Rebellen als Nachfolger von Figuren wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King, oder ziehen Parallelen zu Philosophen wie Hannah Arendt und Jürgen Habermas. Gandhi, King, Arendt, Habermas, das sind ja große Fußstapfen, in die "Extinction Rebellion" da gestellt wird, sind das angemessene Vergleiche, oder wird diese Bewegung damit völlig überhöht?
Robin Celikates: Zum einen ist es natürlich so, dass es eine lange Tradition des zivilen Ungehorsams gibt, auch in demokratischen oder mehr oder weniger demokratischen Gesellschaften, und in der Tradition hat sich ein bestimmtes Repertoire des Protests herausgebildet, das natürlich Sitzblockaden zum Beispiel auf Straßen und Plätzen, wie etwa gerade in Berlin, umfasst. Das gibt es zum Beispiel seit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Zum anderen gibt es natürlich normative Bezugspunkte und die Diskussion der Frage, ob Protest, der ja einen Gesetzesbruch mit einschließt, denn das ist ja das Spezifische des zivilen Ungehorsams, Legitimität beanspruchen kann. Da kommen natürlich Namen wie Martin Luther King, der für legitimen Protest steht, Hannah Arendt, Jürgen Habermas, die das eher aus theoretischer Perspektive betrachtet haben, in die Diskussion und die, glaube ich, können schon mit guten Gründen belegen, dass ziviler Ungehorsam eine historisch extrem wichtige Rolle gespielt hat bei der Erkämpfung von Rechten, von demokratischen Errungenschaften, die wir heute für gegeben erachten, und dass er auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen wird. Aus dieser Geschichte kann man doch lernen, dass die Demokratie auf diese Form des Protests angewiesen ist, um sich noch demokratischer, noch inklusiver, noch gerechter zu gestalten.
"Protestbewegungen müssen provokant sein"
Seidel: Das sieht manch einer heute mit Blick auf "Extinction Rebellion" allerdings anders. Die Bewegung werfe Rechtsstaat und Demokratie über Bord, habe teils totalitäre, sogar sektenähnliche Züge. Und das sind Bedenken, die auch von linken Stimmen geteilt werden, die den Klimaprotest grundsätzlich begrüßen. Wie erklären Sie sich diese Warnungen?
Celikates: Zunächst hilft auch da eine historische Kontextualisierung. Fast alle Protestbewegungen, auch die, die wir heute für einwandfrei demokratisch und moralisch komplett über jeden Zweifel erhaben erachten, wie zum Beispiel die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, haben in ihrer Zeit natürlich massive Zweifel hervorgerufen und auch massive Abwehrreaktionen. Die wurden auch von moderaten Liberalen als quasi Terroristen verunglimpft, obwohl sie vollkommen gewaltfrei protestiert haben. So etwas wiederholt sich natürlich. Es gibt mächtige Interessen in der Gesellschaft, denen der Klimaprotest natürlich viel zu weit geht. Es gibt Bürgerinnen und Bürger, die am liebsten in Ruhe gelassen werden wollen. Es gibt natürlich Politiker und Politikerinnen, die, von Ignoranz kann man eigentlich gar nicht sprechen, weil die Fakten ja so offensichtlich auch durch die Wissenschaft schon zweifelsfrei nachgewiesen sind, aber die in einer Art von willentlichen Ignoranz diese Befunde ignorieren wollen, beziehungsweise eine Politik des "Weiter so" betreiben. Diese Interessen formieren sich natürlich auch angesichts solcher provokanten Bewegungen. Aber deswegen müssen diese Bewegungen immer auch provokant sein, um die Leute gewissermaßen aus der Indifferenz oder aus der Ignoranz herauszutreiben.
Wenn man sich die Geschichte der Demokratie anschaut, dann, glaube ich, gibt es schon starke Gründe dafür anzunehmen, dass das nicht notwendigerweise gegen die Idee der Demokratie verstößt. Ich würde sagen, die Bewegung ist auf jeden Fall legitim. Ob sie in allen Hinsichten gerechtfertigt ist und moralisch zweifelsfrei, das ist sicherlich dann von den Details abhängig. Aber die grundsätzliche Legitimität dieses Protestes würde ich auf jeden Fall verteidigen.
Klimawandel rechtfertigt Protestaktion
Seidel: Nun legt ja jemand wie Jürgen Habermas zum Beispiel durchaus Wert darauf, dass ziviler Ungehorsam und der Verstoß gegen Gesetze immer eine Ausnahme bleiben müssen. Da stellt sich dann natürlich die Frage: Wann genau sind diese Ausnahmen gerechtfertigt? Würden Sie sagen, der Klimawandel ist grundsätzlich so ein Ausnahmefall, in dem gegen geltendes Recht verstoßen werden darf oder sogar muss?
Celikates: Klar. Man darf natürlich jetzt nicht sofort die Gesetze brechen, wenn einem dies oder das nicht passt. Zum Beispiel kann man sich auch Protestaktionen vorstellen, die einfach darauf abzielen, den Bau einer Autobahn zu verhindern, weil man keine Autobahn durch den eigenen Hintergarten gebaut haben möchte. Das ist durchaus verständlich, aber vielleicht nicht auf die gleiche Art und Weise moralisch rechtfertigbar. Es muss schon um bestimmte Bedrohungen der Demokratie, der Gerechtigkeit, der Grundrechte gehen und um bestimmte Demokratie-Defizite, und ich glaube, diese Bewegung kann in dieser Hinsicht sehr vernünftig argumentieren, dass hier massive Demokratie-Defizite vorliegen, einfach deshalb, weil diejenigen, die am stärksten betroffen sind, nämlich die jüngste Generation, natürlich politisch nicht repräsentiert ist. Insofern bleibt ihnen eigentlich fast nichts anderes übrig, als ihre Stimme auf diese Art und Weise zu Gehör zu bringen.
Ich denke, dass der Klimawandel, und auch da würde ich im Prinzip erst mal auf die Wissenschaft verweisen, die man wirklich in dieser Hinsicht nicht ignorieren darf, glaube ich. Die wissenschaftliche Faktenlage ist ziemlich eindeutig. Das ist ein Problem, das in den nächsten Jahren und Jahrzehnten massiv zunehmen wird, und in dieser Hinsicht bin ich ziemlich überzeugt, dass Habermas, aber auch Martin Luther King, wenn wir ihn noch fragen könnten, denken würde, dass es sich hierbei um ein Problem handelt, das potenziell Einschränkung der Demokratie, der Grund- und Menschenrechte mit sich bringt - heute auch schon zum Teil mit sich bringt, vielleicht in anderen Weltgegenden, aber dennoch -, die eine solche Protestaktion rechtfertigen.
"Gewaltbegriff politisch instrumentalisierbar"
Seidel: Sprechen wir vielleicht noch über die Fragen der Gewaltfreiheit. Auch "Extinction Rebellion" will auf Gewalt verzichten. Die Frage ist allerdings: Wie genau definiert man Gewalt? Der Berliner, der wegen der Blockaden im Stau steht und nicht rechtzeitig zur Arbeit kommt, der empfindet das ja vielleicht auch schon als eine Form von Gewalt. Wo würden Sie da die rote Linie ziehen?
Celikates: Es stimmt tatsächlich, dass der Gewaltbegriff natürlich extrem vage und dementsprechend auch politisch instrumentalisierbar ist. Manchmal wird er weit, manchmal ganz eng gefasst. Ich finde es aber auch hier wiederum wichtig, dass man von Bürgerinnen und Bürgern, auch von Politikerinnen und Politikern und von den Medien erwarten kann, dass sie bestimmte Differenzierungen vornehmen. Natürlich ist es unangenehm und vielleicht auch sehr ärgerlich, wenn man zum Beispiel nicht rechtzeitig zur Arbeit kommt oder den Flieger verpasst, aber das sind keine Formen der Gewaltanwendung. Ich glaube, da muss man schon eine sehr deutliche Linie ziehen. Gewalt liegt dann vor, wenn die physische Integrität einzelner ziemlich massiv verletzt wird.
Insofern liegt die Grenze für mich jedenfalls darin, ob der Angriff auf die physische Integrität anderer vorliegt oder nicht. Das ist hier klarerweise nicht der Fall. Interessanterweise sieht das deutsche Rechtssystem das allerdings etwas anders. Dieses System hat in einer sehr stark auch kritisierten Serie von Gerichtsurteilen befunden, dass auch ein passiver Sitzstreik Gewalt in Form gewaltsamer Nötigung darstellt, und das finde ich schon eine ziemlich kuriose Sichtweise, weil das nicht nur den, sagen wir mal, alltagssprachlichen Intuitionen widerspricht, sondern auch bestimmte lang tradierte Formen des friedlichen Protestes, zum Beispiel die Sitzblockade plötzlich unter gewaltsamen Protest fallen lässt, und das ist eine sehr problematische Entwicklung, finde ich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.