Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Zölibat
Gebt ihn frei!

Ehelos und keusch sollen katholische Priester leben. Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf zeigt in seinem neuen Buch, dass diese Vorschrift weder uralt noch göttlich ist. Er fordert im Dlf ein Ende der Zöllibatspflicht - auch um einen Risikofaktor für sexuellen Missbrauch auszuschalten.

Hubert Wolf im Gespräch mit Christiane Florin | 01.08.2019
Kilian Krug (l) liegt bei seiner Priesterweihe am Samstag (07.07.2012) flach vor dem Altar im Dom von Rottenburg (Kreis Tübingen). Krug ist ein Symbol für den Priestermangel in der katholischen Kirche geworden. Zum ersten Mal in der Geschichte des Bistums Rottenburg-Stuttgart wurde mit ihm in diesem Jahr nur ein einziger Priester geweiht.
Priesterweihe im Dom von Rottenburg. In der katholischen Kirche verpflichten sich Priester auch zum Zölibat. (Marc Herwig / picture alliance / dpa )
Christiane Florin: Ein katholischer Pfarrer aus dem Sauerland hat vor wenigen Tagen sein Amt aufgegeben. In seiner Erklärung schreibt er, die katholische Kirche sei bei den seit Jahrzehnten bekannten Themen nicht weitergekommen. Dazu gehört für den den Priester auch der Zölibat: "Ich halte den Pflichtzölibat für überholt, machtbegründet, menschenunwürdig, krankmachend und empfinde ihn als einen zu starken Eingriff in das Intimleben des Priesters". Nun will sich die katholische Kirche in Deutschland auf einen Synodalen Weg begeben, ein Thema wird die priesterliche Lebensform sein.
Die Diskussion um den Zölibat ist nicht Jahrzehnte alt, sondern Jahrhunderte. Das ist der Horizont, in dem der Kirchenhistoriker Hubert Wolf denkt und forscht. Hubert Wolf lehrt Kirchengeschichte in Münster, er ist Priester, Leibniz-Preisträger - und Autor zahlreicher Bücher. Das jüngste heißt "Zölibat" und hat eine Kontroverse entfacht. Ich habe vor der Sendung mit Hubert Wolf gesprochen. Meine erste Frage an ihn war: Was ist der Zölibat überhaupt?
Hubert Wolf, Autor, Theologe und Kirchenhistoriker
Hubert Wolf, Autor, Theologe und Kirchenhistoriker (imago / Gerhard Leber)
Hubert Wolf: Der Zölibat hat als Begriff eine ziemlich komplizierte Geschichte hinter sich. Also, wir meinen in der Tat immer, es hieße: Ehelosigkeit der Priester. Dabei meint es ursprünglich eine besondere Gnadengabe, also "Eheunfähigkeit" – heißt das eigentlich griechisch – "um des Himmelreiches willen". Hat aber nichts mit einem kirchlichen Amt zu tun. Dann meint Zölibat: Verzicht auf eine zweite Ehe. Also, ein Priester, ein Bischof in der alten Kirche nach den Pastoralbriefen ist ganz selbstverständlich verheiratet, aber er ist nur einmal verheiratet. Zölibat heißt also dann: keine Zweitehe. So, wie es ja heute auch bei den ständigen Diakonen ist, also den verheirateten Diakonen, die, wenn ihre Frau stirbt, nicht wieder heiraten dürfen. Das ist die zweite Bedeutung des Zölibats.
Enthaltsamkeit - zunächst nur sonntags
Die dritte Bedeutung wäre ein Enthaltsamkeitszölibat an den Tagen, an denen Messe gefeiert wird. Da das früher nur sonntags war, gehen also die Pfarrer mit ihren Frauen an den Werktagen ins Bett, am Sonntag aber enthalten sie sich. Dann wird versucht, das Ganze weiter zu verschärfen und zu sagen: Na ja, Priester sind zwar verheiratet, sie sollen sich aber ihren Frauen sexuell enthalten.
Dann kommt die Frage: Sollen sich Priester nicht von ihren Frauen, mit denen sie sakramental verheiratet sind, trennen? Das meint dann Zölibat. Und dann meint Zölibat, ganz am Ende, wahrscheinlich erst ab 1917: Die Ehe ist ein Weihehindernis und die Weihe ist ein Ehehindernis.
Wenn man den Begriff verwendet, müsste man jetzt noch hinzufügen, dass er eigentlich seinen Platz hat im Mönchtum, in der organisierten Askese, wo Frauen und Männer aus den Gemeinden ausziehen, um Christus radikaler nachfolgen zu können. Und diese Mönche und Nonnen sind ursprünglich dezidiert Laien. Sie lehnen es geradezu ab, ein Amt, ein Priesteramt, ein Bischofsamt zu übernehmen.
Florin: Und heute meint es dann aber alles, also keine Ehe, keine Partnerschaft, keine Sexualität – da hat man die gesammelten Vorschriften der Geschichte gebündelt in der heutigen Bedeutung von Zölibat.
Wolf: So ist die heute allgemeine Bedeutung.
"Keine apostolische Anordnung, kein göttliches Gebot"
Florin: Wenn wir auf die Apostel zurückgehen: Apostel Petrus war verheiratet, Paulus dagegen hat die Ehe abgewertet: Die Ehe war seiner Ansicht nach was für Leute, die ihren Trieb nicht im Griff hatten. Die edlere Form war die Ehelosigkeit. Wie ist das also mit der Ehelosigkeit und den Aposteln? Kann man sagen, es geht auf die Apostel zurück?
Wolf: Der Zölibat ist keine apostolische Anordnung. Er ist auch kein Gesetz Christi und er ist damit auch kein göttliches Gebot. Denn, wenn es so wäre, dann wäre die Kirche ja gezwungen gewesen, von ihrer Kontinuitätsfiktion her zu sagen, wenn die Apostel das gelebt und angeordnet haben, dann müsste es von Anfang an gelten – was ja so nicht ist. Wenn man ins Neue Testament hineinschaut, dann muss man auch bei Paulus differenzieren. Paulus sagt zwar: "Ich wollte, es wären alles so wie ich", nämlich ehelos. Aber es gibt auch Apostel, die auf den Missionsreisen, so, wie der Petrus, von ihren Frauen begleitet sind. Dann dürfte auch nicht in dem Anforderungsprofil für einen Bischof und einen Priester in den Pastoralbriefen, also bei Titus und Timotheus, stehen: "Der Bischof, der Priester soll einer Frau Mann sein." Denn wie sollte jemand, der seinem eigenen Hausstand nicht vorstehen kann, der seine Kinder nicht in Anstand erziehen kann, wie sollte der der Kirche Gottes vorstehen können?
Es gibt keine neutestamentliche Anweisung für den Zölibat und es gibt vor allem zwar eine Hochschätzung des ehelosen Lebens um des Himmelsreiches willen, aber keine Bedingung, kein Junktim, keine Verbindung mit dem Vorsteherdienst in einer Gemeinde.
Florin: Aber es gibt zumindest den Gedanken, dass man dem Himmelreich näher ist, wenn man als Mann keine Frau an seiner Seite hat.
Wolf: Das ist eine Richtung. Aber wie gesagt, nur eine. Wenn man die exegetischen Studien liest, dann muss man feststellen, dass die meisten Exegeten sagen, dass hier der Paulus, der ja aus dem griechisch-hellenistischen Bereich kommt, dass der hier bereits asketische Gedankengänge einbringt, die in der Stoa und im Hellenismus weit verbreitet waren. Jetzt ist es aber so, bei den Stoikern, da isst man keine Tiere. Man trinkt keinen Wein. Man fastet. Man hat ausreichend Zeit für Meditation. Man enthält sich der Sexualität. Da ist das ein ganzes Setting von asketischen Vollzügen. Das wird jetzt so im Laufe der Zeit immer nur auf dieses eine, nämlich auf das Thema der Sexualität, reduziert.
Florin: Was sagt das über Sexualität oder über das Bild von Sexualität im Christentum?
Wolf: Sagen wir nicht im Christentum, sondern sagen wir lieber in der Form des Christentums, die durch die Begegnung mit dem Hellenismus und vor allem durch die Prägung durch den Heiligen Augustinus, dezidiert negativ wird, also ein sehr pessimistisches Menschenbild. Augustinus geht ja so weit und sagt: Na ja, Sexualität ist prinzipiell schlecht. Es ist im Grund nur erlaubt, Sexualität überhaupt auszuüben in der Ehe und auch dort nur zu dem Zweck der Erzeugung und Erziehung von Nachkommen. Das ist dieses sehr negative Bild von Sexualität, was die kirchliche Tradition lange dominiert hat, aber durch das zweite Vatikanum und vor allem auch durch Johannes Paul II. grundlegend korrigiert worden ist. Wenn jetzt die Ehe ein Abbild des Bundes Christi mit seiner Kirche ist, dann kann Sexualität in der Ehe ja nichts Schlechtes sein. Dann kann auch Ehe nicht mehr gegen den Zölibat angeführt werden.
Das Prozesshafte, das Ambivalente, das Unklare
Florin: Auf Johannes Paul II. möchte ich gleich noch zu sprechen kommen. Ich möchte noch einmal zurück in die etwas frühere Geschichte, und zwar ins Jahr 1139. Das gilt gemeinhin als zentral beim Thema Zölibat, denn da bestimmte das Zweite Laterankonzil, dass Geistliche, die heiraten, ihr Amt und ihren Besitz verlieren. Jetzt schreiben Sie, dieses Jahr sei zwar nicht unwichtig, aber es sei gar nicht dieser Einschnitt gewesen oder habe gar nicht diese Klarheit gebracht, die man ihm zuschreibt. Wie kommen Sie darauf?
Wolf: Na, ich komme vor allem darauf, weil ich mich beschäftigt habe mit der Entstehung des Codex Iuris Canonici, des kirchlichen Gesetzbuches von 1917. Es gab verschiedene Entwürfe für dieses Gesetzbuch. Im ersten Entwurf steht drin: Wie gehen wir eigentlich um mit dem Vir Uxoratus, also mit dem verheirateten Mann, der um die Weihe bittet? Wenn also jetzt 1139 so zu verstehen wäre, wie man es immer versteht, dann dürfte man doch nicht in Rom am Beginn des 20. Jahrhunderts sagen: Es ist eigentlich klar, dass ein verheirateter Mann um die Weihe bitten kann. Das war doch, wie wir es immer gelernt haben, 1139 durchs Laterankonzil ausgeschlossen.
Dann gibt es (vor 1917) eine Diskussion und die Diskussion heißt so: Ja, das sei schwierig und deshalb sei es doch am besten, man würde, indem man sich von dieser Tradition verabschiedet, das Thema des verheirateten Mannes, der um die Weihe bittet, rausstreichen. Und tatsächlich ist es dann im Codex in der Endfassung des kirchlichen Gesetzbuches nicht mehr drin. Wenn man 1917 noch von einem verheirateten Mann ausgeht, in Rom, der um die Weihe bittet und hinterher sagen muss, es sei ein Bruch mit der Tradition, wenn man es rausstreicht: Das macht den Historiker doch skeptisch, muss ihn skeptisch machen.
Florin: Sie betonen in vielen Ihrer Bücher, auch in dem Buch "Krypta" das Prozesshafte, das Ambivalente, das Unklare. Sie zeigen, wie viel man eigentlich aus der Kirchengeschichte nicht weiß. Sie zeigen, es gibt kein "schon immer war es so". Nun hat kürzlich Kardinal Brandmüller in der "FAZ" sich zu Wort gemeldet und behauptet, der Zölibat stehe in apostolischer Tradition. Das haben Sie gerade schon ausgeräumt. Es sie die Lebensform Jesu und damit auch immer schon da. Und Ihnen hat er vorgeworfen, unter dem Einfluss von Adrenalin zu stehen.
Adrenalin bewirkt eine Herzfrequenzsteigerung, eine Blutgefäßverengung, einen Blutdruckanstieg. Wie steht es um Ihren Blutdruck?
Wolf: Ich leide eher unter einem niederen Blutdruck und habe deshalb relativ häufig Probleme, vor allem, wenn das Wetter warm wird, weil dann mein Blutdruck oben unter 100 runter geht.
"Auch ein Kardinal muss die Lehre ernst nehmen"
Florin: Und wie steht es um die Streitkultur in der Katholischen Kirche, wenn Hormonspekulationen Argumenten und historischen Befunden entgegengesetzt werden?
Wolf: Was habe ich eigentlich gemacht? Ich habe die Forschung zusammengefasst, sehr präzise, mich auf die Schultern ganz vieler Kolleginnen und Kollegen gestellt und ein Thesenbuch formuliert. Und habe in der ersten These geschrieben: Wenn jemand Thesen vertritt, dann ist er bereit, diese Thesen mit Argumenten zu verteidigen. Kein dogmatisches Lehrbuch geschrieben, sondern dazu aufgefordert, darüber mit mir zu diskutieren, ob es inhaltliche Punkte gibt, in denen ich richtig liege und in denen ich möglicherweise auch falsch liege.
Nun hat Herr Brandmüller ausdrücklich in der "FAZ" auch geschrieben, dass er sich nicht mit meinen 16 Thesen im Einzelnen auseinandersetzen will, sondern er hat diese typische Ablenkungsstrategie vorgenommen: Na ja, der Autor ist adrenalingesteuert. Dann kommt natürlich noch: Er kann historisch kritisch nicht richtig arbeiten, weil er zum Beispiel einzelne Bücher nicht gelesen hat. Stimmt nicht. Drei von den Büchern, von denen Brandmüller sagt, ich hätte sie nicht gelesen
Florin: Die werden ja zitiert...
Wolf: … werden ausdrücklich zitiert. Das ist so die Form von Diskussionskultur, die man eigentlich dezidiert nicht braucht, sondern, wenn Brandmüller Argumente hat, soll er doch die Argumente auf den Tisch legen zu jeder einzelnen These. Wenn ich in einer These bessere Argumente höre, bin ich doch selbstverständlich als Wissenschaftler, als Kirchenhistoriker bereit, diese Argumente zu prüfen und möglicherweise meine Position zu modifizieren. Das ist doch genau der Witz von wissenschaftlichen und von historischen Arbeiten, zumal wir sagen: Thesen fordern zu Gegenthesen auf. Hoffentlich kommt eine elaborierte Diskussion zustande.
Ich bin kein Dogmatiker und um eine dogmatische Frage geht es ja, wie gesagt, auch gar nicht. Deshalb sagt ja das zweite vatikanische Konzil, was Brandmüller ja auch eigentlich in Zweifel zieht mit seiner Formulierung, es sei halt zwar kein Dogma, aber doch ein Dogma: Wenn da steht, der Zölibat gehört nicht zum Wesen des Priestertums, weil wir in der Geschichte auch in der alten Kirche sowohl verheiratete wie auch zölibatär lebende Priester haben, dann muss auch ein Kardinal die Lehre der katholischen Kirche, wie sie im Zweiten Vatikan formuliert ist, schlicht ernst nehmen.
"Recht auf Eucharistie versus Kirchengesetz"
Florin: Vor zwei Wochen war Ihr Kollege, auch Theologe an der Universität Münster, Dogmatiker, Michael Seewald, hier im Interview und er sagte, der hoffe, dass das Lehramt eines Tages, vielleicht eines nicht allzu fernen Tages, weniger auf die Macht setze, also auf die Tatsache, dass dogmatische Setzungen als wahr verkündet werden, sondern aufs Argument. Sie haben diese Hoffnung auch geäußert, dass nicht immer gilt, oben sticht unten, sondern dass der sich durchsetze, der das bessere Argument hat. Aber worauf gründet diese Hoffnung?
Wolf: Der Kollege Seewald hat ja eine grundsätzliche Infragestellung der autoritativen Ansprüche des Lehramts formuliert. Das tue ich gar nicht. Meine Argumentationsstruktur ist eigentlich lehramtsinterner und eigentlich viel einfacher. Ich habe ja Argumente des Lehramts selber verwendet für meine These. Nämlich das Lehramt sagt: Die Eucharistie ist Quelle und Höhepunkt des kirchlichen Lebens und jeder Gläubige hat ein Recht auf die Feier der Eucharistie. Dann habe ich gesagt: So, wenn das so ist, weil das ein Gebot Christi ist, wie mir das Lehramt ja selber sagt, mit guten Argumenten, dann frage ich mich, ob das Lehramt und die Hirten dann nicht eine Pflicht und Schuldigkeit haben, den Gläubigen genau diese Quelle und diesen Höhepunkt ihres Lebens zu ermöglichen, indem sie dafür sorgen, dass es genügend geeignete Priester gibt.
Wenn das Lehramt gleichzeitig sagt, dass der Zölibat kein Dogma ist, sondern ein bloßes Kirchengesetz, dann kann in einer Güterabwägung mit Argumenten des Lehramts, nicht gegen das Lehramt, doch eigentlich relativ klar nur rauskommen, dass das Gebot Christi regelmäßig Eucharistie zu feiern, wesentlich wichtiger ist als ein Kirchengesetz, das erst im 20. Jahrhundert endgültig entstanden ist. Kirchengesetze kann man ändern.
Florin: Vor mir liegt eine alte Ausgabe des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" vom 18. Oktober 1971. Die Titelgeschichte hieß damals: "Priester – Beruf ohne Zukunft?" Darin wird beschrieben, dass Priester fehlen, dass sich unter den Priestern eine Opposition formiert, dass es da besonders auch um das Thema Zölibat geht, also, dass diese Opposition, dass das Priester sind, die verheiratet sein möchten. Das ist jetzt fast 50 Jahre her. Den Zölibat gibt es immer noch und er wurde danach von Päpsten – Paul VI., Johannes Paul II., Benedikt XVI. – entschieden verteidigt. Warum, glauben Sie, ändert sich jetzt etwas durch Argumente?
Wolf: Also, ob ich glaube, dass sich was ändert, da habe ich ja in meinem Buch in der letzten These eine gewisse Skepsis.
Florin: Aber Sie haben es ja geschrieben, denke ich mal, nicht ohne eine gewisse Hoffnung.
"Risikofaktor für Missbrauch muss auf den Prüfstand"
Wolf: Genau. Also, ich glaube, dass die Situation 1968/1971 in der Tat schon ähnlich war wie die heutige, aber die heutige Situation ist natürlich um Stufen dramatischer. Die Krise hat die Kerngemeinden erreicht. Durch die Missbrauchsdiskussion sind wir in einer Situation, die mit 1971 in gar keiner Weise zu vergleichen ist. Und ganz ehrlich, wenn alle Studien sagen, der Zölibat ist nicht die Ursache, aber ein entscheidender Risikofaktor für den Missbrauch, wenn dann dieser Risikofaktor nicht zur Disposition gestellt wird, was sind dann all diese Beteuerungen der Bischöfe wert, dass man die Opfer ernstnehmen, und dass man die ganze Sache aufarbeiten wolle? Nein, man muss diesen Risikofaktor auf den Prüfstand stellen. Das ist ein ganz anderes Feld. Und ich glaube auch, es gibt die Amazonas-Synode. Die gibt es im Oktober.
Ich habe dieses Buch eigentlich nur geschrieben, weil ich vor zwei Jahren von Bischöfen und Laien aus Brasilien gebeten worden bin, ihnen historisch nachzuweisen, dass man den Zölibat abschaffen könnte, dass man es freistellen könnte, dass das eine Option ist für diese Synode und man sich dabei nicht gegen die Lehre und die Tradition der Kirche stellt. In Amazonien, ehrlich: 20 Millionen Katholiken, 800 Pfarreien, 17 Priester in einer Diözese, dass das nicht funktionieren kann, dass da nicht Eucharistie gefeiert werden kann, das steht doch außer Frage. Das ist für mich Hoffnung, wenn es überhaupt eine gibt.
"Das männerbündische System würde sich ändern"
Florin: Sie sind selbst auch Priester. Als Sie 1985 geweiht wurden, das war im Pontifikat von Johannes Paul II., was dachten Sie damals über den Zölibat?
Wolf: Also, ich war nie ein Zölibats-Enthusiast. Das Thema hat sich für mich so gestellt, dass ich gesagt habe: Na ja, ich will Priester werden und diese Lebensform hat sich zunächst jetzt nicht als ein Problem erwiesen, auch später nicht. Aber die Konzentration auf meine eigene Befindlichkeit ist gar nicht das Thema. Ich kann selber durchaus sagen, Zölibat ist eine Lebensform, die sinnvoll ist, aber die einfach in der Gesamtkonstellation der Kirche nicht weiter überzeugt, weil es im Grunde die Zukunftsfähigkeit der Kirche außer Kraft setzt.
Florin: Es gab eine Befragung von Seelsorgern, eine Seelsorger-Studie. Sie ist 2015 erschienen. Das waren 8.600 Befragte und davon 4.200 Priester. Ein Drittel der Priester gab an, dass sich der Zölibat belastend auf ihren Dienst auswirkt und ein Viertel sagte, wenn man es heute noch mal zu entscheiden hätte, dann würden sie sich nicht mehr für diese zölibatäre Lebensform entscheiden. Daraus kann man aber auch folgern, dass zwei Drittel den Zölibat als nicht belastend empfinden. Also, was wäre besser, wenn der Zölibat nicht Pflicht wäre?
Wolf: Es gibt eine Berufung zum Priestertum und es gibt eine Berufung zum Zölibat. Wenn die beiden Dinge zusammenfallen, ist es so. Aber warum sollte die Wahl nicht frei sein? Und dann würde auch dieses männerbündische klerikale System ein anderes werden. Ich meine, es ist ja eine männerbündische Gruppe, die aufeinander zurückgeworfen ist. Wenn ich an mein Studium denke, natürlich hat die Gruppe der Priesteramtskandidaten versucht, bestimmte Dinge halt zu regeln. Wenn jetzt da ein Alkoholiker drunter war, hat man irgendwie versucht, dass das nicht nach außen kam. Also, das ist so ein typisches männerbündisches Verhalten.
Stellen wir uns mal vor, es gibt da drin verheiratete Männer, es gibt Priesterfrauen, es gibt Kinder, es gibt andere Sozialkontakte nach außen, automatisch, dann würde sich das System schon ändern. Es ist ein einziger Baustein, der zeigen würde: Das System ist überhaupt reformierbar. Dann geht es aber weiter. Was ist mit der Rolle der Frauen? Was ist mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit? Was ist mit dem Umgang mit Homosexuellen und Homosexualität generell? Wir könnten eine ganze Liste jetzt aufmachen. Da ist Zölibat nur ein einziger Punkt.
"Striktes Gehorsamssystem"
Florin: Eine Ihrer 16 Thesen befasst sich mit der Macht, die durch den Zölibat ausgeübt wird. Worin besteht diese Macht?
Wolf: Wenn ich jetzt an meine eigene Zeit denke: Man wird einfach irgendwo hingeschickt. Der Bischof entscheidet: Ich brauche dich jetzt da. Ich habe dir zwar versprochen, dass du nach Tübingen gehst, um zu promovieren. Das gilt aber jetzt nicht mehr. Ich brauche dich jetzt irgendwo auf dem Land. Da treibst du jetzt fünf Gemeinden um. Dann kriegst du dort ein Einzelzimmer und hast nicht mal eine eigene Toilette. Das juckt aber niemanden, weil das innerhalb des Systems so ist. Das ist ein striktes Gehorsamssystem. Hierarchie von oben nach unten. Und natürlich grenzt sich wiederum die Machtgruppe, also die Kleriker, die grenzen sich natürlich wieder von den Laien ab, denn die Laien sind ja lehramtlich gesehen nur blökende Schafe, die im Gehorsam den Hirten folgen.
Florin: Wäre die Freistellung des Zölibats mit einem Machtverzicht verbunden für die Kirchenleitung?
Wolf: Ich glaube, dass dies der Fall wäre, und dass es eine andere Kultur der Diskussion und des Umgangs wenigstens anfanghaft grundlegt. Aber noch mal: Der Zölibat ist nur ein winziger Baustein, allenfalls ein Symbol. Wenn man wirklich was ändern will, muss man viel grundsätzlicher ansetzen. Und ich habe ehrlich gesagt die Angst, dass es halt wieder so geht wie 1970, als wir auch einen Prozess hatten, der dann in der Würzburger Synode endete, wo man am Anfang gesagt hat, wir reden jetzt über den Zölibat und wir reden jetzt über Verwaltungsgerichtsbarkeit. Und was war? Am Ende durfte man auf der Synode gar nicht über den Zölibat diskutieren, weil die Bischöfe gesagt haben: Veto.
Florin: Warum ist das so? Sie haben vorhin die MHG-Studie erwähnt, die einen Zusammenhang zwischen sexualisierter Gewalt und dem Zölibat herstellt. Nicht in einem direkten Sinne, sondern eher in dem Sinne, diese Lebensform zieht sexuell unreife Männer an, Männer, die sich nie mit dem Thema Sexualität auseinandergesetzt haben, die glauben, da etwas wegdrücken zu können. Die australische Studie zu sexualisierter Gewalt kommt zum gleichen Befund. Warum ist die Reaktion nicht: Verdammt noch mal, wir müssen diesen Risikofaktor ausschalten. Warum wird da an etwas so festgehalten, wie Sie es jetzt auch gerade beschrieben haben?
Wolf: Also, Entschuldigung, fragen Sie doch da bitte diejenigen, die die Verantwortung dafür tragen.
Florin: Ja, Sie setzen sich ja schon lange mit dieser Institution auseinander.
Wolf: Na ja, aber fragen Sie mal die Hirten.
Florin: Davon bestreiten ja einige diesen Zusammenhang.
Wolf: Ja, in der Studie, die sie selber beauftragt haben, steht es drin. In anderen Studien steht es eben auch drin. Und, wenn sie bestreiten, okay, dann sollen sie Argumente dafür vorlegen. Dann sollen sie wirklich Argumente vorlegen, dass es diesen Zusammenhang nicht gibt, und dass ihre eigene Studie irrt. Ich bin ja selber als Historiker kein Psychologe. Ich stütze mich auf diese Studien. Die australische Studie, die ja staatliche Studie ist, ist noch viel schärfer als die von der Kirche in Auftrag gegebene Studie. Die sagen ja ganz klar: Forderung an die Bischöfe: Zölibat aufheben. Und ich meine, wenn die Bischöfe zu der von ihnen selber finanzierten Studie nicht stehen, spricht das ja auch Bände. Wir haben ja jetzt in diesem – wie heißt es – synodalen Weg, also der Begriff ist schon schwierig, denn "synodos" heißt ja schon "gemeinsamer Weg". Also, in diesem "gemeinsamen Weg"-Weg haben wir ja ein Thema. Das heißt Zölibat. Also, offenbar …
Florin: Priesterliche Lebensform heißt das. Es heißt eben nicht Zölibat.
Wolf: Ja, priesterliche Lebensform. Dann muss das doch … darüber diskutiert werden und dann sind …
"Hoffnung des Wissenschaftlers in mir"
Florin: Was wäre da Ihr Wunschergebnis?
Wolf: Mein Wunschergebnis wäre erst, dass die Amazonas-Synode die Möglichkeit verheirateter Priester für die Kirche in Amazonien aufmacht. Damit wäre es ortskirchlich möglich. Die Kompetenz wäre dann bei den Bischöfen. Dann müsste man in Deutschland genau nach Prüfung der Dinge zu einem ähnlichen Ergebnis kommen. Dann können die Bischöfe nämlich nicht noch wieder sagen: Na ja, ich würde ja vielleicht gerne, aber die in Rom. Sondern dann müssen die selber die Verantwortung übernehmen und müssen ihren Gemeinden entgegentreten und müssen sagen: "Nein, wir wollen den Risikofaktor nicht beseitigen. Wir wollen euch auch weiter keine Pfarrer schicken. Das ist ja völlig wurscht." Vielleicht kann man sich ja dann auch auf den heiligen Rest konzentrieren und die Menschen sind uns nicht mehr so wichtig.
Florin: Aber, wenn ich mir die Papst-Worte zum Zölibat anschaue von Paul VI., von Johannes Paul II., also der zölibatär lebende Mann, der ein engelsgleiches Wesen ist, der in ungeahnter Weise Gott und dem Himmel nahekommt, wie eben keiner, der anders lebt, dann ist es doch ganz schwer zu sagen: So, da haben wir uns vergallopiert, da haben wir eine Lebensform überhöht, wir haben uns vertan. Das kann doch nur mit einem Autoritätsverlust (des Lehramtes) verbunden sein, das zuzugeben und jetzt etwas zu ändern.
Wolf: Es stimmt, was Sie sagen. Gleichzeitig stimmt es auch, dass Johannes Paul II. in dem Kirchenrecht für die katholischen Ostkirchen mit großer Hochachtung von den verheirateten Priestern in unserer eigenen katholischen ostkirchlichen Tradition spricht. Also, im Grunde ändern wir ja gar nichts. Wir haben verheiratete Priester ganz selbstverständlich in den katholischen Ostkirchen. Und ich frage mich immer, warum evangelische Pfarrer, wenn sie zum Katholizismus konvertieren, bevor sie dann geweiht werden, warum sie dann ganz selbstverständlich vom Zölibat dispensiert werden. Also, auch da haben wir schon eine seit 60 Jahren geübte Praxis. Es ist gar kein Bruch. Diejenigen, die von einem Bruch sprechen, die nehmen unsere katholische Tradition nicht ernst und stehen nicht in der Tradition.
Florin: Ein Kollege von Ihnen, der Kirchenhistoriker und Priester Georg Denzler hat in den 70er-Jahren geheiratet und er hat andere dazu aufgerufen, andere Priester, es ihm gleichzutun. Protest durch Massenhochzeit sozusagen. Was halten Sie davon?
Wolf: Wenn Georg Denzler das als seine Lösung angesehen hat, ist das seine Lösung. Meine Lösung ist es nicht. Meine Lösung sind Argumente, die Hoffnung darauf, dass in einem vernünftigen Diskurs in unserer Kirche am Ende Argumente, und wenn es sogar Argumente des Lehramts selber sind, die Möglichkeit haben, sich durch die Kraft des Arguments durchzusetzen. Das ist die Hoffnung des Wissenschaftlers in mir.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hubert Wolf: Zölibat. 16 Thesen. München, C.H. Beck 2019. 190 Seiten, 14,95 Euro.