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Zoom-Premiere am Residenztheater
Superspreader als Superstar

Ein durchgeknalllter Unternehmensberater entwickelt in der Corona-Pandemie Allmachtsphantasien, träumt von Rache und Superinfektionen. Das neue Theaterstück "Superspreader" des Lyrikers Albert Ostermeier feierte seine Premiere auf Zoom - thematisch und ästhetisch auf der Höhe der Zeit.

Von Sven Ricklefs | 02.12.2020
Der Schauspieler Florian Jahr spielt den Unternehmensberater Marcel in Albert Ostermaiers Zoom-Theaterstück "Superspreader" / Residenz Theater in München, Dezember 2020
Ein Mann träumt im neuen Stück von Albert Ostermeier davon als Superspreader um die Welt zu reisen (® Residenztheater)
Wir werden nie so ganz genau erfahren, wer er wirklich ist, der einem da in dieser Zoomkonferenz gegenübertritt, und den wir in seinem scheußlich kargen Zimmer mit den schrecklichen Gardinen beim Monologisieren beobachten können: Er, der sich Marcel nennen lassen will, weil ihm der Klang des Namens so gut gefällt. Er, der sich ein Leben als Unternehmensberater ausspinnt, dessen Aufgabe darin bestand, Mitarbeiter wie Pickel von Firmenantlitzen zu entfernen, um Unternehmen für die Börse auf zu hübschen. Und: Er, der dabei um die ganze Welt reiste, um diese Welt als eine Art pandemischer Engel und Patient '"Null" gründlich mit dem Virus zu durchseuchen:
"Wissen Sie die Wissenschaft sucht eindeutige Antworten auf diese Krise, und ich versichere Ihnen, ich bin die Antwort, eindeutig. Alles geht und ging von mir aus. Ich bin der Anfang und das Ende."
Erniedrigt und beleidigt
Ob all dies einer Realität entspricht, oder ob die Sprachkaskaden nicht vielmehr aus den Fieberträumen eines in einem apokalyptischen Bunker Gestrandeten entspringen, lässt Albert Ostermaiers "Superspreader" offen. Und doch legt der Text, der seiner Figur eine Kindheit geprägt von Missbrauch und ein Leben in Ablehnung verpasst, seine Spuren aus, die in den Rachegelüsten eines Erniedrigten und Beleidigten münden:
"Die Welt liegt in meinem Rachen. Mein Rachen ist meine Rache. Ich brauche keinen Selbstmordgürtel, ich mache nur den Mund auf, und es knallt. Ich huste und die Raketen starten. Sie sehen mich hier, aber ich bin längst überall. Ich bin vielleicht zeitlich begrenzt, aber ich bin räumlich unbegrenzt. Das gab es noch nie vor mir. Die Welt, die ganze Welt, DAS BIN ICH."
Apokalyptische Abgründe
Mit der sprachlichen Genauigkeit des Lyrikers mäandert Albert Ostermaiers Monolog durch die apokalyptischen Abgründe unserer Gegenwart, die sich durch die Schlaglichter, die die gegenwärtige Pandemie wirft, auf eigentümliche Weise aufgrellen lassen. Sei es das ferne Grauen chinesischer Wildtiermärkte oder das nahe Grauen unsere hiesigen Schlachtbetriebe. Sei es das erschreckende Panorama der dahinsterbenden Pandemieintensivpatienten oder dasjenige der menschlichen Kollateralschäden moderner Unternehmensoptimierungen. Dabei weiß Ostermaier geschickt die Kippschalter der Sprache zu bedienen, um immer wieder ihre Doppeldeutigkeit auszuloten.
"Ich bin die Primärinfektion. Und jetzt noch eins drauf: die Superinfektion. Der Superspreader. Ich, ein Superstar. Bei mir ist zero tolerance. Ich bin das Nullsummenspiel. Die Null und das Nichts. Nichts ist offensichtlicher als das. Die Null gewinnt. Ich gewinne!"
Verbindung zwischen Spieler und Publikum
In der Zoom-Produktion des Münchner Residenztheaters spielt Florian Jahr diese Null, diesen Superspreader, der sich zum Superstar eines Endzeitspiels aufmandelt. Dabei rückt er seinem fünfzehnköpfigen Publikum, das zusammen mit ihm im aufgesplitteten Zoombildschirm jederzeit und für alle sichtbar präsent ist, immer wieder fast unangenehm nah, um sich dann wieder in die Ecken seines unwirtlichen Zimmers zu verziehen.
Mit diesem behutsam von Regisseurin Nora Schlocker in Szene gesetzten Spiel von Nähe und Distanz gelingt es dem Schauspieler schnell in den Bann des ostermaierischen Textes zu ziehen. Dabei stellt sich trotz des virtuellen Abstands zugleich eine ganz eigentümliche Verbindung her - zwischen ihm, dem Spieler und uns, dem Publikum, aber auch zwischen den Zuschauern untereinander, da jeder jederzeit zum Objekt der Betrachtung werden kann. Und so zeigt sich "Superspreader" von Albert Ostermaier am Münchner Residenztheater sowohl thematisch als auch ästhetisch ganz auf der Höhe unserer Gegenwart.