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Zu spät

Wenn Familie Delbast ans Meer fährt, gehört der Strand fast ganz ihr allein. Denn es ist eine große Familie: Vater, Mutter, sechs Kinder und Maria, die spanische Haushaltshilfe. Vater zückt die Kamera: Alle sollen aufs Bild. Aber was ist das? Er zählt nach. Da fehlt jemand. Die kleinste, jüngste hat sich davon gemacht.

Brigitte Neumann | 27.01.2004
    Nummer Sechs ist die Geschichte eines Mädchens, das nie auf irgendeinem Familienfoto abgebildet ist. Auch später nicht. Denn es gehört nicht dazu.
    Aber was hat es getan, um das Schicksal einer Unsichtbaren zu verdienen? Nichts. Nur, dass es ein Unfall ist, ein Nachzügler. Als es geboren wird, ist schon nichts mehr übrig. Die Eltern haben den ersten fünf Kindern alles gegeben. Für Nummer Sechs , wie M. Delbast, der Vater, seine letztgeborene nennt, gibt’s keine Liebe mehr und noch nicht mal Aufmerksamkeit.

    Trotzdem: Fanny kämpft verzweifelt ihr Leben lang darum, dass dieser Mann sie ein Mal sieht. Schließlich kümmert er sich als Arzt auch um unzählige Patienten, er liebt es zu singen und hört als leidenschaftlicher Katholik mindestens jeden Sonntag das Wort von der Nächstenliebe. Aber ihre Hoffnung wird immer enttäuscht. Erst als die anderen Geschwister das Interesse an dem Vater verlieren, nämlich als es bei ihm ans Sterben geht, bekommt Fanny eine Chance. Sie nimmt ihn zu sich. Aber wie es scheint ist es nun zu spät, denn der alte Mann hat sich bereits in sich selbst zurückgezogen.

    Véronique Olmis zweiter Roman ist ein auf hundert Papierseiten kondensierter markerschütternder Schrei nach Liebe. Und die Geschichte des Opfers, das dem Täter in einer absurden, selbstverletzenden Weise eng verbunden bleibt, weil er sich tief in dessen Seele eingegraben hat...
    Véronique Olmi:

    Ich glaube, dass Kinder, die von ihren Eltern nicht geliebt wurden, sich nie von diesem Schlag erholen. Am besten ist es, Eltern zu haben, die ihr Kind so sehr lieben, dass sie ihm sogar erlauben können zu gehen wenn es Zeit ist. Um später als jemand anderes wiederzukommen. Und es ist wahr, von Eltern, die nie wirklich ihre Rolle erfüllt haben, bleibt man abhängiger als von guten Eltern. Außerdem: Liebe, die nicht erwiedert wird, verwandelt sich nicht selten in Hass. Was kein Ausweg ist, denn dies ist nur eine andere Form von Liebe. Frustrierte Liebe.

    Aber Fanny hasst ihren Vater nie. Höchstens manchmal sich selbst.
    Sachlich und um Objektivität bemüht - so als würde sie über das Schicksal einer anderen berichten - schreibt sie in einem Brief an den Vater, wie es gewesen war, in der dauernden Enttäuschung zu leben, für ihn, den geliebten vergötterten Menschen ein Nichts zu sein.

    "Ich werfe Dir nichts vor. Ich erinnere mich.", schreibt Fanny.
    Ähnlich heißt es auch in einem knapp hundert Jahre zuvor verfassten Brief an den Vater, nämlich in dem von Franz Kafka: "... wobei ich Dich aber immerfort bitte, nicht zu vergessen, dass ich niemals im entferntesten an eine Schuld Deinerseits glaube." Und tatsächlich sind beide Autoren voller Verständnis dafür, dass eine große Belastung mit dem Patriarch-Sein verbunden sein muss. Patriarchen haben eisern zu sein. Streng. Weichheit zöge womöglich andere Schwächen nach sich. Vielleicht deshalb wollen beide Väter sich ihre jeweils kränkelden Kinder vom Leib halten.

    Die 41-jährige Véronique Olmi ist in Aix-en-Provence geboren und wohnt heute wenige Kilometer weiter in Arles. Auch sie ist wie ihre Hauptfigur Fanny in einer katholischen gutbürgerlichen Familie großgeworden. Auch sie war Kind Nummer Sechs . Ihr neuer Roman ist also eine autobiographisch gefärbte Geschichte. Paule Constant, ebenfalls eine Romanautorin aus der Provence mit einem ähnlichen familiären Hintergrund, hat einmal gesagt: "Für eine Familie gibt es nichts Schlimmeres als einen Schriftsteller in ihren Reihen zu haben". Dazu Vèronique Olmi:

    Sie hat Recht. Ich für meinen Teil würde mich nicht freuen, wenn eines meiner Kinder Schriftsteller werden würde. Denn ich weiß z.B. dass mein Vater verletzt ist über das was ich schreibe. Mein Mann auch, wenn es in den Stücken manchmal gegen die Ehe geht. Was der große Rest der Familie über mich denkt, ist mir allerdings egal. Aber für mich gibt es nichts Interessanteres als die Familie: Alles, was in diesem Mikrokosmos passiert, wiederholt sich im größeren Maßstab auf gesellschaftlicher Ebene.

    Véronique Olmi, die noch vor einem Jahr, nach Erscheinen ihres weithin anerkannten Romandebuts MEERESRAND, sagte, Romane schreiben sei viel leichter als Bühnenstücke, dementiert heute vehement.

    Ich hatte Angst, Nummer Sechs anzufangen. Denn "Meeresrand" hat ziemlich gute Kritiken bekommen. Aber genau deshalb hatte ich einfach Angst vor den Erwartungen, dass man von mir weiterhin Bücher wollte, die von einem in sich schon sehr sehr starken Thema handeln. Ich fühlte mich ein bisschen unter Druck, mich selbst überbieten zu müssen. Was ist schon ergreifender als Kindsmord? Nichts. Also musste ich grundsätzlich neu anfangen und nicht mehr an meinen ersten Erfolg denken.

    Noch einmal neu anfangen beim gleichen Thema, bei der Familie. "Es gibt nichts Verrückteres als die Familie" steht – vielleicht anstelle eines Vorworts – im Buch der Stücke von Véronique Olmi. Und nichts wichtigeres. Das weiß am allerbesten das Mädchen, dessen Name der Vater ständig vergisst und die deshalb alle
    Nummer Sechs nennen.

    Véronique Olmi
    Nummer Sechs
    Kunstmann, 100 S., EUR 14,90