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Zu viel Tee und zu viel Whisky

Sie sind zusammengekommen, um den toten Bruder Liam zu beerdigen. Sie heißen Bea, Ernest, Stevie, Ita, Mossie, Veronica, Kitty, Alice, Ivor und Jem. Wären noch alle Geschwister am Leben, wären sie zu zwölft. Wären alle geboren worden sogar 19. Eine typisch irische Familie also? In gewisser Weise ja.

Von Tanya Lieske | 23.12.2008
    Natürlich sind die Familien auch in Irland kleiner geworden. Und doch hat die Booker-Preisträgerin Anne Enright mit der Beschreibung dieser verschrobenen, verqueren, verkorksten und in sich doch eng verbundenen Familie einen Nerv getroffen.

    Die Hegartys, sie trinken zu viel Tee und zu viel Whisky, sie werden Alkoholiker oder Priester und werfen in wenigstens einem Falle mit dem Messer nach der Mutter. Das hört sich an wie ein dick aufgetragenes Irland-Klischee, und genau so ist es auch. Die irischen Qualitäten von Anne Enrights Roman "Das Familientreffen" besitzen einen hohen Wiedererkennungswert, im Ausland genau so wie in Irland.

    "Man darf sich die Hegartys getrost wie eine typisch irische Familie vorstellen, allerdings ist es eine potenzierte Form der Familie, es gibt darin einfach viel zu viele Leute! Sehr viele Leser haben darin ihre eigene Familie darin wiedererkannt. Sie kommen zu mir und sagen, he, alle diese Typen wohnen bei uns, obwohl wir nur zu viert sind!"

    Nun hat Anne Enright nicht nur mit sehr viel Erfolg eine Erwartung bedient, sie bricht diese auch. Es ist schon lange kein Tabu, dass sich im Herzen der irischen Familie auch schreckliche Dinge zutragen. Viele Bücher sind in den vergangenen Jahren erschienen, in denen von sexueller Misshandlung Kindesmissbrauch die Rede ist. Allerdings, und das ist der entscheidende Punkt, das Thema hat die Schwelle des Autobiografischen kaum überschritten. Und hier darf man Anne Enrights Roman durchaus als einen Vorreiter betrachten.

    "Ich glaube, wir waren als Gesellschaft einfach noch nicht so weit, dass wir Romane über das Thema des Kindesmissbrauchs schreiben konnten. Es gab in den letzten Jahren viele Memoiren und Autobiografien, in denen Menschen ihr Schicksal erzählen. An dieser Integrität, mit der die Betroffenen von sich erzählen, muss sich die Literatur messen lassen. Das ist jetzt erst möglich, erst jetzt sind wir in unserer Gesellschaft so weit."

    Veronica Hegarty ist die Erzählerin dieses Romans, sie steht ungefähr in der Mitte der Geschwisterkette. Sie ist 39 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Sie führt nach außen ein Durchschnittsleben. Nach innen eines, das sich hart am Rande der Neurose bewegt. Veronica trinkt zu viel und schläft zu wenig. Sie ist rastlos, begibt sich auf ziellose Autofahrten durch Dublin. Ihr Bericht gleicht oft einem Delirium: Sprunghaft ist er, rastlos und wütend. Während Veronica schreibt, bricht sich die Erinnerung Bahn. Und der Text, der dabei entsteht, imitiert den Vorgang der Erinnerung, wenn das, was erinnert werden soll, eigentlich schon gewusst, aber noch nicht bewusst ist. Veronica verdrängt, während sie noch wütet, sie legt immer noch eine Gedankenschleife ein, bis sich das, was erinnert werden soll, endlich nicht mehr zurückhalten lässt.

    Ich möchte niederschreiben, was im Haus meiner Großmutter geschah in dem Sommer, als ich acht oder neun war. Aber ob es wirklich geschehen ist? Mit Gewissheit kann ich es nicht sagen. Ich muss von etwas Ungewissem Zeugnis ablegen und spüre, wie es in mir tobt - dieses Etwas, das sich vielleicht gar nicht zugetragen hat. Ich weiß nicht einmal, wie ich es bezeichnen soll. Man könnte es ein Verbrechen des Fleisches bezeichnen, aber das Fleisch ist längst abgefallen, und vielleicht lebt der Schmerz ja in den Knochen fort.

    Veronicas Bruder Liam hat die Wiederkehr der Erinnerung nicht überlebt, er hat sich im englischen Brighton das Leben genommen. Es war ein sorgfältig geplanter Selbstmord, Liam hat sich seine Taschen mit Steinen gefüllt, und er eine hat Leuchtweste angelegt, damit sein Leichnam auch auf jeden Fall gefunden wird. Veronica hat dafür gesorgt, dass der Körper identifiziert und nach Irland überführt wird. Nun ist er aufgebahrt im Wohnzimmer der Hegartys, und alle Geschwister sind eingetroffen, um die rituelle Totenwache abzuhalten, und Liam zu beerdigen. Liam war Veronicas Lieblingsbruder, sie steht daher unter einem doppelten Schock, dem des Verlusts, und dem der wiederkehrenden Erinnerung. Das Ergebnis ist Wut, rasende, tobende, ungezügelte Wut, die sich vor allem gegen die Mutter richtet. Ihrer Mutter wirft Veronica vor, dass sie zu viele Kinder bekommen hat, dass sie diese vernachlässigt hat und dass sie gewusst hat, dass Liam und Veronica als Kinder missbraucht wurden.

    Meine Mutter hatte zwölf Kinder und - wie sie mir eines Tages anvertraute - sieben Fehlgeburten. Die Lücken in ihrem Gedächtnis sind nicht ihre Schuld. Trotzdem, nichts davon habe ich ihr je verziehen. Ich kann es einfach nicht (...) Nein, letzten Endes verzeihe ich ihr den Sex nicht. Die Stumpfsinnigkeit dieses ständigen Bumsens. Beine Breit und Augen zu. Das hat Folgen, Mammy. Folgen.

    Veronica spricht viel von Sex und von Körpern, alten, kranken, zerfallenden und sterbenden Körpern. Das wirkt oft brutal in der Sprache und auch abstoßend, imitiert aber höchst realistisch jene Abneigung gegen Körperlichkeit und auch gegen Berührungen, wie sie bei Menschen entstehen können, die als Kind missbraucht wurden.

    "Die Figuren in meinem Roman wurden missbraucht, belästigt und dadurch beschädigt. Dieser Schaden prägt Veronica und in ihr ganzes Leben. Es ist fast so, als lebe sie in einer sexualisierten und dadurch vergifteten Umgebung. Aber ihre körperlichen Wahrnehmungen sind nicht auf den Sex beschränkt, es gibt da auch das Problem der Sterblichkeit, denn es ist ja unser Körper, der stirbt."

    In der Psychotherapie unterscheidet man fünf Phasen des Trauerns, es gibt den Schock, die Wut, das Leugnen, die Verhandlung und die Zustimmung. Der Monolog der Veronica Hegarty wirkt auf den ersten Blick nicht so, als sei er sonderlich kontrolliert. Und doch lässt sich bei aufmerksamem Lesen jede einzelne Phase des Trauerns wieder finden, inklusive eines hoffnungsvollen Ausblicks am Ende des Romans. In dieser inneren Genauigkeit liegt der große Verdienst von Anne Enrights neuem Roman "Das Familientreffen".
    Anne Enright: "Das Familientreffen", Roman, aus dem Englischen übersetzt von Hans Christian Oeser. DVA, 334 Seiten gebunden 19,95 Euro.