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Zündstoff am Meeresboden

1,6 Millionen Tonnen Sprengstoff-Munition liegen auf dem Boden der Meere, davon allein 1,3 Millionen in der Nordsee. Beim Bau von Hochsee-Windkraftanlagen liegen sie im Weg. Spezialisierte Unternehmen entsorgen die Altlasten der Weltkriege.

Von Godehard Weyerer | 15.11.2013
    "Gehen wir hier erst mal an Bord."

    Zwischen den Inseln Borkum und Juist sind die Männer wieder fündig geworden. Zwei Meter tief liegt die Munition, wohl eine Granate, im Sand am Meeresgrund. Ein Unterwasserroboter arbeitet sich vor, um das Objekt zu identifizieren, bevor ein Magnet die Munition hebt. In die Magnetspule ist allerdings Salzwasser eingedrungen. Jetzt muss sie ausgewechselt werden.

    "Das ist der Magnet. Hier gehört ein Stromkabel rein, jetzt müssen wir
    gucken, damit wir das schnell repariert kriegen."

    Projektleiter Chris Meijer führt Aufsicht über 70 Männer, die hier draußen auf offener See den Meeresboden nach achtlos entsorgten Kampfmitteln aus den beiden Weltkriegen absuchen. Vier mächtige Magnetteller hängen am gelb lackierten Eisengestell, oben ist eine Pumpe montiert, an ihr armdicke Schläuche, durch die das Wasser angesaugt und durch die Düsen gepresst wird.

    "Dann lockert er den Boden auf, dann sackt er so rein und dann stellen wir den Magneten ein und dann hat es was zu fassen."

    Das in Hamburg ansässige Unternehmen Heinrich Hirdes sucht seit 1978 nach Kampfmitteln aus dem 2. Weltkrieg. Zunächst an Land, seit drei Jahren auch vor der Küste. Wie die Granaten, die Artilleriegeschosse und andere explosive Altlasten nach dem Krieg in der Nordsee verschwanden, weiß Geschäftsführer Hans-Georg Peistrup.

    "Nach dem Weltkrieg haben die Alliierten überschüssige Munition
    verklappt, dazu wurden spezielle Gebiete ausgewiesen. Man hat sich da der Hilfe von Fischerbooten bedient, die wurden pro Tour bezahlt. Die waren ja auch nicht dumm, haben gesagt, nun gut, dann fahre ich mal raus und es kann mir je keiner nachweisen, wo ich genau verklappe, wo schmeiße ich das Zeug rein."
    Seit zwei Jahren räumt die Belegschaft von Heinrich Hirdes die Kabeltrasse hinaus zum Windenergiepark Riffgat. Und obwohl die 50 Kilometer lange Trasse um die ausgewiesenen Munitionsverklappungsgebiete große Bögen macht, kommen immer wieder Granaten und andere Altlasten zum Vorschein. Überraschungen sind an der Tagesordnung. Die Übergabe der Trasse musste zweimal verschoben werden.

    "Die Trasse ist jetzt freigegeben worden, das heißt, jetzt kann praktisch die Installation des Exportkabels beginnen. Das machen nicht wir, das macht eine andere Firma. Wir als Boskalis, und da bin ich bei unserer Muttergesellschaft, Boskalis ist einer der größten Player in diesem Markt, Boskalis hat ungefähr 15.000 Mitarbeiter weltweit und wir verfügen über weit mehr als 1000 Spezialschiffe."

    Vor 22 Jahren kaufte Boskalis, ein niederländisches Unternehmen, die Hamburger Firma auf. Zurzeit verlegt Heinrich Hirdes ein Unterwasserkabel um den südamerikanischen Kontinent, half bei der Bergung des russischen Atom-U-Boots Kursk, das vor 13 Jahren im Barentssee versank, und vertieft im indischen Mumbai den Hafen. Auch dort sind Sprengstoff und Munition kurzerhand in die Hafenbecken gekippt geworden:

    "Und ich verrate da nicht zu viel, die haben ja auch ein U-Boot verloren, die indische Navy, das liegt in 14 Meter Tiefe mit scharfer Munition an Bord. Da hat die indische Navy uns aufgefordert, das Ding hochzuholen."

    100 Millionen Euro Umsatz erzielt das Hamburger Unternehmen im vergangenen Jahr. Trotz stockenden Beginns des Offshore-Sektors auf der deutschen Nordsee. 150 Mitarbeiter beschäftigt die Firma.

    Die Kampfmittelräumer draußen auf der schwimmenden Plattform, die zwischen den Inseln Borkum und Juist den Meeresboden nach Grananten und Munition absuchen, haben meist Werkverträge, sie sind Freiberufler wie Hartmut Löber.

    "Man muss unterscheiden zwischen verschossen und unverschossen. Alles, was verschossen ist, ist in der Regel auch scharf, weil erst nach dem Verschuss die Zünder scharf werden. Das, was wir rausholen, ist in der Masse unverschossen. Man hat es nach dem Krieg einfach im Meer verklappt."

    Der Magnet, der repariert wird, liegt in einem sieben auf sieben Meter großen und mit Sand gefüllten Kasten, in dem im Ernstfall die vom Meeresgrund geholte Munition vorsichtig abgesetzt wird. In der Mitte der drei Meter hohen Splitterschutzwand ist eine Glaswand eingelassen. Hier hat Räumleiter Hartmut Löber seinen Arbeitsplatz. Abgeschossene Munition erkennt er an feinen Gravuren, die entstehen, wenn das Geschoss aus dem Geschützrohr herauskatapultiert wird.

    "Sprengstoff wurde in der Regel für eine Lagerfähigkeit von 40 Jahren hergestellt und Treibmittel wie Schwarzpulver für 60 Jahre. Die Stabilisatoren sind aufgebraucht, damit wird Sprengstoff immer schlagempfindlicher."

    Die Plattform, sagt Projektleiter Chris Meijer, hat 40 Meter außerhalb der Trasse Position bezogen.

    "Wegen des Sicherheitsabstands, wenn der da dann mit der Munition in die Gänge ist und es explodiert, dann sind wir jetzt weit genug weg, dass nichts passiert mit dem Schiff und mit uns."

    Erschwerend kommt die geologische Beschaffenheit des Meeresbodens hier zwischen den Inseln hinzu. Wie eine Düse ist der Meeresgrund geformt. Starke Strömungen treten jeweils bei abfließendem und auflaufendem Wasser auf. Bis die Granate, die an der Stelle gesichtet wurde, gehoben ist, werden noch einige Stunden vergehen. Und vielleicht kommen darunter weitere Altlasten zum Vorschein, die sich pyramidenartig über mehrere Schichten stapeln. Auch das ist schon vorgekommen.