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Zuerst in Verruf und dann in Vergessenheit geraten

Als "Merkwürdige Literatur" bezeichnet der Göttinger Märchenforscher Hans-Jörg Uther die Vielfalt der Themen, der Formen und Geschichten, die er für die neue, 111. Text-CD der Reihe "Digitale Bibliothek" zusammengestellt hat. Alles in allem 32, mehrheitlich dickleibige Werke sind enthalten, die zwischen 1522 und 1802 gedruckt wurden und deren gelehrte Verfasser bis auf wenige Ausnahmen den meisten Lesern gänzlich unbekannt sein dürften.

Von Reinhard Kaiser | 26.08.2005
    Es kann nicht einfach gewesen sein, einen Titel für die neue Text-CD zu finden, die vor kurzem als 111. Band in der Digitalen Bibliothek erschienen ist. So buntscheckig und ausufernd ist die Vielfalt der Themen, der Formen und Geschichten, die der Göttinger Märchenforscher Hans-Jörg Uther auf ihr versammelt hat, dass sie mit einer einzigen Formel kaum zu fassen ist. Herausgeber und Verlag haben Zurückhaltung walten lassen und ihrer neuen Silberscheibe einen schlichten Titel gegeben - "Merkwürdige Literatur". Der Untertitel verheißt dann schon Zugang zu "magischen Welten, merkwürdigen Begebenheiten und wundersamen Entdeckungen". Aber erst ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lässt erahnen, was für ein extraordinäres Leseabenteuer dem bevorsteht, der sich auf dieses schillernde Etwas einlässt:

    " Blockes-Berges Verrichtung / Curiöser Tractat von denen Geistern, so in Bergwerken erscheinen / Der große Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichten / Das Buch der Weisen und Narren / Eröffnetes Wunderbuch / Charlatanerien in alphabetischer Ordnung / Der höllische Proteus oder Tausendkünstige Versteller / Betrugslexikon / Medicinisches Vademecum für lustige Ärzte und lustige Kranken / Das beliebte und gelobte Kräutlein Toback / Odilo Schregers lustiger und nützlicher Zeitvertreiber... "

    Alles in allem zweiunddreißig, mehrheitlich dickleibige Werke, zwischen 1522 und 1802 gedruckt, deren gelehrte Verfasser bis auf wenige Ausnahmen den meisten von uns ganz unbekannt sein dürften und auch in modernen Großlexika keiner Erwähnung mehr für wert erachtet werden. Gemeinsam ist diesen Büchern bei aller Verschiedenheit des Inhalts ihr Schicksal: dass sie wegen ihrer Machart im Laufe der Jahrhunderte zuerst in Verruf und dann in Vergessenheit geraten sind. Mögen sie im einzelnen auch den Sparten der Kuriositäten-, der Historien-, der Chronikliteratur zugerechnet werden, mögen sich unter ihnen neben Magica und Tragica auch Sprichwörter- und Anekdotensammlungen, Ratgeber und Reiseführer finden - allesamt gehören sie jener oft geschmähten Gattung an, die Literaturwissenschaftler und Volkskundler als "Kompilationsliteratur" bezeichnen. Ihnen haftet der Ruch des Zusammengeklaubten, des Abgeschriebenen an. Das lateinische Verb pilare bedeutet erstens "Haare ausrupfen" und zweitens "plündern" - und die Vorsilbe com weist darauf hin, dass dies hier im großen Maßstab geschieht.

    Das also breitet die CD mit dem harmlosen Titel vor uns aus - einen Textozean gespeist aus obsoleten Folianten, 28 000 Bildschirmseiten aus der Feder eines Schwarms obskurer, längst vergessener Abschreiber und Plagiatoren. Ein Sammelsurium von Sammelsurien! Kann man so was überhaupt lesen? Wo ist der Einstieg? Wo das Abenteuer?

    Merkwürdig - gerade das, was diese Literatur einst in Verruf gebracht hat, macht sie uns heute zugänglich: das Zusammengestoppelte. Die Inhaltsverzeichnisse der einzelnen Bücher sind lang und ausführlich, die einzelnen Kapitel, Beobachtungen, Begebenheiten, Mitteilungen oft kurz. Man kann einsteigen, wo man will - an Hunderten von Stellen, und an nicht wenigen von ihnen wird man sich festlesen und mit Freuden und Verwunderung fortfahren. Es zeigt sich, dass die Beteuerungen, mit denen die alten Vielschreiber die Neugier, den Wissensdurst, das Unterhaltungsbedürfnis ihrer Leser gelockt haben, auch heute noch keine leeren Versprechungen sind.

    Hans-Jörg Uther weist in seiner Einleitung darauf hin, dass die Kompilatoren in vieler Hinsicht besser waren als ihr Ruf. Sie häuften nicht nur an, sie leisteten auch kritische Enzyklopädistenarbeit, indem sie die Masse ihrer Stoffe in eine Ordnung brachten, gewichteten, kommentierten. Deshalb kann man die Kompilationsliteratur mit Fug und Recht einen "Wissensspeicher" nennen, an dem sich der Gang der Kulturgeschichte und der Wandel von Weltbildern ablesen lässt. Zugleich ist sie - wie diese CD mit ihren Exempeln auf das schönste demonstriert - eine riesige Stoff- und Themenmühle der Literatur, ein Schatzhaus der Anekdoten, der Legenden, der guten Geschichten. Und damit noch nicht genug der Attraktionen. Auf Schritt und Tritt begegnen einem in diesem stark- und wilddeutschen Dschungel sprachliche Abenteuer, semantische, grammatische, orthographische Lustbarkeiten, dass einem Hören und Sehen und alle Sinne ... nein, nicht vergehen, sondern aufgehen.

    Hier die dreiunddreißigste Begebenheit aus dem "Lehrreichen Exempelbuch" des Dominicus Wenz:

    " Der Heilige Maclovius Bischof zu Bretagne (einer Landschaft in Franckreich) schifte einstens über Meer, und hatte nach seiner Meinung eine Insul ersehen, auf welche er mit denen Schif-Leuten, deren über 180 waren, ausstiege, willens alldorten das Heilige Meß-Opfer zu verrichten. Aber der Heilige Mann merckte bald, dass er sich sehr geirret hätte; dann ein ungeheuer grosser Wallfisch, deren einer in dem Indianischen Meer bisweilen in der Länge 960 Schuhe hat, in der Dicke und Breite aber wohl eine Weite von 4 Jauchert einnimmt, dessen Rücken mit Moß und anderen kleinerem Gestäud überwachsen ware, hatte das Ansehen gemacht, als wann alldorten eine Insul vorhanden wäre. Der GOttes-Dienst hatte schon seinen Anfang genommen, und wurde schier über die Helfte gebracht, da fienge der Wall-Fisch an sich zu rühren, als wann er weiter schwimmen wolte..."

    Wie es dann weiterging, soll hier nicht verraten werden. Lesen Sie selbst - auf der CD "Merkwürdige Literatur", Seite 27044 und folgende.

    Hans-Jörg Uther (Hrsg.)
    "Merkwürdige Literatur"
    (Digitale Bibliothek)