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Zugfahren in Europa
Bahnverkehr stößt an Grenzen

Mit dem Zug durch Europa zu fahren, ist kein leichtes Unterfangen: Es gibt zwanzig unterschiedliche Zugsicherungs- und Signalsysteme. Dazu kommen mehr als vier Spurweiten und noch eine ganze Menge unterschiedliche Stromspannungen. Deshalb ist an der Grenze meistens Schluss.

Von Johannes Kulms | 11.12.2014
    Eisenbahnsignale an der Bahnstrecke Gießen - Fulda
    Einheitliche Signale sucht man im europäischen Schienennetz vergeblich. (picture alliance / dpa / Uwe Zucchi)
    "Oui, bonjour, Chef du bord 9424 ici à Cologne..."
    Guido Langohr ist Zugchef. Seit 13 Jahren arbeitet der Belgier im Thalys. Dieser Hochgeschwindigkeitszug durchquert in wenigen Stunden mehrere Länder und verbindet unter anderem Köln mit Paris. Doch an diesem Morgen beginnt der Arbeitstag am Kölner Hauptbahnhof ganz anders als gedacht...
    "Information on Thalys 9424 to Paris, departure 8:44 - this train is today cancelled..."
    "Ich habe über den Zugausfall leider keine Informationen bekommen, ich habe das eben erst durch die Ansage am Bahnhof gehört."
    Am Vorabend hat es im Thalys Rauchentwicklung an der deutsch-belgischen Grenze gegeben. Konsequenz: Langohrs Zug kann an diesem Morgen nicht in Köln bereitgestellt werden.
    Stattdessen geht es mit einem völlig überfüllten Regionalexpress Richtung Aachen. Erst dort werden die Fahrgäste in den wartenden Thalys steigen können. Mitten im Gedränge stehen Zugchef Guido Langohr und sein Kollege Henry - ebenfalls aus Belgien. Henry ist der Lokführer des Thalys.
    "Die Grenzen spielen für uns als Lokführer eine große Rolle: Einmal, weil sich dadurch die Vorschriften ändern. Man muss außerdem die Sprache des anderen Landes beherrschen, durch das man gerade fährt. Mehr als drei Länder schafft man aber nicht."
    "Sprechen Sie deutsch?"
    "Nur ein bisschen. Aber zu fahren mit Thalys nach Köln, das geht."
    Der Thalys ist kein gewöhnlicher Zug. Das hängt vor allem mit seiner technischen Ausstattung zusammen:
    "Das Besondere am Thalys ist, dass er auf vier Netzen fahren kann. Denn der Zug ist auf verschiedene Stromspannungssysteme ausgelegt - die ja von Land zu Land variieren. Und all das macht der Zug in Hochgeschwindigkeit."
    Und noch etwas ist anders beim Thalys, ergänzt Zugchef Langohr:
    "Für uns ist die Arbeit sehr interessant: Die Kollegen kommen aus verschiedenen Ländern und wir benutzen hier mehrere Sprachen. Ich als Belgier zum Beispiel spreche Deutsch, Niederländisch und Französisch. Man lernt daneben immer wieder auch neues über andere Kulturen - egal ob durch die Passagiere oder durch das Personal."
    Hbf Köln am Abend
    Auch vom Kölner Hauptbahnhof aus fahren Hochgeschwindigkeitszüge durch ganz Europa. (dradio.de)
    Den Thalys gibt es seit 1996. Von Paris aus steuert der Zug nicht nur Brüssel und Köln, sondern auch Amsterdam und weitere Städte an. Neben der französischen SNCF ist auch die belgische SNCB am Thalys beteiligt. Die Deutsche Bahn zieht sich dagegen aus wirtschaftlichen Gründen aus dem Projekt zurück. Sie konzentriert sich stattdessen auf ihre ICE-Verbindungen nach Belgien. In Hochgeschwindigkeit über Staatsgrenzen – das war vor 30 Jahren noch nicht so einfach, sagt Guido Langohr:
    "Als ich damals als Schaffner anfing, hieß es an den Grenzen: Lokwechsel, Bremsen testen - Das bedeutete jedes Mal einen beträchtlichen Zeitverlust. Schon damals hat mich die Arbeit in den internationalen Zügen fasziniert."
    Dann ist der Aachener Hauptbahnhof erreicht. Die Fahrgäste können endlich in den Thalys umsteigen. Wenige Minuten später hat der bordeauxrote Zug die deutsch-belgische Grenze überquert – und nimmt Fahrt auf.
    An diesem Morgen hat sich gezeigt: Fällt ein Thalys aus, ist es schwer, auf die Schnelle einen Ersatzzug zu organisieren, der für die Gleise im Nachbarland zugelassen ist. Ein Grund dafür, warum grenzüberschreitende Hochgeschwindigkeitszüge bis heute eher die Ausnahme sind. Denn ähnliche Probleme hat auch die Deutsche Bahn, die mit dem ICE vier Mal täglich von Frankfurt aus via Köln Brüssel ansteuert. Den Deutschen stehen gerade mal 11 Züge zur Verfügung, die auch für Belgien zugelassen sind.
    "Mit der Bahn ist es so, dass wir 20 unterschiedliche Zugsicherungs- und Signalsysteme haben. Wir haben mehr als vier Spurweiten und wir haben noch eine ganze Menge unterschiedliche Stromspannungen. Deshalb ist an der Grenze meistens Schluss. Und daran arbeiten wir, dass wir einen europäischen Eisenbahnraum hinbekommen."
    ...sagt Michael Cramer, Grünen-Abgeordneter im Europarlament und Vorsitzender des Verkehrsausschusses. Dabei sollten die Züge 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ohne Hindernisse nicht nur nach Frankreich und in die Benelux-Staaten, sondern auch nach Zentral- und Osteuropa rollen. Doch Bahnreisende nach Tschechien, Polen oder ins Baltikum brauchen Geduld: Viele Grenzverbindungen sind schlecht ausgebaut oder überhaupt nicht wieder aufgebaut worden. Besser läuft es auf der Straße, so Cramer.
    "Ich kann natürlich mit dem LKW von Lissabon nach Tallin fahren, ohne Probleme. Ich brauche keinen anderen Führerschein, ich brauche keine anderen Regeln zu kennen - ich kann fahren."
    Nationale Interessen von Staaten und Eisenbahnunternehmen
    Eine wichtige Ursache dafür sind nationale Interessen von Staaten und Eisenbahnunternehmen, sagt Cramers Ausschusskollege Dieter-Lebrecht Koch von der CDU:
    "Ich meine, die arbeiten gar nicht zusammen, sondern eher gegeneinander. Ja, ich glaube, das sind noch nationale Egoismen, die durchkommen, dass die Mitgliedsstaaten Angst haben, bestimmte Kompetenzen aufzugeben. Man schottet sich ab. Ich würd's ganz konkret sagen: Man schottet sich ab gegenseitig."
    "Im Grunde ist die Dampflok sogar interoperabler als heutzutage die Eisenbahn. Weil sie nämlich keinen Strom und keine Informationen und keine Elektronik hat."
    ... sagt Jens Engelmann von der Europäischen Eisenbahn-Agentur.
    "Und das macht die Sache heute etwas komplizierter. Allein die Stromversorgung, die verschiedenen Spannungssysteme und dann eben die sogenannten Control-Command-Systeme, also die Zugleit- und Sicherungssysteme, die sich alle nach den Kriegen in den jeweiligen Nationalstaaten anders entwickelt haben. Weil natürlich die eine Industrie das entwickelte, die andere Bahn jene Präferenz hatte, die nationalen Lieferanten. Das heißt, man muss also nicht davon ausgehen, dass es in Deutschland sehr viel eingebautes Material von französischen Firmen gibt, genauso wenig wie in Italien viel französisches oder deutsches Material verbaut ist."
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    Inzwischen gehen wieder 20 Prozent aller Gütertransporte in der EU über die Schiene. (picture-alliance/dpa)
    Bis zum Jahr 2030 will die EU bei Distanzen über 300 Kilometer 30 Prozent aller Waren per Schiene oder Schiff transportieren – um den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Bis zum Jahr 2050 soll dieser Anteil gar mehr als 50 Prozent betragen. Bis dahin soll auch das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz vollendet sein. Dann solle die Eisenbahn den „Großteil" aller Personen auf mittleren Distanzen befördern, heißt es im Weißbuch der EU-Kommission aus dem Jahr 2011.
    Bis zur Jahrtausendwende hatte die Bahn in der EU deutliche Marktanteile verloren. Inzwischen gehen wieder 20 Prozent aller Gütertransporte über die Schiene. Das hängt vor allem mit der EU-Osterweiterung zusammen: Denn in Mittel- und Osteuropa ist die Schiene seit jeher ein sehr wichtiger Transportweg für Waren. Dabei gibt es Ansätze, den Bahnverkehr zu vereinfachen:
    20 Prozent aller Gütertransporte über die Schiene
    Beispielsweise mit dem europäischen Eisenbahnverkehrsleitsystem ERTMS, sagt Grünen-Verkehrsexperte Cramer.
    "Mittlerweile haben wir 10.000 Kilometer ERTMS-Strecken in Europa – aber keine einzige Lokomotive, die auf allen Strecken fahren kann. Denn das Zugsicherungssystem, das ERMTS, ist so fantastisch und toll, dass es ein Exportschlager ist für Europa. Ob in China oder in Südamerika – überall wird es angewandt. Nur hier sind wir wegen der nationalen Egoismen dazu nicht in der Lage."
    "Bonjour, contrôle des billets..."
    Der Thalys - der gerade den futuristischen Bahnhof von Lüttich passiert hat - benutzt bereits jetzt die europäische Zugleit- und Sicherungstechnologie ERTMS. Zugchef Guido Langohr kontrolliert mittlerweile fleißig Fahrkarten. Dann erreicht der Thalys den Bahnhof Bruxelles Midi. Von der belgischen Hauptstadt aus gesehen scheint der Europäische Eisenbahnraum recht lebendig: 1,5 Stunden dauert die Fahrt nach Paris, gerade mal 2 Stunden mit dem Eurostar nach London, außerdem starten und enden hier jeden Tag zahlreiche französische TGVs.
    Abstecher über die nächste Grenze nach Nordfrankreich. In der sonnendurchfluteten Bahnhofshalle von Valenciennes spielt ein älterer Herr Klavier. Mehrere Jugendliche sitzen verträumt auf den Bänken und hören zu.
    Seit zehn Jahren ist Valenciennes Sitz der Europäischen Eisenbahnagentur, kurz ERA. Die ERA ist eine Tochter der EU-Kommission und beschäftigt derzeit 150 Mitarbeiter aus 21 europäischen Ländern.
    Jens Engelmann leitet seit mehr als drei Jahren den Bereich Corporate Management and Evaluation. Zuvor hat er bei der Deutschen Bahn gearbeitet. Doch nun zählen für Engelmann und seine Kollegen nicht mehr die Interessen eines einzelnen Staates – es geht um mehr:
    "Aus 28 mach eins. Also aus den verschiedenen Verfahren in der Eisenbahn Sicherheit zu beurteilen und technische Regeln darzulegen. Mit dem Ziel einen offenen Markt zu gestalten. Ein interoperables Eisenbahnwesen zu kriegen. Das Wort Interoperabilität ist ziemlich schwierig. Und das heißt nichts anderes als problemfrei über die Grenze fahren können."
    Doch welche Rolle sollte Brüssel eigentlich bei diesem Prozess einnehmen?
    "Diesen Prozess zu moderieren, dass wir auf eine einheitliche Lösung kommen von irgendetwas. Also, die freiheitliche Vereinheitlichung der Bahn hat dazu geführt, zu dem Punkt, bevor es die ERA gab: Nämlich kaum Interoperabilität."
    Vor dem Gebäude der EU-Kommission wehen blaue Europa-Flaggen.
    Von Brüssel aus gesehen scheint der Europäische Eisenbahnraum recht lebendig. Hier beraten auch EU-Parlament und Rat über ein "Viertes Eisenbahnpaket". (Emmanuel Dunand / AFP)
    Vor rund zwei Jahren hat die EU-Kommission ihre Vorschläge für ein "Viertes Eisenbahnpaket" vorgelegt. Seitdem beraten Rat und das EU-Parlament darüber. Das endgültige Gesetz könnte im nächsten Jahr verabschiedet werden. Das vierte Eisenbahnpaket besteht aus drei Pfeilern. Beim technischen Pfeiler hätten sich Mitgliedsstaaten und stake-holder sehr schnell geeinigt, sagt Jens Engelmann. Die Kompetenzen der Europäischen Eisenbahn-Agentur würden dann deutlich erweitert:
    "Zulassung von Fahrzeugen - europaweit. Ausstellung von Betriebsbescheinigungen, von Sicherheitsbescheinigungen für Eisenbahnverkehrsunternehmen. Und das in Zusammenarbeit mit den nationalen Sicherheitsbehörden in den unterschiedlichen Mitgliedsstaaten."
    Ein Schritt, der sich lohnen könnte, glaubt Professor Jürgen Siegmann. Er leitet das Fachgebiet Schienenfahrwege und Bahnbetrieb an der Technischen Universität Berlin.
    "Das ist wichtig, vor allem deshalb, dass die Hersteller dann eine europaweite Zulassung bekommen können. Das heißt, man kann dann eben ein Fahrzeug gleich so bauen, dass eben die europäischen Vorschriften für viele Länder eingehalten werden können. Und da kann man dann eine höhere Stückzahl erreichen - wenn es denn funktioniert."
    Deutlich mehr Streit gibt es um die anderen beiden Säulen des vierten Eisenbahnpakets: Dabei geht es erstens um die Trennung von Bahnnetz und dem darauf fahrenden Unternehmen - also zum Beispiel die Deutsche Bahn oder die französische SNCF. Zweitens geht es darum, ob ein Eisenbahnkonzern wie die SNCF auch deutsche Schienen benutzen darf. Dabei soll egal sein, ob die Firma in privater oder in staatlicher Hand ist. Über diese Fragen wird weiter gestritten. Es werden noch Jahre vergehen, ehe ein neues Eisenbahnpaket greifen wird. Doch nicht nur Fahrzeug- und Wettbewerbsfragen - auch der Zustand des Schienennetzes selber ist von zentraler Bedeutung für den grenzüberschreitenden Bahnverkehr.
    "Und Sie sehen jetzt unsere Klosterkirche schon, mit dem Türmchen. Und daneben links sehen Sie unser Schulgelände. Also, ein ICE hat uns noch nie gestört und die kleinen Regionalbahnen sowieso nicht. Was uns stört ist eben diese Verlärmung durch den Güterverkehr, vor allem, weil ich sage, es sind die ältesten Waggons, die hier noch laufen. Sie hören ja auch jetzt durch die Witterung das Pfeifen. Hier findet also der ganze Güterverkehr der von Rotterdam bis Genua hier – die Hauptschlagader des europäischen Güterverkehrs – die braust hier durch."
    Schwester Martina ist Ordensschwester. Bis vor drei Jahren hat sie in Offenburg die Klosterschule "Unserer lieben Frau" geleitet. Das Schulgelände grenzt fast direkt an die Bahngleise. Schon heute rollen hier alle paar Minuten lange Güterzüge vorbei. Denn Offenburg liegt im Dreiländereck Deutschland-Schweiz-Frankreich, direkt an der viel befahrenen Strecke von Karlsruhe nach Basel.
    "Und wir haben sehr viele Stuckdecken, wir haben historische Räume, die durch die Erschütterungen dieser schweren Güterzüge, die ja sehr lang sind, aber die sollen ja noch länger werden. Da muss ich dann sagen, diese schwere Erschütterung, die geht an die Bausubstanz. Und irgendwann werden wir das dann erleben, dass uns dann einfach auch Stuckteile herunterfallen werden und das in Klassenräumen, wo Schülerinnen sitzen. Wir haben eine Schule mit tausend Schülerinnen. Da muss ich sagen, ist Gefahr im Verzug!"
    Bauarbeiten im Gotthard-Basistunnel am 27. August 2010 - nahe Faido, Schweiz.
    Bauarbeiten im Gotthard-Basistunnel am 27. August 2010 - nahe Faido, Schweiz. (AP)
    Doch in den nächsten Jahren wird der Güterverkehr auf der Rheinschiene nochmals deutlich ansteigen: 2016 soll in der Schweiz der Gotthard-Basistunnel eröffnen - mit rund 57 Kilometern dann der längste Eisenbahntunnel der Welt. Die Pläne der Deutschen Bahn, zusätzliche Gleise mitten durch Offenburg zu errichten haben Schwester Martina und viele andere Anwohner auf den Plan gerufen. Die Deutsche Bahn sieht in den Protesten den Hauptgrund dafür, dass Deutschland beim Ausbau der Rheinschiene stark hinterherhinkt. Denn nach derzeitigem Stand soll der Ausbau von Karlsruhe nach Basel erst 2029 abgeschlossen sein - also 13 Jahre nach der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels. Doch als Bremserin sieht sich Schwester Martina ganz und gar nicht.
    "Sondern eher als Verhinderer einer Linie, die keiner will und die, ich sag jetzt mal, der Oberrheingegend nur Schaden zufügen würde. Das ist eher umgekehrt. Wir haben der Bahn die Augen geöffnet, dass sie so nicht bauen können. Das haben sie wohl so am Grünen Tisch in dieser Form so selbst gar nicht gemerkt."
    Nun bahnt sich für Offenburg eine Tunnellösung an. Die Ordensschwester hofft darauf, dass die Bahn entsprechende Ankündigungen einhält. Trotz ihres Widerstands begrüßt sie das Schweizer-Megaprojekt.
    "Wir sind ganz stolz auf die Schweiz. Die Schweiz ist für uns ein ganz großes Vorbild. Vor allem, weil sie völlig anders an das Thema herangegangen ist. Die hat erst die Bürger gefragt: Wie können wir die ganze Last von der Straße auf die Schiene bringen? Dann hat man Geld gespart durch erhöhte Mautgebühren und dann hat man geplant. Und bei uns lief das genau umgekehrt."
    "Wir können heute doch nicht sagen, zack, order mufti, jetzt werden vier Gleise gebaut. Wir müssen da schon den Konsens mit der Bevölkerung wahren, sonst wird man immer Ärger haben."
    ... sagt Bahnexperte Jürgen Siegmann von der TU Berlin. Die EU müsse sich stärker für den Aufbau einer europäischen Fernstrecke einbringen, fordert Schwester Martina. Dabei geht es ihr nicht nur um mehr Geld für den Ausbau.
    "Und ich meine, wenn sie mal dran denken wie wir uns technisch umrüsten können: Wir könnten schon längst ruhigere Züge haben, das ist alles machbar. Ich denke, die EU kann sich da nicht zurückziehen. Wir wollen einen globalisierten Markt, das denke ich, ist auch für uns sehr wichtig."
    Doch nicht nur bei der Rheinschiene - auch bei anderen wichtigen europäischen Projekten hinke Deutschland hinterher, sagt Bahnexperte Jürgen Siegmann. Im Rahmen der Trans-European-Networks, kurz TEN, hat die EU-Kommission neun zentrale Güterverkehrskorridore definiert. Sechs dieser Trassen verlaufen durch Deutschland.
    "In allen diesen Korridoren haben wir noch eklatanten Nachholbedarf, Ost-West wie Nord-Süd und da ist der Rhein nur ein Teil davon. Ja, es ist natürlich auch eine Frage der Finanzierung. Also, wenn entsprechend das Geld nicht fließt oder zu wenig Geld im Haushalt drin ist. Diese Regierung unterschreibt immer diese europäischen Verträge – aber hat da keinen Finanzierungshintergrund für.
    Ein stillgelegtes Gleis ist  an einem Bahnhof in Maintal bei Frankfurt mit einem Schild abgesperrt.
    Die Deutsche Bahn sieht in den Protesten der Bevölkerung den Hauptgrund dafür, dass Deutschland beim Ausbau der Rheinschiene stark hinterherhinkt. (AP)
    In ihrem Weißbuch von 2011 hat die EU vorgerechnet: 550 Milliarden Euro sind bis 2020 für die Vollendung des TEN-Netzes nötig. Gerade mal 85 Milliarden davon kann die EU über Strukturfondsmittel beisteuern – den Rest müssen die Mitgliedsländer schultern – heißt es im Weißbuch. Doch auch kleinere und günstigere Projekte könnten bereits helfen, meintder Grünen-Politiker Michael Cramer. Er hat kürzlich eine Broschüre herausgegeben mit dem Titel "Die Lücke muss weg. 15 Projekte für das Zusammenwachsen Europas auf der Schiene".
    Manche der genannten Abschnitte sind nur wenige Kilometer lang, wie zwischen dem österreichischen Rechnitz und dem ungarischen Szombathely. Ein anderes Beispiel ist die Verbindung zwischen Berlin und Breslau:
    "Da haben die Polen von Breslau bis zur Grenze alles elektrifiziert und saniert. Die Deutschen nur bis Cottbus. Da fehlen 50 Kilometer, deswegen muss zwei Mal umgestiegen werden. Und wir brauchen heute fünf Stunden. Vor dem Krieg brauchten wir zweieinhalb Stunden. Und für 100 Millionen - das ist ein Prozent von Stuttgart 21 - könnten wir diese Lücke schließen und zwei Stunden Fahrzeit gewinnen. Ich kenne kein Projekt, wo ich mit so wenig Geld so viel Zeit gewinne."
    Rasche Beseitigung von Engpässen gefordert
    Auch Dieter-Lebrecht Koch von der CDU fordert die rasche Beseitigung solcher Engpässe - und sieht den Hochgeschwindigkeitsverkehr keineswegs als Allheilmittel:
    "Ich denke, es gibt verschiedene Geschwindigkeitsstufen. Die traditionelle Eisenbahn, die schätze ich so ein bis 150 Kilometer pro Stunde. Und dann sehe ich Hochgeschwindigkeitszüge bis 200, vielleicht 220. Und alle, die 300 Kilometer oder noch schneller fahren, das sind Visionen, die kosten unendlich viel Geld und bringen am Ende dem Reisenden kaum Zeitgewinn. Aber alles, was darüber hinaus geht, sollten wir dann der Flugverbindung überlassen."
    Zurück im Thalys 9424, der mittlerweile die belgisch-französische Grenze passiert hat. Zugchef Guido Langohr gönnt sich eine kurze Pause in einem Sessel der 1.Klasse und schaut aus dem Fenster, wo die Landschaft bei rund 300 Stundenkilometern vorbeirauscht.
    "In einem internationalen Zug zu arbeiten ist schon stressiger als auf einer nationalen Verbindung. Die Kundschaft ist eine andere: Es gibt weniger Betrugsfälle, stattdessen hilft man den Fahrgästen mehr mit Auskünften. Die Rolle eines internationalen Schaffners ist wohl weniger repressiv. Ja, vielleicht ein bisschen eher wie ein Diplomat."
    Die deutschen Fahrgäste sind übrigens anspruchsvoller als zum Beispiel die Franzosen, sagt Langohr und lacht.
    Dann greift der Zugchef zu seinem Handy.
    "Ich habe gerade mit der Zentrale telefoniert, damit die dafür sorgen, dass ich in Paris nicht gleich meinen Anschluss verpasse. Ich habe lieber nur eine kurze Pause und arbeite dann weiter. Unsere Pausen sind dann eben doch nicht so lang, dass man den Bahnhof mal verlassen könnte. Wir sind es gewohnt, dass wir so schnell von einem Land ins andere springen und wieder zurück."