Dienstag, 19. März 2024

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Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde
Thierse wirft Kauder Erpressung vor

Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse hat Unionsfraktionschef Volker Kauder vorgeworfen, einen Umbau der Stasi-Unterlagenbehörde verhindert zu haben. Kauder habe damit gedroht, gegen das Integrationsgesetz vorzugehen, wenn die SPD sich gegen die Union stelle, sagte Thierse im DLF. Dass die Reformvorschläge nicht umgesetzt würden, sei "traurig, traurig, traurig".

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 09.06.2016
    Wolfgang Thierse bei einer Rede
    Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ist verärgert über das Verhalten der Union im Umgang mit der Stasi-Unterlagenbehörde. (dpa / Andreas Gebert)
    Der frühere Bundestagspräsident Thierse saß mit in der Experten-Kommission, die Pläne für den künftigen Umgang mit den Stasiunterlagen erarbeitet hat. Sie schlug unter anderem vor, dass die Akten künftig ins Bundesarchiv überführt werden sollen, aber genauso zugänglich bleiben wie bisher. Neben anderen Dingen wollte die Kommission zudem einen Ombudsmann für die Stasi-Opfer einführen, der Bundestag und Regierung beratend zur Seite stehen sollte. Die Große Koalition sprach sich allerdings dagegen aus. Heute wird der Bundestag über die Wiederwahl Roland Jahns als Chef der Stasi-Unterlagenbehörde abstimmen - damit bliebe erst einmal alles beim Alten.
    Dass diese Vorschläge nun nicht umgesetzt würden, "ist schlicht eine Brüskierung der Kommission", so Thierse. Ihm sei zugetragen worden, dass Unionsfraktionschef Volker Kauder gesagt habe: "Wenn ihr nicht sofort der Wiederwahl von Roland Jahn zustimmt, dann machen wir euch Ärger mit dem Integrationsgesetz". Das nenne man wohl Kuhhandel oder Erpressung, so Thierse. Er ist der Ansicht, dass die Vorschläge der Kommission nicht zu einem Ende der geschichtlichen Aufarbeitung der Stasi- oder der SED-Aktivitäten führen würden, wie es Kritiker befürchten.
    Aus Thierses Sicht hat es bei der Entscheidung auch Druck auf die Unionsfraktion gegeben. Der Vorsitzende der Kommission, Sachsen-Anhalts früherer Ministerpräsident Wolfgang Böhmer von der CDU, habe sich ebenfalls enttäuscht über die Entscheidung geäußert.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Im Moment ist Roland Jahn, der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und jetzige Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, nur kommissarisch im Amt, denn die Koalitionsfraktionen, vor allem die SPD wollte ja erst einmal erklären, wie es mit dem Amt überhaupt weitergeht, bevor Jahns Vertrag verlängert wird, denn eine Expertenkommission arbeitete an Vorschlägen. Im April stand dann die Empfehlung, die Behörde aufzulösen und sie in das Bundesarchiv aufgehen zu lassen. Doch unter DDR-Bürgerrechtlern erhob sich massiver Protest, sodass die geplante Reform in den Papierkorb wanderte. Heute steht dann die Wiederwahl Roland Jahns im Bundestag an.
    Am Telefon begrüße ich jetzt Wolfgang Thierse von der SPD, ehemals Bundestagspräsident. Er war auch Mitglied der Expertenkommission zur Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde. Guten Morgen, Herr Thierse.
    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Herr Thierse, die Koalitionsfraktionen haben sich darauf verständigt, die Reform der Unterlagenbehörde in dieser Legislaturperiode nicht mehr anzupacken. Wie begeistert sind Sie von dieser Entscheidung?
    Thierse: Überhaupt nicht. Das ist schlicht eine Brüskierung der Kommission, die vom Bundestag eingesetzt worden ist und die anderthalb Jahre intensiv gearbeitet hat, die Experten gehört hat, die Betroffenen gehört hat, Roland Jahn, der den Vorschlägen zugestimmt hat. Auch der Vorsitzende der Union der Opferverbände war da und hat unseren Vorschlägen zugestimmt. Die Vorschläge, die sich ja auf verschiedene Ebenen beziehen und die in keinem Fall ein Schlussstrich bedeuten, sondern das genaue Gegenteil. Unsere Vorschläge zielen darauf, dass die Aufarbeitung der DDR-Geschichte, die Auseinandersetzung mit dem DDR-Unrecht Zukunft bekommen soll, und dafür haben wir Vorschläge gemacht. Und wenn das jetzt in den Papierkorb geworfen wird oder in die Schublade und auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wird, dann ist das traurig, traurig, traurig.
    "Wie nennt man das sonst? Einen Kuhhandel, eine Erpressung?"
    Heckmann: Sie sprechen von einer Brüskierung. Wie ist denn diese Entscheidung aus Ihrer Sicht zu erklären?
    Thierse: Es ist so gewesen, wie ich mir habe erzählen lassen, dass die CDU/CSU, dass Herr Kauder gesagt hat, wenn ihr nicht sofort der Wahl von Jahn zustimmt, dann machen wir euch Ärger mit dem Integrationsgesetz. Wie nennt man das sonst? Einen Kuhhandel, eine Erpressung? Ich kann es nicht netter nennen. Das sind zwei Dinge, die absolut nichts miteinander zu tun haben.
    Die Idee war, unsere Vorschläge, die Akten sollen in die Obhut des Bundesarchivs bei voller Berücksichtigung ihres besonderen Charakters, bei absoluter Sicherheit, dass sie zugänglich bleiben gerade auch für die Opfer und für die Wissenschaft. Wir haben vorgeschlagen, dass in die Außenstellen, also in die Archive dort investiert wird, denn die Archive sind in einem katastrophalen Zustand. Das wird jetzt verschoben auf irgendwann. Wir haben vorgeschlagen ein Projekt für die Magdalenenstraße und Normannenstraße in Hohenschönhausen, eine Stiftung Diktatur und Widerstand, die dort die Gedenkstätte verwaltet, politische Bildung betreibt, historische Aufklärung. Wir haben vorgeschlagen die Einrichtung eines unabhängigen Forschungsinstituts, das sich mit der Stasi in vergleichender Perspektive, also vergleichende Diktaturforschung betreibt. Und wir haben vorgeschlagen einen Bundesbeauftragten mit dem besonderen Profil, Ombudsperson zu sein für die Opfer, für das Thema Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur. Und die Idee war, dass dieses alles relativ bald in ein Artikelgesetz gegossen wird und die Verwirklichung dieser Vorschläge beginnen soll und dabei auch Roland Jahn in diese Position des neu profilierten Bundesbeauftragten gewählt wird. Das hat die CDU/CSU nun fast alles beiseitegeschoben.
    In die Normalität der Aufarbeitungslandschaft einbetten
    Heckmann: Und dennoch, Herr Thierse, haben sich viele ehemalige DDR-Bürgerrechtler zu Wort gemeldet und gesagt, die Stasi-Unterlagenbehörde, die ist nun mal das sichtbarste Zeichen und Resultat der friedlichen Revolution. Weshalb ist es denn aus Ihrer Sicht eigentlich überhaupt notwendig, diese Behörde aufzulösen und im Bundesarchiv aufgehen zu lassen?
    Thierse: Es war erstens eine Sonderbehörde. Als solche haben wir sie 1991 eingerichtet. Und es ist ganz klar: Eine Sonderbehörde ist nicht auf Ewigkeit gesetzt. Es ging darum, wie unter den veränderten Bedingungen, Generationenwechsel, rechtliche Veränderungen, die wir vorgenommen haben, Fragen des Persönlichkeitsschutzes, Fragen auch des Zustandes dieser Behörde, die ja immer mehr Aufgaben auch um sich herum gesammelt hat, wie wir das zukunftsfähig machen. Und wissen Sie, die NS-Akten, die Polizeiakten aus der DDR, die Akten der SED und andere sind im Bundesarchiv, und es ist doch vernünftig, die Stasi-Akten in diesen Zusammenhang zu bringen und sie aus der zentralen Stelle der Erinnerungsarbeit herauszunehmen.
    Die Stasi war wichtig, aber sie war Auftragnehmer der SED. Diesen Zusammenhang wieder auch archivisch herzustellen und die Qualität, die Qualifikation des Bundesarchivs mit seinen 900 Mitarbeitern auch dafür verantwortlich zu machen, übrigens auch viele Mitarbeiter, der jetzigen Stasi-Unterlagenbehörde dabei mitzunehmen, das war die Grundidee, also die Aufgaben, die Akten, die Zugänglichkeit der Akten, die Sicherung der Akten, die unabhängige Forschung, die politische Bildungsarbeit, historische Aufklärung und die Arbeit einer Ombudsperson, das deutlicher voneinander zu unterscheiden und damit zu qualifizieren und damit auch in die Normalität der bundesdeutschen Aufarbeitungslandschaft, Wissenschaft und des Staatsaufbaus einzubetten.
    Heckmann: Aber Herr Thierse, viele ehemalige DDR-Bürgerrechtler sagen, man hätte die Stasi-Unterlagenbehörde ja auch so zukunftsfähig machen können, ohne sie aufzulösen und ins Bundesarchiv zu überführen. Dafür sieht man gar keine Notwendigkeit. Diese Kritik können Sie gar nicht nachvollziehen?
    Thierse: Erstens waren es nicht viele. Und ich sage noch einmal: Der Vorsitzende der Union der Opferverbände war in unserer Kommission, kannte unsere Vorschläge. Wir haben mit ihm diskutiert, sogar über diesen Ombudsmann. Er hat zugestimmt!
    Und dass er dann hinterher etwas anderes sagt, ist schon gelinde gesagt überraschend. Es gibt eben auch so etwas wie einen Streit um die Verteilung des Aufarbeitungskuchens und dass es unterschiedliche Interessen, auch egoistische Interessen gibt, die gar nicht am gemeinsamen Anliegen orientiert sind, das muss man auch etwas bitter konstatieren.
    Streit um den Aufarbeitungskuchen
    Heckmann: Was für unterschiedliche Interessen meinen Sie?
    Thierse: Nun ja, es geht doch auch um Geld. Es geht doch auch um finanzielle Möglichkeiten. Da gibt es doch ganz unterschiedliche Kräfte, auch institutionelle. Wir sagen, inzwischen ist in Deutschland eine reiche Aufarbeitungslandschaft entstanden, viele unterschiedliche Initiativen. Es muss nicht mehr alles zentralistisch verwaltet werden, alles durch eine immer größere Behörde. Wenn Sie denken: Allein 1.600 Mitarbeiter hat die Stasi-Unterlagenbehörde. Das Bundesarchiv, nun wahrlich eine hoch qualifizierte Einrichtung, hat 900. Wollen wir sagen, 26 Jahre nach dem Ende der SED-Diktatur muss alles genau so bleiben, wie es 1991 mal unter besonderen Umständen, als es noch keine rechtlichen Festlegungen gab, ausgedacht worden ist?
    Ich gehöre zu denen, die die Stasi-Unterlagenbehörde mit erfunden haben. Ich war Bundestagsabgeordneter in diesen vergangenen 24, 25 Jahren und ich habe alle Novellierungen des Stasi-Unterlagengesetzes begleitet. Jetzt ging es um die Frage, wie können wir erreichen, dass diese wichtige Aufgabe, Umgang, kritischer Umgang mit der DDR-Geschichte, Aufarbeitung von SED-Unrecht, in institutionelle Formen gegossen wird und angemessen investiert wird in sie, dass das in den nächsten Jahren auch angemessen weitergehen kann.
    Heckmann: Und wir halten fest, Herr Thierse: Dass das alles nicht kommt, dass diese Reformvorschläge jetzt im Papierkorb erst mal zumindest landen, das ist Resultat einer Erpressung durch die Unions-Bundestagsfraktion, namentlich Herrn Kauder?
    Thierse: Das ist so, weil die Personalie Jahn - wie gesagt, Herr Jahn hat unseren Vorschlägen zugestimmt; er war da, er hat mit uns diskutiert. Man kann also nicht sagen, die Bürgerrechtler seien dagegen. Das ist eine Legende. Wie man diese Personalie und die Absage an die Vorschläge der Kommission verbinden kann mit der Frage des Integrationsgesetzes, das ist etwas, was ich nur mit Erstaunen und mit einer gewissen Bitterkeit beobachten kann.
    Heckmann: Was sagt das über das Verhältnis zwischen Union und SPD?
    Thierse: Das sagt nur etwas über bestimmte Einstellungen bei der CDU/CSU-Fraktion und dass es da offensichtlich auch Druck auf sie gegeben hat. Man muss nur mal wissen: Herr Böhmer, CDU-Mitglied, ehemaliger Ministerpräsident, hat dann mit einer gewissen Bitterkeit gesagt, ich zitiere ihn: "Wer seine Arbeit einer Partei zur Verfügung stellt, der sollte nicht allzu empfindlich sein." Man kann die Enttäuschung nicht vornehmer und nicht energischer ausdrücken.
    Heckmann: Ganz kurz noch, Herr Thierse. Kann man mit einem Koalitionspartner weiter zusammenarbeiten, der einen erpresst?
    Thierse: Wissen Sie, wenn man etwas erreichen will wie die SPD, ein vernünftiges Integrationsgesetz und eine ganze Reihe weiterer Sachen, dann muss man gelegentlich auch bittere Pillen schlucken.
    Heckmann: Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse war das von der SPD. Er gehörte auch der Expertenkommission zur Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde an. Die Reform ist erst mal vom Tisch. Herr Thierse, danke Ihnen für dieses Interview.
    Thierse: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.