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Zukunft Europas
Politologe Ivan Krastev skizziert Folgen der Corona-Pandemie

In zwei Büchern hat der bulgarische Politologe Ivan Krastev bereits erläutert, warum das Projekt Europa und der liberale Westen an Anziehungskraft verloren haben. Nun schaut er auf die Folgen der Corona-Pandemie für Europa, in seinem Essay "Ist heute schon morgen?"

Von Stephan Ozsváth | 27.07.2020
Hintergrundbild: Kassiererinnen mit Schutzmasken in einem Supermarkt in Jena. Vordergrund: Buchcover
Die Corona-Pandemie legt die sozialen Unterschiede offen (imago images/Kevin Voigt/Xinhua und Ullstein Verlag)
"Manche schreiben Bücher, weil sie glauben, eine Botschaft zu haben. Andere schreiben Bücher um zu verstehen, was da gerade passiert." Zu den letzteren zähle auch er, erklärt Ivan Krastev im Gespräch.
Der bulgarische Politologe entschlüsselt gleichsam in Echtzeit, was das Virus mit uns und unseren Gesellschaften macht. Und das macht er klug, unterhaltsam, unerwartet. Krastev liebt das Spiel mit den Perspektivwechseln. Seine Diagnose: Es wird kein Zurück zum Vorher geben.
"Wir haben es hier mit einer wirklich globalen Krise zu tun. Zwei Milliarden Menschen wurden nach Hause geschickt. Flugzeuge fliegen nicht, Fabriken sind geschlossen, Parlamente werden nach Hause geschickt. Das kam plötzlich, aus dem Nichts. Aufgrund eines Virus, über das wir quasi nichts wissen. Wir versuchen, uns zu überzeugen, dass der Tod unnatürlich ist. Bis gestern lebten wir mit dem Rücken zum Tod, und plötzlich müssen wir ihm ins Auge sehen."
Auf nicht mal 100 Seiten zeichnet Krastev Konflikt-Linien und Abhängigkeiten auf, die zwischen Stadt und Land, im Streit um die Zweitwohnungen, – er gräbt dabei historisch tief, erzählt uns, dass es die schon in der Renaissance gab – Reaktion der Reichen auf Seuchen in der Stadt. Wir erleben in Corona-Echtzeit die Achillesferse des Westens, der dringend osteuropäische Pflegekräfte und Erntehelfer braucht. Wir erleben eine mobile Mittelschicht, die feststeckt, abhängig vom Corona-Proletariat an der Supermarkt-Kasse.
Soziale Unterschiede verstärken sich
Die Pandemie macht uns über das Internet zwar zu Bürgern der gleichen Welt, aber sie legt auch die sozialen Unterschiede krass offen.
"Wenn die Regierung sagt: Bleib' zu Hause. Dann ist eine Bedingung, dass Du ein Zuhause hast. Aber wenn sechs junge Migranten ohne Papiere und Krankenversicherung in einem Raum in New York hausen, dann ist ‚Bleib zu Hause‘ keine Option. Wenn man sich die COVID-19-Raten anschaut, wird klar, dass Corona nicht als Gleichmacher wirkt, wie es scheint: Das Virus infiziert jeden, aber jeder stirbt anders als Folge einer Infektion."
Krastev macht auf die Paradoxe aufmerksam, welche die Krise mit sich bringt.
"COVID hat die Welt mit Weltoffenheit infiziert, während es die Staaten gegen die Globalisierung einnahm."
Medikamente sollen nun wieder vor der Haustür produziert werden. Angesagt ist Heimaturlaub. Im Hier und Jetzt gefangen – gleichzeitig schon im Morgen. Corona hat uns in die Zukunft katapultiert: Das Homeoffice – lange verpönt, wird normaler. Auch Dienstreisen kommen auf den Prüfstand. Ein ökonomisches System wird durch die Mangel gedreht – und die Mängel werden offenbar.
"Wir haben die Abstandsregeln wie religiöse Vorschriften beachtet, weil niemand im Krankenhaus enden wollte."
Schon gar nicht im Osten und Südosten Europas. Dort war der Lockdown besonders streng, weil die Krankenhäuser besonders schlecht sind.
"Vorerkrankte" Demokratie ist gefährdet
Auch für die liberale Demokratie ist COVID-19 ein Stresstest, meint Krastev.
"COVID-19 ist besonders gefährlich für Menschen mit ‚Vorerkrankungen‘, und die liberalen Demokratien des Westens litten im letzten Jahrzehnt unter beträchtlichen Funktionsstörungen, während das Vertrauen in ihre demokratischen Systeme dramatisch absackte."
Das hatte in den letzten Jahren die Populisten begünstigt. Aber: Die vor Corona starken Populisten der AfD, der Lega Nord, Trump, Bolsonaro – Anführer, die sich von Wut nähren, waren plötzlich abgemeldet. Krastevs Erklärung:
"Autoritäre Führer mögen zwar Krisen. Aber sie mögen Krisen, die sie selbst geschaffen haben. Auf solche Dinge sind diese Anführer nicht vorbereitet."
Jahrelang hatten Rechtspopulisten Aufwind, weil sie Grenzschließungen forderten. Dann gingen ihre kühnsten Träume in Erfüllung, und die radikalen Grenzschließer gingen auf Tauchstation. Der "Ethnische Nationalismus" der Flüchtlingskrise sei eben durch einen "Stay-Home-Nationalismus" ersetzt worden, meint Krastev.
"Das Wichtigste war, dass die Leute die Grenzen schließen wollten, um die Verbreitung des Virus zu verhindern. Aus dieser Perspektive waren Bulgaren, die nach Hause kamen, nicht so willkommen, weil sie die Gefahr erhöhten. Aber Fremde, die in Bulgarien leben, wurden wie Bürger behandelt, weil sie Teil der Bemühungen waren, die Krankheit zu stoppen."
Nach der Angst kommt die Wut zurück
In der Krise vertrauen die Menschen ihren Regierungen, so Umfragen während der Pandemie. Aber Krastev warnt: Der Preis für den Lockdown ist eine tiefe Rezession. Eine neue Chance für politische Hasardeure.
"Wenn die heißeste Phase der gegenwärtigen Krise vorbei ist und die Menschen nicht mehr um ihr Leben fürchten, wird die Wut zurückkehren und populistische Führer wie Marine Le Pen oder Matteo Salvini werden wahrscheinlich wieder Oberwasser bekommen."
Gesellschaftliche Konfliktlinien verschärfen sich durch die Pandemie, stellt Krastev heraus. Social Distancing ist bekanntermaßen ein Mittelstandsluxus. Zudem schwele der Konflikt zwischen Alt und Jung.
"Jetzt sagt die alte Generation den Jungen: Hört mal, ihr wollt raus, ihr wollt ein normales Leben führen. Ihr könnt infiziert werden, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ihr sterbt, ist nicht so hoch. Für uns kann es das Ende bedeuten. In der Gesundheitskrise zeigt die ältere Generation ihre Verwundbarkeit, in der Wirtschaftskrise sagen die Jungen: Hört mal, wir werden in total verschuldeten Staaten leben. Wir zahlen die Zeche."
Krastev hat unter dem Mikroskop untersucht, was das Virus mit uns macht. Virtuos springt er zwischen dem Heute ins Gestern und ins Morgen – ein intellektuelles Hüpfspiel. Es lohnt sich mitzuspringen.
Ivan Krastev: "Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändern wird", Ullstein Verlag, übersetzt von Karin Schuler, 96 Seiten, 8 Euro.