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Zum 100. Geburtstag
Eindringlich und lebendig: Neues über Marcel Reich-Ranicki

Marcel-Reich-Ranicki war der profilierteste und wohl auch gefürchtetste Literaturkritiker, den Deutschland je hatte. Er hat den Literaturbetrieb stark geprägt. Zu seinem 100. Geburtstag sind zahlreiche Bücher und Tondokumente neu erschienen. Ein Überblick.

Von Katharina Borchardt | 02.06.2020
Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.
Neue Bücher zu seinem 100. Geburtstag – das hätte Marcel Reich-Ranicki garantiert gefreut (picture-alliance / Sven Simon)
Neue Bücher zu seinem 100. Geburtstag – das hätte Marcel Reich-Ranicki garantiert gefreut. Schließlich war ein Buch das schönste Geschenk, das man ihm machen konnte. An eines dachte er besonders gerne zurück. Überreicht von seinem Schwager Gerhard Böhm:
"Er hat mir zu meinem Geburtstag – ich glaube es war der 16., vielleicht der 17. – Gundolfs Goethe-Monografie, die ich haben wollte, geschenkt und mir einige Zeilen aus dem Faust hineingeschrieben, nämlich den Schluss dieser Passage, wo Mephisto im Gespräch mit Faust sagt: "Ich sage es dir: ein Kerl, der spekuliert, / Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide / Von einem bösen Geist im Kreis umhergeführt, / Und rings umher liegt schöne grüne Weide." Er wollte wohl damit sagen, dass die Befürchtung bestehe, dass mir die grüne Weide des Lebens entgehen könnte, da ich mich vor allem mit der Druckerschwärze, mit Büchern, mit Texten befasste statt mit dem realen Leben. Die Angst vor dieser Gefahr hat mich ein Leben lang begleitet."
"Ich schreibe unentwegt ein Leben lang"
So erzählte es Marcel Reich-Ranicki dem Journalisten Paul Assall in einem mehrstündigen biografisch angelegten Interview. Die beiden trafen sich 1986, also ganze 13 Jahre, bevor Reich-Ranicki seine Autobiografie "Mein Leben" publizierte. Das Tonmaterial von damals wurde bislang nur in kleineren Auszügen veröffentlicht. Vollständig liegt es erst jetzt vor: als Buch und auch als CD-Box. Der Titel: "Ich schreibe unentwegt ein Leben lang". Paul Assall erinnert sich:
"Anfangs empfing er mich sehr griesgrämig. Es war ein grauer Wintertag, und er schien ganz unlustig zu sein, jetzt ein großes biografisches Interview zu führen, aber im Laufe des Gesprächs wurde er immer konzentrierter, und es floss aus ihm nur so heraus."
So entwickelte sich ein intensives Gespräch. Darin zeigt sich Paul Assall erstklassig vorbereitet und stellt viele treffende Fragen. Reich-Ranicki antwortet ebenfalls konzentriert. Im Buch findet sich der Dialog transkribiert und leicht gekürzt. Lebendiger aber ist es natürlich, ihn auf den vier CDs mitzuerleben, auch wenn die Aufnahme leider ein klein wenig rauscht.
"Der doppelte Boden"
Es war der Ammann-Verlag, der im Jahr 1986 zwei lange Interviews mit Marcel Reich-Ranicki in Auftrag gab. Paul Assall war fürs Biografische zuständig, der Literaturwissenschaftler Peter von Matt fürs Thema Literaturkritik. Doch nur von Matts Gespräch erschien damals auch direkt und liegt jetzt unter dem Titel "Der doppelte Boden" in einer druckfrischen Neuauflage vor – ergänzt durch vier Essays und ein weiteres, aber kürzeres Gespräch von 1991. Ein ebenfalls sehr eindringliches, erhellendes und lebendiges Buch. Allerdings wird es leider nicht von einem Tondokument flankiert.
Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki schaut in die Kamera
Marcel Reich-Ranicki - Zwischen Selbstherrlichkeit und Genialität
Marcel Reich-Ranicki überlebte die Hölle des Warschauer Juden-Ghettos. In Deutschland stieg er nach dem Krieg schnell zum streitbaren Großkritiker auf. Dabei wurde er verehrt und gehasst: als FAZ-Literaturchef genauso wie als Leiter des "Literarischen Quartetts" im ZDF.
Es fällt auf, dass es ausschließlich Männer sind, die sich mit Reich-Ranicki befassen. Ihre Bücher haben auch etwas von einer Zeitreise in den männlich dominierten Literaturbetrieb der alten Bundesrepublik. Viele der Autoren waren übrigens beruflich mit dem Porträtierten verbandelt. So etwa Uwe Wittstock, Reich-Ranickis Kollege bei der FAZ, und Thomas Anz, sein Nachlassverwalter. Beide haben in den letzten Jahren Biografien über Reich-Ranicki geschrieben, die eine sehr schön erzählerisch, die andere in thematische Blöcke gegliedert. Beide Bücher sind jetzt in aufgefrischten Neuauflagen nochmals herausgekommen. Im Ton sind alle bisher erwähnten Annäherungen respektvoll, gelegentlich sogar ehrerbietig.
"Das Duell"
Auch Kritiker Volker Weidermann kannte Marcel Reich-Ranicki gut. Zunächst arbeitete er mit ihm zusammen bei der Frankfurter Allgemeinen. Später wurde er Reich-Ranickis Nachfolger als Gastgeber im "Literarischen Quartett". In seinem neuen Buch "Das Duell" wagt er allerdings eine sehr eigenwillige und auch krachende Annäherung an den Großkritiker. Weidermann erzählt darin die Doppelbiografie der Antipoden Marcel Reich-Ranicki und Günter Grass. Beide in den 1920er-Jahren in Polen geboren. Beide deutschsprachig. Doch: der eine Jude, der andere seit 1944 Mitglied der Waffen-SS. Volker Weidermann:
"Er war Reich-Ranicki unglaublich wichtig. Er war ihm der wichtigste Gegner, kann man schon sagen. Vom ersten Buch an. Sie haben sich getroffen, als "Die Blechtrommel" noch gar nicht erschienen war, in Warschau. Und Günter Grass erzählte ihm das Werk, das ihm 50 Jahre später den Nobelpreis einbringen würde. Und Reich-Ranicki war damals noch kein Kritiker. Wenige Wochen danach ist er überhaupt in die Bundesrepublik übergesiedelt. Also, von der ersten Sekunde ihres öffentlichen Wirkens an waren die beiden miteinander bekannt und ineinander verkeilt. Und diese deutsch-deutsche Literaturgeschichte hat mich einfach mehr beeindruckt als jede andere."
Eine Hassliebe mit etlichen öffentlich oder halböffentlich ausgetragenen Gefechten. Diesen Konfliktgehalt arbeitet Weidermann sehr scharfsinnig heraus und gibt den weitestgehend bekannten Biografien der beiden Literaturriesen durch Reibung und Rivalität neue erzählerische Energie.
"Kritik für alle"
Etwas zurückhaltender geht es zu guter Letzt der Germanist und Feuilletonforscher Gunter Reus an. In seinem neuen Buch "Marcel Reich-Ranicki. Kritik für alle" sucht er nicht das Getümmel, sondern wirft ein Schlaglicht auf Marcel Reich-Ranickis Arbeit – nicht als Kritiker, sondern als Journalist.
"Es gibt in unserem Fach etwa eine Reihe von 20 Qualitätskriterien, die man generell an Journalisten, an journalistische Qualität anlegt. Das ist zum Beispiel Unabhängigkeit von Einflussinteressen, Vielfalt, Verständlichkeit, Aktualität, Korrektheit, Relevanz und so weiter. Und ich habe das einfach mal zusammengestellt und versucht, an seinen Rezensionen, an seinem Werk zu schauen, ob er die alle erfüllt. Und meine These oder das, was ich in dem Buch verfolge, ist zu zeigen, dass er sie fast alle wirklich mustergültig erfüllt hat. Vor allem die Qualität der Unabhängigkeit."
Großer Einfluss auf den Literaturbetrieb
Gunter Reus war mit Marcel Reich-Ranicki nicht persönlich bekannt. Anerkennung aber spricht auch aus seinem Buch, das klug und kenntnisreich und trotz seines wissenschaftlichen Hintergrunds gut lesbar und passagenweise sogar humorvoll ist. Es lädt auch dazu ein, weiterzudenken: Was ist ein gutes Feuilleton? Nach welchen Kriterien urteilt Literaturkritik? Und welche neuen Formen von Literaturkritik entstehen im digitalen Zeitalter?
Zu seinem 100. Geburtstag wird Marcel Reich-Ranicki also üppig beschenkt: mit einer CD-Box, drei neuen Büchern und auch einigen älteren Publikationen, die überarbeitet wurden und nun nochmals erscheinen. Normalerweise schreiben Literaturkritiker über andere. Ihnen selbst wird diese Ehre selten zuteil. Bei Marcel Reich-Ranicki ist das anders. Er ist wohl der einzige Kritiker, der eine solche Berühmtheit erlangt hat, auch über seinen Tod im Jahr 2013 hinaus. Bemerkenswert ist nicht nur die Zahl der Bücher, die sich mit seinem Leben und seiner Arbeit befassen, sondern auch ihre inhaltliche und stilistische Vielfalt. Sie zeugen von dem großen Einfluss, den Marcel Reich-Ranicki auf den Literaturbetrieb hatte, und von dem tiefen Eindruck, den er hinterließ.
Paul Assall (Hg.): "Ich schreibe unentwegt ein Leben lang. Marcel Reich-Ranicki im Gespräch"
Piper Verlag, München. 160 Seiten, 12 Euro.
Paul Assall (Hg.): "Ich schreibe unentwegt ein Leben lang. Marcel Reich-Ranicki im Gespräch"
Osterwold Audio, Hamburg. 4 CDs, 274 min, 14 Euro.
Thomas Anz (Hg.): "Der doppelte Boden: Ein Gespräch über Literatur und Kritik mit Peter von Matt"
Kampa Verlag, Zürich. 288 Seiten, 25 Euro.
Thomas Anz: "Marcel Reich-Ranicki: Sein Leben"
Insel Verlag, Berlin. 260 Seiten, 12 Euro.
Uwe Wittstock: "Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie"
Piper Verlag, München. 432 Seiten, 14 Euro.
Volker Weidermann: "Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki"
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 320 Seiten, 22 Euro.
Gunter Reus: "Marcel Reich-Ranicki. Kritik für alle"
Theiss Verlag, Darmstadt. 224 Seiten, 25 Euro.