Freitag, 19. April 2024

Archiv

Zum 150. Geburtstag
Zeitreise mit Tonhalle-Orchester Zürich

1868 gründete sich die Zürcher Tonhalle Gesellschaft. Sie wurde Träger des renommierten Tonhalle-Orchesters. Zu dessen 150-jährigem Bestehen ist eine 14 CD-Box bei Sony Classical erschienen. Eine spannende akustische Zeitreise, die viel verrät über den Wandel von Orchesterklang und Interpretationsideal.

Am Mikrofon: Elisabeth Richter | 29.04.2018
    Das Tonhalle-Orchester Zürich
    Das Tonhalle-Orchester Zürich (Paolo Dutto)
    Musik: Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 2 c-Moll, Dirigent: David Zinman
    "In ruhig fließender Bewegung" ist dieser dritte Satz aus Gustav Mahlers zweiter, der "Auferstehungs-Sinfonie" überschrieben. Das Tempo ist mit Bedacht gewählt, nicht zu schnell. Ein tänzerischer Swing durchpulst die Musik. Der fließende Charakter kann sich frei entfalten. Mahler verwendete hier sein Klavierlied "Des Antonius von Padua Fischpredigt" aus seinen "Wunderhorn-Liedern". Man hört förmlich das sanft bewegte Wasser, in dem die Fische munter herumschwimmen und zuweilen wohl keck die Nase aus dem Wasser stecken.
    Musik: Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 2 c-Moll, Dirigent: David Zinman
    David Zinman steht am Pult des Tonhalle-Orchesters Zürich bei Gustav Mahlers "Auferstehungs-Sinfonie". Stattliche 19 Jahre war der Amerikaner Chefdirigent des Ensembles. Nur Friedrich Hegar und Volkmar Andreae, die beiden ersten Chefdirigenten, kommen auf eine längere Amtszeit. Der "Zinman-Ton" klingt bis heute weit über Zürichs Grenzen hinaus. Ein wohlbalancierter, rhythmisch kontrollierter Orchesterklang, der analytisch klar kompositorische Strukturen offenlegt, Farbnuancen genau abstimmt. Auch wenn die Gesamtaufnahme aller Beethoven-Sinfonien unter Zinman legendär geworden ist, so wählte man für die 14 CD-Box zum 150-jährigen Orchester-Jubiläum doch Mahlers "Auferstehungs-Sinfonie". Denn für Mahler schlägt das Herz von David Zinman wohl am stärksten.
    Musik: Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 2 c-Moll, Dirigent: David Zinman
    Der Klang des Zürcher Tonhalle Orchesters veränderte sich natürlich im Lauf der Zeiten. Mit David Zinman als Chefdirigent ab der Saison 1995/96 hatte man sich endgültig vom breiten, romantischen Sound in der Tradition des 19. Jahrhunderts verabschiedet und war im musikalisch sachlicheren Hier und Jetzt angekommen. Alle Aufnahmen dieser 14 CD-Box sind live in der Tonhalle in Zürich entstanden, die früheste im Dezember 1942. Am Pult der zweite, damals 63-jährige Chefdirigent Volkmar Andreae bei Bruckners siebter Sinfonie.
    Musik: Anton Bruckner, Sinfonie Nr. 7 E-Dur, Dirigent: Volkmar Andreae
    Der schweizerische Dirigent und Komponist Volkmar Andreae stand dem Tonhalle-Orchester von 1906 bis 1949 vor. Bruckner fühlte er sich seelenverwandt, das vermittelt sich stark in dieser historischen Aufnahme. Andreae realisierte die früheste Gesamteinspielung von Bruckners Sinfonien überhaupt, allerdings mit den Wiener Symphonikern. Die siebte Sinfonie mit dem Tonhalle-Orchester Zürich lebt von seinem Gespür für weite Bögen und klugem Spannungsaufbau. Der Ton ist groß, romantisch, dennoch badet Andreae nicht im Klang. Im Gegenteil, das Scherzo nimmt er mit einer erfrischenden Wildheit.
    Musik: Anton Bruckner, Sinfonie Nr. 7 E-Dur, Dirigent: Volkmar Andreae
    Romantik mit transparentem Orchesterklang
    Der Musik-Journalist Peter Hagmann, langjähriger Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung hat gemeinsam mit der Tonhalle-Intendantin Ilona Schmiel die Radioarchive gesichtet und die Aufnahmen für die Jubiläums-Box zusammengestellt. Große Chefdirigenten wie Hans Rosbaud oder Rudolf Kempe gehören dazu. Auch die Liste der Gastdirigenten kann sich hören lassen, darunter etwa Bernard Haitink, Lorin Maazel, Frans Brüggen, Heinz Holliger oder Herbert Blomstedt. Kernrepertoire ist die Romantik mit zehn von insgesamt 22 Werken der Box. Schumann, Berlioz, Dvořák, Saint-Saëns sind zum Beispiel vertreten. Drei Bruckner-Sinfonien laden zum Vergleichen ein. Volkmar Andreaes Einspielung der siebten Sinfonie von 1942 stehen die Aufnahmen der fünften Sinfonie mit Bernard Haitink von 2009 und der neunten Sinfonie mit Herbert Blomstedt von 2014 gegenüber. Beide sind große Bruckner-Exegeten. Beide profitieren von ihrer Weisheit und Gelassenheit des Alters. Sie handhaben die große Architektur dieser Sinfonien mit unglaublichem Gespür für die Balance der Mittel, nichts ist überzeichnet, alles hat aber Kraft und Transparenz. Atemberaubend die brennende Intensität in Bruckners, in manchen Passagen so moderner neunter Sinfonie mit Herbert Blomstedt.
    Musik: Anton Bruckner, Sinfonie Nr. 9 d-Moll, Dirigent: Herbert Blomstedt
    Das Tonhalle-Orchester Zürich empfiehlt sich auf diesen 14 CDs mit einer durchgehend bemerkenswerten strukturellen Transparenz des Orchesterklangs. Eine Erklärung wäre, dass häufig Komponisten am Pult am standen. Da waren die ersten drei Chefdirigenten Friedrich Hegar, Volkmar Andreae und Erich Schmid. Und da war Othmar Schoeck als Gastdirigent, einer der wichtigsten schweizerischen Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er dirigiert in dieser Sammlung sehr ausdrucksstark Schumanns vierte Sinfonie. Als Komponist ist er mit seiner Oper "Penthesilea" vertreten, die recht sachlich in Händen von Gerd Albrecht, Chefdirigent von 1975 bis 1980, liegt.
    Neue Musik mit Präzision und Kompromisslosigkeit
    Werke von lebenden zeitgenössischen Komponisten gehören ebenfalls zum Kanon der 150 Jahre-Jubiläums-Box. Faszinierend ist hier zum Beispiel der Komponist, Dirigent und Oboist Heinz Holliger, der sein Violinkonzert "Hommage a Louis Soutter" leitet. Gemeint ist der psychisch labile schweizerische Maler der Art Brut. Die Solo-Violine spielt Thomas Zehetmair.
    Musik: Heinz Holliger, Violinkonzert "Hommage a Louis Soutter", Dirigent: Heinz Holliger
    Eindrücklich sind die Präzision und die Kompromisslosigkeit, aber auch die Passion und zuweilen die Obsession, die Heinz Holliger als Dirigent und Komponist bei seinem Violinkonzert "Hommage a Louis Soutter" gemeinsam mit dem Geiger Thomas Zehetmair vermittelt. Das geht bei aller Komplexität stark unter die Haut. Andere zeitgenössische Komponisten, die auf der 14 CD-Box zum 150-jährigen Jubiläum des Tonhalle-Orchesters Zürich eingespielt wurden, sind zum Beispiel Rolf Urs Ringger mit seinem Werk "Nachhall", dessen sinnliche Farben von Hiroshi Wakasugi einfühlsam umgesetzt werden. Oder: Sylvain Cambreling dirigiert Witold Lutosławskis "Livre pour orchestre" mit einem schillernden Klangspektrum.
    Die Klassik nimmt in dieser Edition mit zwei Beethoven-Sinfonien, einer Haydn-Sinfonie und einer eher frühromantischen Schubert-Sinfonie eine Nebenrolle ein. Spannend ist die Gegenüberstellung zweier Sichtweisen auf Beethoven von Frans Brüggen und Rudolf Kempe.
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 5 c-Moll, Dirigent: Rudolf Kempe
    Beethovens fünfte Sinfonie in der durchaus emphatischen Interpretation von Rudolf Kempe lebt noch vom großen romantischen Orchesterklang. Anders dagegen die Handschrift von Frans Brüggen bei Beethovens erster Sinfonie, die die rhetorischen Elemente der Musik herausstellt und von der historischen Aufführungspraxis geprägt ist.
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 1 C-Dur, Dirigent: Frans Brüggen
    Klingende Dokumentation der Orchestergeschichte
    Frans Brüggen war ab 1992 einer der ersten Dirigenten beim Tonhalle-Orchester Zürich, die auf der Grundlage der historischen Aufführungspraxis mit dem Ensemble arbeiteten. David Zinman, der ja fast 20 Jahre in Zürich wirkte, konnte mit seinem so durchsichtig, analytischen Stil daran anknüpfen. Diese Jubiläums-CD-Box ist eine klingende Dokumentation von über 70 Jahren Orchestergeschichte. Große Dirigenten und eine stilistisch vielfältige Repertoireauswahl geben so auch ein spannendes Bild vom Wandel der Interpretationsideale.
    Musik: Hector Berlioz, Symphonie fantastique, Dirigent: Lionel Bringuier
    Das war "Die neue Platte" in Deutschlandfunk, heute über die 14 CD-Box zum 150-jährigen Jubiläum des Tonhalle-Orchesters Zürich, zuletzt mit einem Ausschnitt aus der Symphonie fantastique von Hector Berlioz, dirigiert von Lionel Bringuier, dem derzeitigen Chefdirigenten. Ab der Saison 2019/20 wird diese Position der Este Paavo Järvi übernehmen. Die Box ist bei Sony Classical erschienen.
    "Celebrating 150 Years Tonhalle-Orchester Zürich" (14 CD-Box)

    Dirigenten u. a.: Volkmar Andreae, Othmar Schoeck, Hans Rosbaud, Rudolf Kempe, Frans Brüggen, Heinz Holliger, Lorin Maazel, Herbert Blomstedt, Sylvain Cambreling, David Zinman, Lionel Bringuier

    Musik u. a. von Bruckner, Schoeck, Dvořák, Haydn, Berlioz, Mahler, Schubert, Beethoven, Holliger, Busoni

    Sony 88985495052