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Zum 50. Todestag von Theodor W. Adorno
„Philosophie vom Standpunkt der Erlösung aus“

Er gilt als einer der geistigen Väter der deutschen Studentenbewegung: der Philosoph Theodor Wiesengrund Adorno, einer der deutschen Meisterdenker des 20. Jahrhunderts. Er ist am 6. August 1969 in der Schweiz gestorben. Sein Denken erfreut sich eines wachsenden Interesses unter Theologen.

Von Henning Klingen | 06.08.2019
Ein Nahaufnahme von Theodor W. Adorno vor schwarzem Hintergrund. Er trägt eine Hornbrille und schaut aufmerksam dem Betrachter entgegen.
"Adorno gilt gewissermaßen als ein ‚Rettungskommando‘", sagt Thomas Schmidt von der Universität Frankfurt über das neue theologische Interesse an Adornos Denken (picture-alliance / dpa / Bifab)
Wenn man sich auf die Suche nach religiösen oder theologischen Motiven im Werk eines Philosophen begibt, kann man das über die Biografie, also über die religiöse Prägung etwa in der Kindheit tun; oder aber man geht werkgeschichtlich vor und durchstöbert die Schriften.
Im Fall des Philosophen Theodor Adorno stößt man bei einem solchen Tauchgang etwa auf eine katholische Mutter und auf einen Vater jüdischer Herkunft. Das war’s aber auch schon, denn religiös "musikalisch" war der junge Adorno nie.
"Hitler hat Adorno wieder zu einem Juden gemacht"
Dass er sich dennoch mit theologischen Fragen beschäftigte und diese an entscheidenden Stellen seiner Philosophie aufblitzen, hat dem Frankfurter Philosophen Thomas Schmidt zufolge mit Adornos besonderer Kultur- und Geschichtssensibilität zu tun – konkret: mit der Erfahrung von Auschwitz und der Judenvernichtung.
Thomas Schmidt: "Ich denke, man muss grundsätzlich unterscheiden zwischen einer intellektuellen Neugier oder einem intellektuellen Interesse Adornos an theologischen Motiven und an einer biografischen Prägung durch Religiosität. Ich glaube, dass seine intellektuelle Neugier an Theologie größer war als die Prägung durch die Religiosität des Elternhauses. Es kommt natürlich hinzu, dass Adorno sich später sehr stark dem Judentum seines Vaters wieder angenähert hat. Es gibt von einer bekannten Publizistin, die mit Adorno befreundet war, diesen Ausspruch, dass nicht der tolerante und assimilierte Vater, sondern letztlich Hitler Adorno wieder zu einem Juden gemacht habe."
Vernunftkritik mit religiösem Bilderschatz
In seinem gemeinsam mit Max Horkheimer im US-Exil verfassten und 1944 erstmals veröffentlichen Werk "Dialektik der Aufklärung" geht Adorno der Frage nach, wie es sein kann, dass eine aufgeklärte moderne Gesellschaft wieder zurück in die Barbarei fallen kann, die in Auschwitz kulminierte. Die Antwort der Philosophen: Die Geschichte der Vernunft ist eine Geschichte der Machtausübung und der Unterwerfung – in deren Folge sich der Mensch zunächst aus dem Würgegriff der Religion befreit, dann aber neuen Göttern unterworfen hat, so der Philosoph Thomas Schmidt:
(L-r) Der Schriftsteller Heinrich Böll, der Soziologie-Professor Theodor Adorno und der Verleger Siegfried Unseld hören am 28.5.1968 bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main einem Vortrag zu.
Adorno mit dem Schriftsteller Heinrich Böll (li) und dem Verleger Siegfried Unseld (r), 1968. (picture-alliance / dpa / Manfred Rehm)
"Also, Adorno und Horkheimer haben sich ja beide gerade in der ‚Dialektik der Aufklärung‘, aber auch in anderen Werken, explizit auf den religiösen Bilderschatz und theologische Denkfiguren bezogen, um genau eine Vernunftkritik vor ihrem Steril-Werden oder Autoaggressiv-Werden zu bewahren. Man muss sich einmal die Geschichte der Dialektik der Vernunft vor Augen halten: Das ist der Gedanke, dass die Vernunft sich von den alten Göttern befreit, selbstbewusst wird, aber sich dabei neuen Mythologien unterwirft: also dem technischen Fortschritt, dem Konsum, dem wirtschaftlichen Erfolg. Und man muss sich vor Augen halten, was man hinter sich gelassen hat, wovon man sich befreit hat auch in religiöser Hinsicht, um nicht neuen Göttern zu verfallen."
Gott als dunkle Hoffnung?
Doch der Gottesgedanke ist bei Adorno mehr als nur ein Platzhalter einer eigentlich überkommenen Geschichte der Aufklärung: Er steht für eine dunkle Hoffnung – die Hoffnung darauf, dass der Verblendungszusammenhang, der laut Adorno den Menschen gefangen hält, nicht alles ist; dass der Weg in die Barbarei nicht der vorgezeichnete Weg des Menschen in der Moderne ist. Muss es nicht eine Gerechtigkeit geben, die über dieser dunklen Geschichte steht? Eine Gerechtigkeit, die die Opfer der Geschichte nicht verloren gibt, die ihren Schrei der Verzweiflung nicht überhört? Noch einmal Thomas Schmidt:
"Für Adorno hat Wahrheit, hat Erkenntnis, immer dieses emphatische Moment einer absoluten Versöhnung: Das, was wir erkennen wollen - die Objektivität, die Natur, das dem erkennenden Subjekt gegenübersteht – soll letztlich mit der Subjektivität versöhnt sein. Subjekt und Objekt, Geist und Natur sollen sich versöhnen: Das ist der Gedanke einer absoluten Erkenntnis. Also der Gedanke an Erlösung, an Versöhnung wird von Adorno sehr stark über die Frage der Wahrheit und einer unbedingten Erkenntnis eingeführt."
Wahrheit und Erlösung
Ihren vielleicht stärksten Ausdruck findet diese Verbindung von Wahrheit und Erlösung bei Adorno im letzten Text seiner berühmten Aphorismen-Sammlung "Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben". Der Text trägt den Titel "Zum Ende" – und tatsächlich liest er sich wie ein Vermächtnis. Er hebt an mit den Sätzen:
"Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik."
Beeindruckt von solchen Sätzen zeigt sich auch der evangelische Theologe Ralf Frisch – Professor für Systematische Theologie und Philosophie an der Evangelischen Hochschule Erlangen. Er hat sich in seiner Doktorarbeit mit den theologischen Aspekten im Werk Adornos auseinandergesetzt:
"Das ist theologisch, philosophisch schon sehr faszinierend, dass Adorno, der ja eigentlich davon überzeugt war, dass man an keinen Gott und keine Erlösung glauben könne, ganz stark davon beseelt war, dass man trotzdem an der Hoffnung auf Erfüllung festhalten müsse und zugleich wissen müsse, dass das Bewusstsein der Unerfüllbarkeit dieser Hoffnungen genauso stark sein muss", sagt Frisch.
Keine "theologische Wende" bei Adorno
Also doch am Ende eine "theologische Wende" bei Adorno? So weit würden weder der Philosoph Thomas Schmidt noch der Theologe Ralf Frisch gehen. Denn der am Ende geöffnete Türspalt der Hoffnung lasse sich nicht trennen von der vollkommen illusionsfreien Negativität, mit der Adorno den Geschichtsverlauf betrachtet. Und genau dieses Zusammenspiel begeistere heute wieder vermehrt Studenten für Adorno. Und es sollte auch die Theologie nicht unberührt lassen.
Adorno steht in seinem Büro am Schreibtisch.
Theodor W. Adorno in seinem Büro, 1958 (picture alliance / IMAGNO / Franz Hubmann)
Noch einmal Ralf Frisch: "Ich glaube, die Sorge, dass diese Narrative des Ärmelhochkrempelns, sage ich mal etwas augenzwinkernd-despektierlich, dass die nicht nur naiv sind, sondern die ganze Tragweite der Versehrung des Menschen, seiner Kultur und Geschichte bagatellisieren. Diese Sorge teilte Karl Barth und diese Sorge teilte natürlich auch Adorno. Und was ich bei beiden faszinierend finde ist, dass sie einen Ausweg aus dieser geschichtsphilosophischen und realitätsskeptischen Analyse nur dadurch finden können, dass sie sagen: Wir müssen uns eine Wirklichkeit vorstellen, die die Erlösung herbeiführt, die jenseits unserer Möglichkeit ist, die wir aber unter den Bedingungen moderner Erkenntnistheorie und eines profanen Zeitgeistes fast nur als ästhetische Fiktion thematisieren können."
Mit Adorno die Theologie retten?
Thomas Schmidt geht noch einen Schritt weiter und sieht in der Art, wie Adorno versucht, theologische Motive aus dem Dunstkreis des Weihrauchs in die Arenen moderner Vernunft zu übersetzen, gar so etwas wie ein theologisches "Rettungskommando":
"Mir scheint, dass das Interesse von Theologen an den theologischen Spurenelementen in Adornos Denken viel größer ist als in der Philosophie. Adorno hat ja Ausdrücke benutzt wie ‚inverse Theologie‘ oder er sprach von der ‚Rettung theologischer Motive im Profanen‘. Das macht Adorno natürlich für Theologen interessant, die sich fragen: Was kann denn unter modernen, wissenschaftlichen, kulturellen, pluralistischen Bedingungen an einem theologischen Erbe noch gerettet werden? Also Adorno gilt gewissermaßen als ein ‚Rettungskommando‘, als ein Versuch, das Theologische unter modernen Bedingungen zu bergen und zu bewahren."