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Zum 500. Geburtstag des Malers Jacopo Tintoretto
Himmelsstürmer zwischen Reformation und Renaissance

Vor 500 Jahren wurde er in Venedig geboren: der italienische Maler Jacopo Tintoretto. Bis heute gilt er als einer der produktivsten Maler der Geschichte. Viele seiner Bilder behandeln biblische Themen. Tintoretto selbst war Katholik, sympathisierte aber mit reformatorischen Ideen.

Von Kirsten Serup-Bilfeldt | 25.04.2018
    Ein Mann läuft an einem Selbstporträt Jacopo Tintorettos (um 1547, Öl auf Leinwand) in Rom vorbei.
    Jacopo Tintoretto bewegte sich in zwei Welten - entsprechend war auch sein Spiel mit Licht und Schatten ausgeprägt (AFP PHOTO / Filippo Monteforte)
    Tintoretto, vor 500 Jahren geboren, hat die Welt verändert. Oder zumindest die Kunstwelt. Er war ein Himmelsstürmer. Er schuf eine aus den Fugen geratene Bilderwelt. War er ein rasender Träumer? Oder gar der 'genialste Geist, den die Malerei je besaß'? Sicher ist: Er ist so anders als ein anderer ganz Großer, als Leonardo da Vinci.
    Eine Versammlung würdiger Männer an einem langen Tisch, der mit Brot und Wein gedeckt ist. Gerade muss etwas Einschneidendes geschehen sein. Etwas, das alle aufgewühlt hat und je nach Temperament mit Zorn, Fassungslosigkeit oder Trauer erfüllt. Nur die lichtumflossene Figur in der Tischmitte scheint seltsam unberührt von dem Geschehen. In einer spontanen Geste hält sie die linke Hand geöffnet, wohl um das eben Gesagte zu bekräftigen.
    Es ist eines der berühmtesten Bilder der Welt: Leonardo da Vincis Fresko "Das Abendmahl", um das Jahr 1497 gemalt, für die Kirche 'Santa Maria delle Grazie' in Mailand. Das Bild hält den dramatischsten Augenblick des Abendmahls fest, den der tiefsten seelischen Erschütterung aller: Soeben hat Jesus an seine Jünger die Worte gerichtet:
    "Einer unter euch wird mich verraten."
    Das Fresko "Das Letzte Abendmahl" von Leonardo da Vinci in der Mailänder Kirche "Santa Maria delle Grazie".
    Das Fresko "Das Letzte Abendmahl" von Leonardo da Vinci in der Mailänder Kirche "Santa Maria delle Grazie". (picture alliance / dpa / ANSA)
    Leonardo hat den Schrecken und die Bestürzung der Tischgesellschaft eingefangen. Dennoch präsentiert er dem Betrachter diese dramatische Szene geordnet, strukturiert, kontrolliert. Sämtliche Fluchtpunktlinien laufen auf die Stirn Jesu in der Bildmitte zu. Im Hintergrund verleiht die streng geometrische Wandaufteilung dem Bild Gliederung, Maß und Rahmen. Die ganze Darstellung atmet einen sorgsam aus-tarierten Gleichklang von Individualität und Gemeinschaft, von Bewegung und Ruhe.
    Ein chaotisches Abendmahl
    Struktur? Kontrolle? Gleichklang? Ruhe? Davon kann hier keine Rede sein: ein wüstes Durcheinander. Wild gestikulierende Menschen mit verrenkten Gliedmaßen, vermutlich kurz davor, über Tisch und Bänke zu gehen. Fast könnte der verwirrte Betrachter fürchten, gleich Augenzeuge einer Kneipenschlägerei zu werden. Auch hier ein langer Tisch, aber halb umgestoßen. Darauf Weinflaschen, Kelche, Schalen mit Früchten. Bedienstete hasten linkisch hin und her und vergrößern so das Chaos noch. Die Figuren scheinen aus dem Bild zu springen. Alle äußere Ordnung ist zusammengebrochen durch Jesu Ankündigung des Verrats. Ebenmaß und Harmonie sind durch die auseinanderstrebenden Linien aufgelöst, Konturen treten schroff hervor. Ein Kontrast aus gespenstischer Dunkelheit und gleißendem Licht. Das alles vermittelt ein Gefühl der Beunruhigung und Unsicherheit.
    Jacopo Tintorettos "Abendmahl", 1594 für die Kirche "San Giorgio Maggiore" in Venedig gemalt, hat nichts von der würdevollen Innerlichkeit und der erhabenen Schönheit des Leonardo-Freskos. Stattdessen herrschen hier Chaos und Konfusion. Der komplizierte Bildaufbau, die rätselhaft-düstere Farbgebung, die heftigen Bewegungen der Figuren mit ihren verdrehten Körpern - all das bricht mit den herkömmlichen Abendmahls-Darstellungen: unbekümmert, herausfordernd, radikal.
    "Das letzte Abendmahl" von Jacopo Tintoretto ist am Mittwoch (01.06.2011) in Venedig auf der 54. Kunstbiennale Venedig zu sehen.
    Tintorettos Bild "Das letzte Abendmahl" ist von Chaos und einer eher bedrohlichen Atmosphäre geprägt (dpa / Felix Hörhager)
    Also kein frommes Andachtsbild? Was aber dann? Etwa die gezielte Provokation eines um Beachtung bemühten Künstlers?
    "Das ist tatsächlich diese Art von Aufmerksamkeit, die er sucht, eine Szene zu kreieren, die laut ist, in der Action ist und die den Betrachter sofort in den Bann schlägt und sich im Grunde die Frage aufdrängt: Bin ich überhaupt noch sicher vor dem, was dort im Bild geschieht?"
    Der Kunsthistoriker Alexander Linke:
    "Das ist ein Zug, den kann man tatsächlich über das gesamte Œuvre Tintorettos beobachten."
    Zwischen den religiösen Fronten
    Wie in einem Spiegel werfen Tintorettos ungebändigte, fiebrig-unruhige Bilder die religiösen und politischen Stürme seiner Zeit zurück. Sie sind bewegt, weil seine Zeit in Bewegung, nein, aus den Fugen geraten ist. Denn die Welt des Jacopo Robusti ist eine der Umbrüche, der Auflösung, der zerfallenden Gewissheiten. Als er vor 500 Jahren, am 29. September 1518 in Venedig als Sohn eines Seidenfärbers – "Tintoretto" bedeutet "Färberlein" - zur Welt kommt, ist seit dem Thesenanschlag Martin Luthers in Wittenberg erst ein Jahr vergangen. Und doch zeichnet sich ab, dass die alte Ordnung von geistlicher und weltlicher Macht ins Wanken gerät und ein neues Zeitalter anbricht.
    Zwei Pole beeinflussen Jacopo Robusti, genannt Jacopo Tintoretto, und zwar sein ganzes Künstler-Leben lang:
    "Reformation und Gegenreformation sind sicherlich zwei der ganz wichtigen Ereignisse, die sich an der Lebensspanne von Tintoretto festmachen lassen. Tintoretto lebt aber fast das gesamte Jahrhundert hindurch - er stirbt erst 1594 - venezianischer Kunst- und Kulturgeschichte."
    Maestro Jacopo - drei Vorbilder will er in seiner Kunst vereinen: Michelangelos Zeichnung, Tizians Farbe und Raffaels Dekorum. Das ist sein - einigermaßen tollkühnes - Lebensmotto. Damit prägt er seine Zeit. Und die Zeit prägt ihn.
    Ebenso wie seine Heimatstadt Venedig. Die mächtige Seerepublik zählt im 16. Jahrhundert zu den bedeutendsten Metropolen Europas. Ihr Glanz und Ruhm wird befördert von den Dogen und alten Adelsfamilien, von reichen Kaufleuten, Handwerkern, Künstlern und Musikern. Die christlichen Bruderschaften mit ihren lukrativen Aufträgen an berühmte Maler verhelfen der venezianischen Kunst zu Weltruhm. Florenz hat die Medici, Rom die Päpste, aber Venedig ist die Königin unter den italienischen Städten - die "Serenissima", die Heitere.
    Außerdem ist die Stadt des Heiligen Markus ein Schmelztiegel unterschiedlicher Nationen und Konfessionen. Da ihr vorrangig an florierenden Handelsbeziehungen mit den Osmanen im Orient und den protestantischen Ketzern in Deutschland gelegen ist, hat sie kaum Interesse daran, Andersgläubige zu verfolgen. Diese handelsorientierte Gelassenheit in Glaubensdingen begünstigt Ruf und Stellung der Stadt:
    "Toleranz ist ein Stichwort, was immer wieder im Zusammenhang mit Venedig genannt wird. Bei genauerem Hinsehen stellt sich diese Toleranz doch als ein sehr gut kalkulierter Schutz des Marktes dar. Die venezianische Regierung achtet sehr darauf, dass ihre Handelsbeziehungen intakt bleiben und dass dort niemandem auf die Füße getreten wird. Religiöse Bedenken sind da eher zweitrangig. Ich glaube, was man beim Thema Religion noch hinzunehmen sollte ist, dass Venedig ja nicht nur eine Art Auseinandersetzung mit dem Protestantismus hatte, sondern 1516 dort ja auch das Ghetto eingerichtet wird und natürlich Venedig sich auch auszeichnet als eine Stadt, die mit dem griechisch-orthodoxen und auch dem islamischen Kulturraum Kontakt hat über Handelsbeziehungen und dass man dort eben eine Konstellation hat, die fast einzigartig ist in Europa."
    Offenheit für neue Wege
    Und noch etwas macht Venedig so attraktiv: die Entfernung von Rom.
    "Man muss sich klarmachen, dass in Venedig die römische Kurie einen sehr zurückgedrängten Einfluss hatte. Der Patriarch von Venedig hatte am äußersten Stadtrand seinen Patriarchensitz und das Zentrum der Stadt liegt weit von seinem Einflussgebiet. Insofern hatte Rom nie so einen großen Einfluss auf den venezianischen Kern; und da haben sich nun eine ganze Menge unterschiedlicher Strömungen breitgemacht."
    Die Distanz zu Rom, zu Lehre und Dogma der Katholischen Kirche und der Einfluss des Humanismus begünstigen ein ganz besonderes Klima in der Lagunenstadt: eine ungewöhnliche Offenheit für Kunst, Kultur, Musik, Geselligkeit.
    Das Leben als Fest, als Theaterinszenierung - und Venedig als große Bühne. In einem Wirbel aus prachtvollen Kostümen, Juwelengefunkel und Puderstaub präsentiert sich die - katholische - Strahlkraft der Stadt. Gleichzeitig gedeiht in dieser offenen Atmosphäre ein Interesse an den reformatorischen Ideen jenseits der Alpen. Bereits ab 1520 finden Luthers Schriften in Venedig rege Verbreitung. Die Stadt, in der viele Konfessionen zu Hause sind, wird zum reformatorischen Mikrokosmos Italiens. In dieser Atmosphäre der Gegensätze lebt und arbeitet Tintoretto:
    "Die verschiedenen Schichten, die Adelsschichten, vor allem aber die wohlhabende Kaufmannsschicht, die ja den Reichtum Venedigs über so viele Jahrhunderte ausmacht, Seefahrer, die den Handel mit dem Orient betreiben - all die versammeln sich in sogenannten Bruderschaften."
    Der Bildhauer und Kunsthistoriker Ulrich Forster:
    "Da wurden natürlich Themen vorgegeben, die sehr häufig unmittelbar mit dem Patron, mit dem Namensgeber dieser jeweiligen Schule zu tun hatten. Tintoretto hat für die 'Scuola di San Marco' mehrfach das Wunder des Heiligen Markus, also des großen Stadtpatrons von Venedig gemalt."
    Das Gemälde Tintorettos zeigt, wie der Heilige Markus den Sklaven vor seinen Häschern rettet. Der Heilige wird dabei kopfüber von oben kommend dargestellt.
    Der Heilige Markus rettet einen Sklaven vor dem Märtyrertod - mit der Darstellung des kopfüber hängenden Heiligen eckte Tintoretto bei seinen Zeitgenossen an (imago)
    Damit löst Tintoretto 1548, als seine Karriere noch am Anfang steht, einen Skandal aus. Kein Wunder. Die Frommen sind empört. Hat doch Maestro Jacopo den Heiligen Markus auf dem Kopf stehend dargestellt. Ein unerhörter Frevel.
    "Ein Gemälde, was übervoll ist von aufmerksamkeitserregenden Dingen: spektakuläre Verkürzungen und gewagte perspektivische Ansichten, Torsionen von Körpern, die anatomisch gar nicht so plausibel erscheinen, die aber in jeder Hinsicht darauf getrimmt sind, Aufmerksamkeit zu erregen, aufzufallen",
    erklärt der Kunsthistoriker Alexander Linke. Das Bild erzählt eine alte Legende: Ein zum Christentum bekehrter Sklave widersteht mit Hilfe des Heiligen Markus der Folter. Die Messer, mit denen ihm die Augen ausgestochen werden, zersplittern, der Hammer, der ihm den Kiefer zertrümmern soll, wird weich wie Watte. Mit diesem Monumentalwerk erregt Tintoretto großes Aufsehen. Das Interesse an seinem Werk wächst, seine Auftragsbücher sind gefüllt. Nun bahnt er sich stürmisch-entschlossen seinen Weg in die venezianische Kunstszene. Mit einem Ziel: sie umzukrempeln, neue Wege zu gehen.
    Von Tizian verstoßen
    Tintoretto wird zum Künstler neuen Typs in einer neuen Zeit. Er ist nicht der beflissene Hof-Porträtist von Kaisern und Päpsten, auch nicht der Malerfürst, der seine Stellung allerhöchster Protektion verdankt. Nein, er ist ein ungestümer Aufsteiger aus kleinsten Verhältnissen, ein Getriebener, ein Radikaler. Einer, der althergebrachte Bildtraditionen beiseite fegt, der den Bildraum weit aufreißt, der mit rasanter Geschwindigkeit seine Figuren auf riesige Leinwände wirft. Der Historiker Arne Karsten schreibt:
    "Sein Markenzeichen waren neue, innovative, extravagante und hochdramatische Bildkompositionen in Verbindung mit spektakulären Lichteffekten, seine 'Maniera' - ein Begriff, der prägend werden sollte für den Kunststil einer ganzen Epoche, den Manierismus. Zudem entwickelte sich Tintoretto zu einem berühmt-berüchtigten Schnellmaler, der, so ein spöttischer Zeitgenosse, bereits das fertige Bild lieferte, während die Konkurrenten noch an ihren Entwürfen saßen."
    "Über seine ganze Zeit hin ist er einer, der sehr stark im Stil sich immer wieder wandelt, was ihn zu einem nicht ganz einfach zu konsumierenden Künstler macht. Es gibt unglaublich feinsinnige Malerei, unglaublich elegante Werke. Dann aber auch Werke, wo man das Gefühl hat: Meine Güte, ist das alles wild und geschmiert und sehr viel sehr Düsteres, mit grobem Pinselstrich Gemaltes," sagt der Bildhauer und Kunsthistoriker Ulrich Forster.
    Ein Gemälde von Tintoretto zeigt den Dogen Alvise Mocenigo und seine Familie, die um die Jungfrau Maria geschart sind
    Jacopo Tintoretto schaffte es, auf dem Porträt der Dogenfamilie noch die Heilige Familie unterzubringen (imago stock&people)
    Doch Tintoretto malt nicht nur Figuren, er erfindet Welten, erzählt Geschichten, bewegt sich spielerisch zwischen Realität und Fantasie. Seine künstlerischen Ziele verfolgt er mit einer Obsession, die Freundschaften kostet und Rivalitäten schafft. Bei Tizian geht er in die Lehre - doch der wirft ihn hochkant aus seinem Atelier. Ob der alte Meister neidisch ist angesichts des Talents des jungen Heißsporns? Auch mit seinem großen Kollegen Paolo Veronese verbindet Tintoretto eine komplizierte Beziehung voller Argwohn und Eifersucht, sagt Kunsthistoriker Alexander Linke:
    "So eine Art männlicher Zickenkrieg! Das muss man tatsächlich sagen: Tintoretto und Veronese waren Rivalen und das Ganze ist von Tizian mitorchestriert worden. Tizian, der sich mehr und mehr zurückzieht, hat im Hintergrund immer wieder versucht, Fäden zu ziehen, die Veronese begünstigten und hat auch aktiv versucht, Tintorettos Entwicklung zu behindern. Und das erklärt auch, warum Tintoretto immer wieder so rabiat auftritt, mit Gemälden auf dem Kunstmarkt erscheint, die Aufmerksamkeit erregen."
    Diese Gemälde spiegeln Alltag, Lebenswirklichkeit und Frömmigkeit Venedigs wider. Tintoretto malt Heilige und Adlige, bewegt sich geschmeidig zwischen Palazzi und Kathedralen. Hier das stille, schöne Gesicht einer unbekannten vornehmen Venezianerin. Dann der heilige Rochus, der die Pestkranken heilt; oder die Bekehrung des Saulus - in einem wilden Rausch von Farben. Auch die Anbetung Christi durch die heiligen drei Könige kommt so ungestüm daher, dass der besorgte Betrachter um das Wohl des Jesuskindes fürchtet. Und immer wieder setzt sich Tintoretto auch mit den Ideen der Reformation auseinander. Dr. Alexander Linke sagt:
    "Tintoretto ist im Verlauf des Jahres 1547 in ein Viertel von Venedig gezogen, das 'Sestierre Canareggio' und hat dort die Kirche 'Madonna dell'Orto' als seine Pfarrkirche erhalten. Dort ist die Familie Contarini aktiv, die sich in vielfältiger Weise mit der Reformation auseinandergesetzt hat - beispielsweise 1541 auf dem Augsburger Religionsgespräch hat der Kardinal Gasparo Contarini als Unterhändler für Rom um solche Streitfragen wie zum Thema des Abendmahls verhandelt. Und das sind Leute, mit denen Tintoretto zu tun hatte. Dort ist tatsächlich ein recht reger Kreis mit Adligen, die sich mit der Frage von Reformation oder einer Reform des Glaubens innerhalb der Katholischen Kirche auseinandersetzten."
    "Tintoretto setzte seiner Hausbibel ein Monument"
    Ortswechsel - von Venedig nach Bamberg: Eine hochaufragende, weit ausgreifende Raumkonstruktion. In der Mitte die Gottesmutter, die wie in einem Wirbelsturm aus ihrem Grab emporsteigt. Mit diesem Bild, das heute in der "Oberen Pfarre" in Bamberg hängt, greift Tintoretto das Thema der Auferstehung Mariens auf.
    "Maria wendet sich, die Arme ausbreitend, Christus zu, der ihr vom Himmel fast entgegenstürzt. Er breitet ebenfalls die Arme aus, Maria zu umfangen. Seraphim schweben im Grab, in schimmernden Wolken und in der strahlenden Glorie hinter ihr, die eins ist mit dem aufsteigenden Licht des Tages. Staunend, betroffen ob des Wunders, dessen Zeugen sie sind, umdrängen die Apostel das Grab",
    schreibt der Schweizer Kunsthistoriker Erasmus Weddigen. Bezeugt der Künstler mit diesem Bild eine Neubelebung der Katholischen Kirche in gegenreformatorischer Zeit? Gibt er hier einem katholischen Triumphalismus ein Gesicht? Was für Fragen - man muss nur genau hinsehen! Liefert Meister Jacopo doch den Schlüssel mit zum Verständnis dieses ungewöhnlichen Altarbildes.
    Tatsächlich. Am unteren Bildrand, ganz auf Augenhöhe des Betrachters: Auf den Stufen eines steinernen Altars hat er die aufgeschlagenen Seiten einer Bibel gemalt. Es ist eine verbotene Bibelübersetzung - und des Künstlers eigene, private Hausbibel. Zwar ist der Besitz heterodoxer Literatur in Venedig bereits seit 1524 unter Strafe gestellt, dennoch kursieren diese verbotenen Bücher in interessierten Kreisen. Tintoretto gehörte offenbar zu ihnen.
    "Der Meister, der ganz sicher religiös war, besaß eine Hausbibel, die als Übersetzung von Santi Marmochino entstanden war," notiert Roland Krischel, Kurator einer Tintoretto-Ausstellung in Köln:
    "Das war eine Bibel, die besonders nah an den Urtexten entlang übersetzt und später auf den Index gesetzt worden war. Tintoretto setzt dieser Hausbibel ein Monument, indem er sie porträtiert. Und zwar so genau, dass man die Seiten identifizieren kann."
    Das Licht wird schwächer
    Im katholischen Venedig malt Tintoretto also eine protestantische Bibel. Wie weit seine protestantischen Neigungen tatsächlich gehen, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass er in seinem "Jüngsten Gericht" in der Kirche 'Madonna dell'Orto' den Erzengel Michael ganz traditionell mit der Seelenwaage darstellt. Doch die Waagschalen, in denen eigentlich die Seelen der Verstorbenen gewogen werden, sind leer.
    Es ist also nicht das Gewicht des menschlichen Handelns, sondern allein die göttliche Gnade, die den Menschen erlöst. So könnte man das Bild interpretieren.
    "Sola gratia, sola fide, sola scriptura." / "Allein die Gnade, allein der Glaube, allein die Schrift."
    Ist es das Herzstück der reformatorischen Lehre von der Rechtfertigung, das Tintoretto hier verewigt hat? Vor der Kulisse der Gegenreformation entwickelt Tintoretto eine neue künstlerische Erzähltradition. Seine Bilder spiegeln die Andacht und Hinwendung zum Glauben, die seiner Zeit eigen sind, und – ergänzt Kunsthistoriker Alexander Linke:
    "Dass diese Energie, die Tintoretto hineinlegt in diese Bilder, etwas zu tun hat mit seiner persönlichen Frömmigkeit."
    Ein letzter Triumph seiner Kunst ist Tintorettos "Abendmahl", das er 1594, kurz vor seinem Tod, malt und das auf den ersten Blick so verstörend unruhig wirkt. Bei näherem Hinsehen drängt sich der Eindruck auf: Hier nimmt auf höchst kunstvolle Weise die katholische Lehre von der Eucharistie Gestalt an. Die zentrale Rolle kommt dabei dem geheimnisvollen Hell-Dunkel der Szene zu. Das von Jesus ausgehende Licht erhellt den Raum im Rauch der Öllampe nur flackernd und schwach. Auch das vielleicht - am Ende eines langen Künstlerlebens - ein Hinweis auf das Ende eines Zeitalters und den Beginn eines neuen? Der Kulturkritiker Georg Seeßlen schreibt:
    "Das göttliche Licht in den religiösen Motiven des Tintoretto ist noch vorhanden, und es macht Unterschiede, zweifellos; Es hebt das Heilige immer noch heraus, aber es reicht nicht mehr aus, die gesamte Welt zu erleuchten und zu ordnen."