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Zum 80. Geburtstag von Walter Helmut Fritz

Der Schriftsteller Walter Helmut Fritz ist vor allem mit seiner Lyrik bekannt geworden. Er gilt als Vertreter des lakonischen Gedichts. Auch seine wenigen Romanen bestechen durch intensive Wahrnehmung und ein "mittelmeerisches Fluidum". Jetzt widmete ihm sein Verlag eine Werkausgabe.

Von Angela Gutzeit | 26.08.2009
    "Wenn du unterwegs etwas näher ansehen willst, geh nicht zu neugierig drauflos. Sonst entzieht es sich dir. Lass ihm Zeit, auch dich anzusehen. Es gibt ein Aug in Aug mit den sogenannten Dingen."

    Ein Satz von Franz Hessel. Walter Helmut Fritz hat ihn als Motto verwendet für seinen 1989 erschienen Erzählungsband "Zeit des Sehens". Von Anfang an hat sich dieser Schriftsteller in der Literaturlandschaft klar positioniert. Als stiller Beobachter, abseits des Literaturbetriebs, den unspektakulären Dingen zugewandt, pflegt Fritz eine Poetik der Aufmerksamkeit für die belebte und unbelebte Natur, für das Zwischenmenschliche, für die alltäglichen Verrichtungen im Leben, für die "Chiffrierungen der eigenen Existenz", die er in den Werken der Kunst- und Literaturgeschichte für sich entdeckt und nutzbar macht.

    Und nicht zu vergessen: auch als Übersetzer von Geistesverwandten wie zum Beispiel Philippe Jaccottet, dessen Poetik der präzisen Wahrnehmung und Beschreibung Fritz fasziniert. Da diese Haltung ein nun über 50-jähriges Werk durchzieht, das keine Brüche kennt und noch dazu Lyrik, Prosa, Aufsätze eng miteinander verbindet und aufeinander bezieht, ist oft davon gesprochen worden, dass es bei diesem Schriftsteller - wie Peter Hamm - formulierte - fast keine Entwicklung gegeben habe. Matthias Kußmann, der Herausgeber der dreibändigen Werkausgabe, die pünktlich zum 80. Geburtstag des Autors erschienen ist, sieht das ganz ähnlich.

    "Abgesehen von seinen ersten beiden Büchern - das war 1956 'Achtsam sein', das Zweite war 'Bild und Zeichen' 1959, da merkt man noch, dass er so ein bisschen experimentiert, an die naturmagische Lyrik anknüpft eines Loerke oder Lehmann. Aber schon ab seinem dritten Buch eigentlich findet er einen eigenen Ton. Und dann, denke ich, hat er keine Notwendigkeit mehr gesehen, seinen Ton zu ändern. Er ist einfach, lakonisch, klar, schmucklos, ohne Girlanden, aber trotzdem nicht trocken. 'Poesie ohne Aufwand' hat er mal über einen Kollegen geschrieben. Ich denke, das sind seine Gedichte auch."

    Lesung Fritz: Gedicht "Heute noch"

    Heute noch ist das Haus/ ein Haus.
    Heute noch berührt ein Körper/ den andern.
    Heute noch können wir leben/ in Gesellschaft des Winds.
    Heute noch nehmen wir einen Zug/ in die nächste Stadt.
    Heute noch brauchen wir uns / als Zeugen.
    Heute noch wandern im Fluß/ die Kiesel und sprechen.
    Heute noch denken wir: Schwalbe/ und schon beginnt sie zu fliegen.
    Heute noch kaufen wir eine neue Brille/ zum Lesen.
    Heute noch sind wir hungrig/ nach Glück.
    Heute noch ist die Tür/ eine Tür.

    Lakonie, Schlichtheit, "Poesie ohne Aufwand" - alles das ist diesem von Walter Helmut Fritz gelesenem Gedicht wie auch seinen anderen eigen - und doch ist damit das Entscheidende, das dieses Werk so interessant macht, noch gar nicht gesagt. Das Entscheidende wie Interessante ist die leise Dissonanz, die wir in seinen Versen vernehmen: "Heute noch berührt ein Körper/ den anderen" - und morgen? fragt man sich unwillkürlich. Ist morgen dieses Miteinander vorbei? Eine Spannung baut sich hier auf zwischen der vergehenden Zeit und dem gelebten Augenblick. Die von Fritz beschworene Aufmerksamkeit und Wahrnehmung gilt Zuständen, die ins Flirren geraten, wenn wir sie genauer betrachten. Eine leichte Drehung, eine andere Beleuchtung und schon ergibt sich eine Wendung ins Zweifelhafte. "Genau auf das Rascheln der Echse im Efeu hören/ Achtsam sein auf manche Vermutung/ die wir wieder verlieren" heißt es in einem seiner ersten Gedichte aus den 50er-Jahren. Wenig später schreibt Fritz ein Gedicht mit dem Titel "Die Zuverlässigkeit der Unruhe", in dem deutlich wird, wie produktiv für ihn dieser Zweifel ist, der notwendigerweise nicht beseitigt werden kann.

    Gedicht "Die Zuverlässigkeit der Unruhe"

    Nicht einwilligen./ Damit uns eine Hoffnung bleibt.
    Mit den Dämonen/ rechnen.
    Die Ausdauer bitten,/ sie möge mit uns leben.
    Die Zuverlässigkeit der Unruhe/ nicht vergessen.


    Walter Helmut Fritz hat Naturlyrik verfasst, Zyklen mit Liebesgedichten, Gedichte, die mit Künstlern der Geschichte und mit Zeitgenossen Zwiesprache halten. Der Zweifel und die Unruhe zielen in Fritz' Werk auf das prekäre Verhältnis des Menschen zur Natur - und auch auf seine Stellung in einer schuldbeladenen Geschichte. Wenn in einem seiner Prosa-Gedichte der Blick aus dem Fenster den Lastkähnen auf dem Rhein folgt, so gilt die Wahrnehmung nicht nur dem Wasser, das seine "Dunkelheiten und Lichter mit sich führt", sondern auch einer alles mitreißenden Strömung, die vorbeifließt - Zitat - "wie das mörderische Jahrhundert".

    Die Lichtmetapher, wie auch das häufig verwendete "Du" in seinen Gedichten und die Imaginationen eines glücklichen Augenblicks im Miteinander, in der Liebe, sind Gegenbilder der Hoffnung, die das Bedrohliche zwar nicht auslöschen können, aber Öffnung und Kommunikation signalisieren. Dort, wo Walter Helmut Fritz die Sprache knapphält, in die Aussparung hinein weiter schwingen lässt, halten seine Gedichte diese Balance aus. Da, wo er zu viel Reflexion, die in seinen zahlreichen hervorragenden Aufsätzen zur Poetologie und zur zeitgenössischen Literatur ihren Platz haben, in die Gedichte holt, überzeugen sie weniger.

    Keinesfalls vergessen sollte man, dass Walter Helmut Fritz auch Romancier ist. Er hat vier Romane geschrieben, die nun in der Werkausgabe - neben der Kurzprosa - vereint sind: "Abweichung", "Verwechslung", "Die Beschaffenheit solcher Tage" und "Bevor uns Hören und Sehen vergeht" - so die Titel. Es sind jeweils sehr kurze Romane - und auch sie inhaltlich eher unspektakulär - auch sie auf Reflexion, Beobachtung, Wahrnehmung und Irritation angelegt.

    Walter Helmut Fritz liest den Anfang seines 1970 erschienen und bei der Kritik sehr erfolgreichen Romans "Die Verwechslung":

    Lesung Fritz: "Die Verwechslung"

    "Er ist da, er ist nicht da. Sie weiß schon nach einigen Augenblicken nicht mehr, was stimmt.
    Sie ist im Café, hat sich so gesetzt, dass sie durch die offene Tür auf die Straße sehen kann. Vor einigen Tagen ist sie mit Robert da gewesen.
    Er ist heute schon früh ins Institut gegangen. Eine Stunde früher als gewöhnlich. Diese langen Versuchsreihen, von denen er manchmal erzählt, diese unablässigen Beobachtungen.
    Aber je genauer man hinsehe, desto mehr ziehe sich das, was man beobachte, zurück, sagte er schon einige Male. Das beschäftige ihn seit einigen Jahren stärker als vieles andere."

    Ein Mann verabschiedet sich morgens von seiner Frau und kommt nicht wieder. Was geschehen sein könnte, nehmen wir von nun an nur noch aus der Perspektive der ratlosen Frau wahr, wobei sich beim Leser nach und nach Zweifel einschleichen, ob man dieser Perspektive trauen kann.

    Besonders in diesen Romanen aus den 60er- und 70er-Jahren ist ein Einfluss ablesbar, der Walter Helmut Fritz von Schriftstellerkollegen, die ihm nahestehen wie zum Beispiel Hermann Lenz, Hans Erich Nossack, Hermann Kassack, Karl Krolow, Marieluise Kaschnitz abheben - es ist das "mittelmeerische Fluidum", wie einmal ein Kritiker schrieb, vermittelt durch die französische Literatur. - Herausgeber Matthias Kußmann zu den Vorbildern:

    "Was ich an seinen Romanen interessant finde, ist, dass er der erste Autor war im deutschsprachigen Raum, der sich dem französischen Nouveau Roman anverwandelt hat. Fritz ist ja selber studierter Romanist, ist auch Französischlehrer gewesen und hat ganz viele Bücher des Nouveau Roman rezipiert. Er hat Sarraute gelesen, Margarite Duras, Butor - und diese Autoren auch im Original gelesen, in Französisch. Und hat dann in seinen eigenen Romanen mit dieser Form der intensiven Wahrnehmung, teilweise Ereignislosigkeit, die es im Nouveau Roman gibt, selbst gespielt. Und hat die eigentlich in die deutschsprachige Literatur eingebracht. Ich finde, dass seine Romane viel zu wenig gelesen sind, weit unterschätzt sind und vielleicht jetzt durch die Werkausgabe noch einmal neu in den Blick geraten."

    Neben Gedichten und Prosa hat Matthias Kußmann in dieser Werkausgabe auch eine kluge Auswahl von Fritz' Aufsätzen getroffen. Sie zeigen Walter Helmut Fritz als einen Vielleser, als einen Kunstliebhaber, einen überzeugten Karlsruher, der gerne reiste, immer wieder nach Süden aufbrach, als einen hilfreichen Weggefährten zahlreicher Kollegen, als kenntnisreichen Interpreten des Lebenswerks anderer - und dabei indirekt immer auch als einen Interpreten seiner selbst - wie in besonders treffender Weise einer Rede zu entnehmen ist, die Fritz 1975 zum 100. Todestag Eduard Mörikes hielt und die in einem der Bände nachzulesen ist. Hier ein kleiner Auszug:

    "Es war in der Art, mit der sich Mörike den Dingen näherte, eine tiefe Aufmerksamkeit, die aus der Erfahrung kam, wie wichtig der Blick auf die Dinge ist, der konzentrierte, empfängliche, meditative Blick; aus der Erfahrung, dass im Blick, auch im zeitweise abgewendeten, alle Erkenntnis sein kann; dass man in der Anschauung nie an eine Grenze kommt; dass der Blick Resultat höchster Bewusstheit ist; dass er An- und Abwesenheit verbindet."

    Das könnte jetzt ein schöner Abschluss sein. Aber leider ist es unvermeidlich, ein kritisches Wort an den Verlag zu richten. Das Lebenswerk eines Autors, der doch schon so lange seinem Verlag, nämlich Hoffmann und Campe, verbunden ist, mit einer Werkausgabe zu beehren, deren Umschläge der Einzelbände im besten Fall Schreibpapier mit fotokopiertem Aufdruck ähneln und denen weder ein Vor- oder Nachwort beigeben ist - von den gelegentlichen Druckfehlern auch in den Gedichten zu schweigen - ist nicht akzeptabel!

    Walter Helmut Fritz: "Werke in drei Bänden", Hoffmann und Campe. Hrsg. von Matthias Kußmann. 2004 Seiten. 99.- Euro bis 31.01.10, dann 128.- Euro