
Wenn Sofia Gubaidulina, Jahrgang 1931, neue Klangpotentiale erschließt und neue Kompositionstechniken entwickelt, so gilt ihr Interesse ausschließlich der Gestaltwerdung religiösen Erlebens. In einem Interview im Jahr 2019 sagte sie rundheraus, sie komponiere nur noch "für Gott". Eine mystische Erfahrung, die sie mit den Musizierenden und den Hörenden teilt, die im Übrigen kein Bekenntnis verlangt, aber für Transzendenz zu sensibilisieren vermag.
Symbolhaft steht dafür das Kreuz, eine Grundfigur ihres Komponierens: Eine absteigende Linie und eine aufsteigende Linie, die sich treffen – die Menschwerdung Gottes kreuzt die Gottwerdung des Menschen. Dessen Freiheit indes ist eingehegt von unveränderlichen Gesetzen. Musikalisch bedeutet das: befreiter Klang, aleatorische und improvisatorische Elemente auf der einen Seite, streng nach mathematischen Gesetzmäßigkeiten proportionierte Abläufe auf der anderen.
Gubaidulinas Kompositionen sind auch ohne religiöse Deutung verständlich. Schließlich, so hebt der Autor Ingo Dorfmüller hervor, mache ihre Musik erfahrbar, wie es ist, sich in "das Abenteuer der Verwandlung zu stürzen". Bekanntlich ist das die Voraussetzung, sich nach Schicksalsschlägen neu orientieren und wieder aufrichten zu können.