Freitag, 29. März 2024

Archiv


Zum hundertsten Geburtstag von A.V. Thelen

Oh Gott! Gruppe 47! Hans Werner Richter, und Vigoleis wird zusammengeschlagen! Aber da muss ich zurückgreifen, wie ich überhaupt zu dieser Gruppe gekommen bin, denn ich wusste nicht einmal, dass es sie gab. Ich hatte keine Ahnung, und es kommt eines Tages mein Verleger, der Herr Van Oorschot, kommt zu mir und sagt: "Also, Vigoleis, wir gehen nach Deutschland." Ich: Wieso gehen wir nach Deutschland, was habe ich da zu tun? "Ja, es ist folgendes, es gibt da eine Gruppe, die kennen sie ..." Ich sage: Ne, die kenne ich nicht. "Die Gruppe 47, die hält Tagungen ab, da kommen Autoren zusammen, da wird die Presse eingeladen" usw. Und er erklärt mir ein wenig, was da mit der Sache los sei. Und ich sagte: Was habe ich nun mit dieser Gruppe zu tun? Und er sagte: "Ja, es ist sehr wichtig, dass nun dein Name bekannt wird, denn ich gebe immerhin jetzt ein Buch heraus von 1000 Seiten, und du bist völlig unbekannt. Und Mitbegründer der Gruppe 47 ist unser alter gemeinsamer Freund, ein holländischer Autor, Adriaan Morrieën.

Richard David Precht | 25.09.2003
    Auf einer soeben edierten CD aus dem Archiv von Jürgen Pütz erinnert sich der Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen im Alter von 80 Jahren an seinen Auftritt bei der Gruppe 47. Oktober 1953: Gemeinsam mit Verleger Van Oorschot trifft Thelen in Bebenhausen ein. Hans Werner Richter empfängt den 50jährigen Thelen distanziert und feindselig. Schon beim Frühstück spottet Richter über den Umfang von dessen mitgebrachtem Werk. Als Thelen schließlich lesen soll, wird Richter noch spöttischer:

    Und dann beklettert Hans Werner Richter, der beklettert das Podium, es war eine Klettermöglichkeit da, er stand jedenfalls hinter seinem Pult und sagte den Leuten: Also jetzt liest ein unbekannter Mann - wie heißt er schon wieder? - und dann nimmt er den Zettel und hatte den Namen, und dann wurde ein paar Mal mein Name vom Zettel herunter gelesen. Und: Vollkommen unbekannt, also bitte kommen Sie nach vorne. Und das war mir alles übel, das war mir unangenehm, das war eine widerliche Angelegenheit.

    Doch Thelen fängt sich. Die Zuhörer lauschen ihm eine Stunde. Er gewinnt ein sicheres Gefühl, das sein Vortrag den Anwesenden gefällt.

    Was ich gelesen hatte war gut, meiner Meinung nach. Und dann geht der Werner Richter wieder ans Pult, lassen wir ihn ruhig noch mal klettern, da kletterte er wieder sein Pult rauf und geht dahin, und dann sagt er: "Also gut, was wir da gehört haben, ist der Text eines umfangreichen Buches von dem und dem. Und das ist ein Emigrant, und dementsprechend ist das Emigrantendeutsch. Das muss natürlich, wenn so etwas je erscheinen sollte ..." - da rief der Oorschot dazwischen (er verstand das so weit): "Erscheinen sollte? (...) Also das erscheint bei mir!" - Und da sagte der Richter: "... ja, das muss dann natürlich überarbeitet werden.

    Die Abkanzlung durch Hans Werner Richter trifft Thelen sehr. Mit großer Scheu hält er sich von nun an vom Literaturbetrieb fern. Auch dies ein Grund dafür, dass nur noch die wenigsten wissen, wer Albert Vigoleis Thelen war. Nur eine einzige Buchhandlung in Palma führt seine Bücher. Nicht Thelens sprachgewaltige Insel des zweiten Gesichts , sondern George Sands sarkastische Abrechnung "Ein Winter auf Mallorca" gilt fälschlicherweise als der Mallorca-Roman par excellence. Und in Deutschland ist Thelen ein Exot. Weder Metzlers Literaturlexikon noch Frenzels Daten deutscher Dichtung kennen seinen Namen. Lokalisiert man den Platz Thelens in der deutschen Literaturgeschichte nach 1945, so kann die Antwort nur lauten: Genau daneben.

    Wer war Albert Vigoleis Thelen? Am 28. September 1903 als Sohn eines Buchhalters im niederrheinischen Süchteln geboren, zieht es ihn schon früh weg, die kleinbürgerliche, kaisertreue Familie, dazu der strenge Katholizismus, schlagen ihn in die Flucht. Mit sechzehn bricht er die Schule ab, macht eine Schlosserlehre in einer Süchtelner Weberei, arbeitet als technischer Zeichner in einer Viersener Zentrifugenfabrik und besucht schließlich die Textilfachschule in Krefeld. Von 1925 an studiert er Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Köln, von 1926 an in Münster Niederländische Philologie und Zeitungswissenschaft. Während des Studiums legt er sich einen zweiten Vornamen zu, "Vigoleis" nach der Titelgestalt des mittelalterlichen Versepos des Wirnt von Grafenberg. Auf der Internationalen Presseausstellung in Köln begegnet ihm 1928 Beatrice Bruckner – die Liebe seines Lebens. Und dann das folgenschwere Ereignis. In Amsterdam, wo Beatrice wohnt, erreicht das junge Paar ein seltsamer Hilferuf von Beatrices Bruder Peter Herbert Zwingli aus Mallorca.

    Thelen ist 28, als er 1931 gemeinsam mit Beatrice die Reise nach Mallorca antritt. Geplant ist ein Aufenthalt von einigen Wochen; es werden fünf Jahre, die wohl prägendsten Jahre in Thelens Leben. Zwinglis Hilferuf erweist sich rasch als ein Missverständnis, doch Thelen bleibt, weil ihm die Atmosphäre der Insel gefällt. Beatrice hingegen leidet stärker als Thelen an den Widrigkeiten ihres Aufenthalts. Und daran besteht kein Mangel. Fünfmal wechseln Albert Vigoleis und Beatrice Thelen während ihres fünfjährigen Aufenthalts ihre Bleibe. Bei Zwingli können sie nicht bleiben. Ihre Armut zwingt sie zu einem lausigen Quartier in einem heruntergekommenen Viertel unweit des Schlachthofs. Thelen schreibt Rezensionen für die niederländische Zeitung Het Vaderland , doch zum Leben reichen die spärlichen Einkünfte kaum.

    Thelen hat viel Zeit, die Menschen zu beobachten, die auf der Insel leben. Früh erkennt er, dass "jeder auf der Insel sein eigenes zweites Gesicht" hat – eine Beobachtung, die seinem großen Buch zwanzig Jahre später den Titel geben wird. Ob die Mallorquiner selbst, die Hotelwirte, Bettler, Huren und Schmuggler, oder die ansässigen Bohemiens aus Deutschland, England und den USA, alle handeln sie in Thelens Augen im "Doppelbewusstsein ihrer Persönlichkeit". In einem soeben erschienen Porträt Thelens ist Cornelia Staudacher den Spuren des Dichters auf Mallorca nachgegangen:

    Es war eine Insel, die vorwiegend von dem ländlichen Leben geprägt war, wo sich aber immerhin schon ein paar etliche Intellektuelle hin zurückzogen aus Nordeuropa, auch aus den USA, auch aus Südamerika. Und es gab ein Viertel in Palma, das heißt Terreno, wo man eigentlich ein kleines Montmartre fast sehen konnte. Wo sich die Schriftsteller trafen in bestimmten Cafés und ihre tertulias, von denen er ja viel schreibt, literarische Zirkel, gegründet haben, wo Thelen ja auch sehr schnell die mallorquinischen Schriftsteller kennen lernte. Und er hat sich da, glaube ich, sehr wohl gefühlt in diesen Zirkeln. Und es kamen eben sehr viele Ausländer dazu, ich habe ja in meinem kleinen Bändchen Spaziergänge im literarischen Mallorca eine Menge davon genannt, das geht bis Camus, dessen Mutter ja Malloquinerin war, der dort hingekommen ist, und natürlich auch die, die er sehr viel erwähnt, die er ja auch in der Insel beschreibt: Hermann Keyserling und Kessler und Georges Bernanos war dort und viele andere.

    Vor allem die kleinen intellektuellen Zirkel der Insel, die tertúlias, Gesprächsrunden meist im Umkreis von Buchhandlungen, bieten Thelen phantastischen Stoff für seine Studien. Hier lernt er die großen illustren Gestalten unter den Emigranten und Parvenüs der Insel kennen. Nahezu alle basteln sie an monumentalen Werken. Robert von Ranke-Graves, der berühmte englische Populärwissenschaftler und Bestsellerautor, lebt und arbeitet hier. Harry Graf Kessler feilt an seiner auf drei Bände konzipierten Autobiographie: "Gesichter und Zeiten"; Hermann Graf Keyserling schreibt seine 1920 in Darmstadt gegründete "Schule der Weisheit" fort. Georges Bernanos arbeitet an seinem "Tagebuch eines Landpfarrers". Minutiös studiert Thelen die Eitelkeit und den Wahn dieser Leute, ein Unbekannter unter Berühmtheiten. Doch der einzige wirklich Geniale unter ihnen ist Thelen. Noch freilich hat er kaum etwas Literarisches zu Papier gebracht, sein bisher größtes Werk ist der Text des Süchtelner Stadtliedes. Cornelia Staudacher:

    Er war einmal eine schillernde Person, weil er eben ein Ausländer war. Er hat zum Beispiel mit Ranke-Graves wenig Kontakt gehabt, es waren auch Ausgefallene, es war vor allem Kessler, den er besonders schätzte, der ihn auch schätzte, dessen Sekretär er auch zeitweise war. Er hat mit Georges Bernanos ein eher schwieriges Verhältnis gehabt, dem er ja vorwarf, dass er sich nicht stärker bei Beginn des Bürgerkriegs auf die Seite der Republikaner geschlagen hat, sondern noch anfänglich Anhänger der Falange war. Ich nehme auch an, dass er in diesen Kreisen immer der Sonderling und der Außenseiter geblieben ist, aber er hatte immerhin Zugang dazu und das dann in seiner "Insel" entsprechend beschrieben.

    Seine kurzfristigen Hilfsdienste für manche der Insel-Größen, bessern seine finanzielle Lage auf. Im maroden alten Hafenviertel von Palma, in der Calle del General Barceló finden die Thelens eine bessere Bleibe. Als Privatlehrer unterrichtet Thelen amerikanische Studenten; als Fremdenführer begleitet er voll List und Abscheu "teutonische Touristen", wie er sie nennt, meist "Kraft-durch-Freude"-Reisende, durch die Altstadt von Palma. Viele humorvolle Passagen seines Buches widmen sich dem Stumpfsinn und der Dummheit der deutschen Mallorca-Urlauber, gemischt mit echtem Zorn und tiefer Verzweiflung über das inzwischen nationalsozialistische Deutschland. Das deutsche Konsulat ist auf den merkwürdigen Landsmann aufmerksam geworden, er wird beschattet und bespitzelt; ein handfester Verfolgungswahn setzt bei Thelen ein; die Angst und das Misstrauen gegenüber Deutschland wird er nicht mehr verlieren. Als im Juli 1936 die Falangisten unter Franco gegen die Regierung putschen, wird die Lage für die Thelens ernsthaft gefährlich. Am 19. August 1936 erwischen sie mit dem englischen Zerstörer Grenville das letzte Schiff, das sie von der Insel fortbringt.

    In der Rolle des Vigoleis in der Insel des zweiten Gesichts begegnet Thelen dem Leser zumeist als Picaro, als listiger Schelm und launiger Fabulierkünstler. Doch er hat noch eine ganz andere Seite, eine sehr melancholische, schwermütige. Schon früh malt er stets ein Kreuz hinter seinen Namenszug. Einen Seelenverwandten als "Erzweltschmerzler" findet er dabei in dem portugiesischen Dichter und Mystiker Teixeira de Pascoaes, den Thelen um die Erlaubnis gebeten hatte, ihn übersetzen zu dürfen. Pascoaes ist es auch, der Albert Vigoleis Thelen und Beatrice ihre nächste Unterkunft zur Verfügung stellt, ein Weingut in São Jõao de Gatão bei Amarante. Hier, in abgeschiedener Ruhe, bringt Thelen seine "Angewandten Erinnerungen" an die Mallorca-Zeit zu Papier. Jede Manuskriptseite liest er Beatrice vor; gemeinsam "kugeln sie sich dabei vor Lachen". Innerhalb vieler Jahre wächst die "Insel des zweiten Gesichts" heran, ohne Zweifel eines der bedeutendsten Werke der deutschen Literatur.

    990 Seiten hat der Roman als er im November 1953 in den Niederlanden und in Deutschland erscheint. Die Kritik feiert das Buch hymnisch, Siegfried Lenz feiert Thelen als "epischen Zauberer", Paul Celan lobt die "Insel" als ein "wahres Kunstwerk". 1954 erhält Thelen den Fontane-Preis. Innerhalb eines Jahres sind 20.000 Exemplare der "Insel" verkauft. Das Buch ist Sprachkunst von höchster Qualität, ein empirischer Roman, dem jede winzige Beobachtung eine eigene verschlungene Reflexion wert ist. Zugleich entsteht auf diese Weise ein Sittengemälde Mallorcas in den dreißiger Jahren, dessen scharfsichtiger Blick auf Einheimische, Touristen und Immigranten seinen Witz und seine Gültigkeit bis heute nicht verloren hat.

    Doch die Erfolgsgeschichte endet, kaum dass sie begonnen hat. Im neu etablierten jungen Literaturbetrieb der Bundesrepublik fasst der inzwischen 50jährige mit seinen fein ziselierten Gedanken über Gott und die Welt nicht Fuß, die Schmach seines Auftritts bei der Gruppe 47 gibt davon ein beredtes Zeugnis. Mit seinen Verlegern Van Oorschot und Diederichs überwirft er sich ein um das andere Mal, seine Skepsis und sein Misstrauen gegenüber dem Verlagswesen wächst sich zur Manie aus. Thelen schreibt kein einziges erfolgreiches Buch mehr. Erstaunlich schnell gerät er in Vergessenheit. Nur eine kleine Fan-Gemeinde, die aficionados, wie Thelen sie nennt, pflegen sein Andenken. Der beste Thelen-Kenner unter ihnen ist Jürgen Pütz. Zwanzig Jahre lang hat sich Pütz mit dem Werk und der Person von Albert Vigoleis Thelen beschäftigt. Als Literaturwissenschaftler wie als Sammler von Dokumenten, Fotos und Rezensionen.

    Also das Buch ist ja eigentlich noch total unterschätzt und viel zu unbekannt. Hans Schwab-Felisch hat in den 60er Jahren schon gesagt, es sei ein Jahrhundertwerk, und Maarten t’Hart hat 1999 in der ZEIT geschrieben, das größte Buch dieses Jahrhunderts sei die "Insel des zweiten Gesichts" von Albert Vigoleis Thelen. Das sehe ich übrigens genauso, und die Qualitäten dieses 1000-Seiten-Werkes liegen in der Tat im sprachlichen Bereich; er entzündet ein Sprachfeuerwerk, das wirklich in der Nachkriegsliteratur seinesgleichen sucht. Und es ist ein Schelmenroman natürlich, ein autobiografischer Roman, ein Liebesroman. Es ist ein Kontinuum unendlicher Reflexion. Ich habe es sehr oft gelesen und immer noch komme ich an Stellen, wo ich denke, ich kenne sie nicht. Das Buch verbirgt in sich tausend Geschichten und es ist ein phantastisches Buch, dem man Zeit widmen muss, das einem aber auch sehr sehr viel zurück gibt.

    Thelens Weg nach dem Erscheinen der "Insel des zweiten Gesichts" führt nicht nach Deutschland, sondern nach Ascona in die Schweiz, ein weiteres Mal als Hausverwalter. Diesmal ist Thelen "Einhüter, Felsvogt" und "Türsteher seiner selbst" in der Casa Rocca Vispa, einem Anwesen der reichen Mexikanerin Elita Lüttmann. Hier, am Lago Maggiore schreibt er seinen zweiten Roman "Der schwarze Herr Bahßetup. Ein Spiegel". In den Niederlanden angesiedelt, steht er der "Insel" stilistisch nicht nach. Doch das Buch wird ein Misserfolg. Cornelia Staudacher:

    "Der schwarze Herr Bahßetup" ist eigentlich ein surrealer Roman, ich finde durchaus, dass der sich mit der "Insel" messen kann. Er hat ein ganz anderes Flair; er hat nicht diese mediterrane Leichtigkeit, die ja die Insel trotz aller Schwere, die auch drin enthalten ist und auch politischer Aussagekraft, ist "Der schwarze Herr Bahßetup" noch mehr Spiel, ein surreales Theater, wenn man so will. Dann hat er viele Gedichte geschrieben, etliche noch nicht veröffentlicht. Und er hat sehr schöne Erzählbriefe geschrieben, die eigentlich auch noch auf ihre Veröffentlichung warten.

    Thelens Korrespondenz ist weit verstreut, nur ein kleinere Teil davon ist erhalten. Auf unglaubliche 600.000 Seiten Papier hat Thelens Frau Beatrice die Briefe ihres Mannes geschätzt. Jürgen Pütz:

    Wenn ein Werk Thelens an die "Insel" heranreichen kann, dann sind es seine Briefe. Thelen hat ja selbst gesagt, er habe sich in seinen Briefen verpulvert. Zwischen seinen Mallorca-Erlebnissen 1931-36 und der Niederschrift der Insel liegen ja 20 Jahre, das ist ja eine Kuriosität an sich, und er hat in dieser Zeit mündlich erzählt von seinen Erlebnissen, und er hat das in seinen Briefen festgehalten. Er hat insgesamt circa 15.000 Briefe geschrieben, und viele sind sogenannte Erzählbriefe, d.h. kleine Geschichten, oder auch größere - er hat ja Briefe von 20 Seiten geschrieben - dort baut er Geschichten ein, und die sind genauso humorvoll, spannend und mit soviel Sprachwitz versehen, wie sein Hauptwerk auch. Und ich würde sagen, die große verlegerische Leistung in den nächsten 10-15 Jahren müsste lauten, die Briefe von Albert Vigoleis Thelen zu edieren. Ich habe schon mal damit angefangen.

    Wenn er keine Briefe schreibt, hockt Thelen in der Schweiz auf einem ausgemusterten Zahnarztstuhl und entwirft Uhren oder Unsinnsmaschinen. Die neue Bildbiographie von Jürgen Pütz zeigt Thelen in seinem Arbeitszimmer, umzingelt mit Krimskrams, eine Mischung "zwischen süchtelner schießbude, alchemistenlaboratorium und verspielter bücherwurmstube".

    1986 zwingt Thelens fortschreitende Sehschwäche das Paar dazu, in ein Altersheim überzusiedeln. Gebrechlich und pflegebedürftig leben sie im Seniorenheim St. Cornelius in Dülken am Niederrhein; eine erzwungene "Einmoffung", wie Thelen es nennt, gerade im verhassten Deutschland. Über die späte Beachtung durch Journalisten und Kritiker freut er sich, die Ehrenmitgliedschaft im deutschen PEN lehnt er ab.

    Er hat ein Jahrhundertwerk geschrieben, mindestens ebenso bedeutend wie die Blechtrommel, aber viel weniger Leute reden darüber, und ich glaube das bleibt gar nicht aus, dass man ein Stück weit auch verbittert ist. Und materiell hat Thelen nie auf großem Fuße leben können, weil die Verkäufe der "Insel" sich doch in Grenzen hielten und die Tantiemen nicht so flossen, wie er das verdient hätte. Aber der Lebensmut und der Humor vor allem, hat ihn nie verlassen.

    Am 9. April 1989 stirbt Thelen. Sein letzter Wille gilt der Vernichtung seines gesamten literarischen Nachlasses, darunter wohl auch die nach eigenen Angaben 900 Manuskriptseiten starke "Insel"-Fortsetzung "Die Gottlosigkeit Gottes. Oder: Das Gesicht der zweiten Insel". Ein einziges Ton-Dokument, herausgegeben von Jürgen Pütz, ist davon erhalten geblieben:

    Ich lese Ihnen heute Abend, oder heute Mittag, ich habe die Zeit verloren, oder den Sinn für die Zeit. Ich lese Ihnen ein Kapitel aus einem unveröffentlichten Buch, an dem ich lange gearbeitet habe, ich habe wegen eines Augenleidens sieben Jahre nicht lesen und schreiben können, und darum zieht sich das alles so in die Länge. Und im Buch selber zieht sich alles auch wieder in die Länge, es wird ein unendlich großes Buch werden. Was ich lese, das ist aus einem Manuskript von etwa 900 Seiten, das ganze geht in die Tausende von Seiten. Und es heißt ja auch, dass ich immer vom Hundertsten ins Tausendste komme und manchmal sogar in die Million. Das Buch trägt den alles überwölbenden Titel: "Die Gottlosigkeit Gottes. Oder: das Gesicht der zweiten Insel." Gottlosigkeit Gottes darum, weil im Mittelpunkt des Buches die Gestalt meines mystischen Freunde Teixera de Pascoes steht, des portugiesischen Dichters, dessen Werke und Bücher ich ins Holländische und ins deutsche übersetzt habe. Und im Mittelpunkt der Bemühungen von Pascoaes steht der Gedanke des religiösen Atheismus.

    Hat es dieses Riesen-Manuskript von mindestens 900 Seiten aus einem auf mehrere tausend Seiten konzipierten Buch über die Flucht der Thelens von Mallorca über die Schweiz zurück nach Spanien und Portugal je gegeben? Oder ist es ein letztes großes Flunkern, das Albert Vigoleis Thelen auch nach seinem Tod in Form einer Legende begleitet? Jürgen Pütz:

    900 Seiten kann ich nicht beurteilen. Er hat auch immer wieder geflunkert und eine Legendenbildung betrieben. Er hat ja den wunderbaren Satz von Pascoaes zitiert: "Die Legende korrigiert die Geschichte." Das muß man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Das ist für Historiker, finde ich, ein ganz interessanter Satz. Die Legende korrigiert die Geschichte, so auch bei ihm. Es hat existiert, aber er hat, anders als bei Kafka übrigens - Kafka hat ja demjenigen gesagt, von dem er wußte, dass er es nicht vernichten würde, Max Brod: Alles soll nach meinem Tode vernichtet werden. Er wußte ganz genau, dass Max Brod das aufheben würde - Bei Thelen war das anders: Er hat seiner Frau gesagt: alle meine Manuskripte sollen nach meinem Tod vernichtet werden, und sie hat es in die Tat umgesetzt.

    NEUERSCHEINUNGEN:

    Die Insel des zweiten Gesichts. Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis. Mit einem Nachwort von Jürgen Pütz. Claassen Verlag 2003

    Cornelia Staudacher: Albert Vigoleis Thelen. "Wanderer ohne Ziel". Ein Porträt, Arche Verlag 2003

    Albert Vigoleis Thelen: Erzweltschmerzler und Sprachschwelger. Eine Bildbiographie, herausgegeben von Jürgen Pütz, edition die horen, 2003

    Albert Vigoleis Thelen liest aus: Die Insel des zweiten Gesichts (CD), edition die horen 2003


    Die Insel des zweiten Gesichts. Hörspiel (3CDs), ullstein hörverlag 2003

    ZUDEM: Thelen-Wanderaustellung auf Grundlage der Sammlung Fiethen (Eröffnung 28.9. in Viersen)