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Zum Tod Günter Schabowskis
"Das ist ein großer Romanstoff"

Günter Schabowski ist tot. An seiner Figur könne man "fiktional praktisch die gesamte DDR-Geschichte und den Zusammenbruch erzählen wie an kaum jemand anderem", sagte der Dokumentarfilmer und Medienhistoriker Lutz Hachmeister im Deutschlandfunk.

Lutz Hachmeister im Gespräch mit Antje Allroggen | 01.11.2015
    Ein Besucher verfolgt in der Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn (Sachsen-Anhalt) die Fernsehaufzeichnung der Pressekonferenz vom 09. November 1989.
    Ein Besucher verfolgt in der Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn (Sachsen-Anhalt) die Fernsehaufzeichnung der Pressekonferenz vom 09. November 1989 (dpa / Jens Wolf)
    Antje Allroggen: Dass Wahnsinn und Wirklichkeit mitunter nahe aneinander liegen, das weiß auch die Politik. Günter Schabowski, 1929 in Anklam geboren, war in der DDR ein Aufsteiger-Typ: Zunächst Chefredakteur vom Neuen Deutschland, dann "hohes Tier" beim Verband der Journalisten, Mitglied des Zentralkomitees, zeitweise sogar als Nachfolger Erich Honeckers für die Position des Staatsratsvorsitzen gehandelt. Dann 1989 die wirklich nicht dankbare Aufgabe, die DDR-Bevölkerung über die Öffnung der Mauer zu informieren, wenn auch ganz beiläufig:
    O-Ton Günter Schabowski: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.
    Frage: Wann tritt das in Kraft?
    Schabowski: Das tritt, nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich."
    Allroggen: 1990 wurde er daraufhin aus der SED-Nachfolgepartei ausgeschlossen. Später dann in den 90er-Jahren für das menschenverachtende DDR-Grenzregime verurteilt zu drei Jahren Haft wegen Totschlags, im Jahr 2000 begnadigt. Beruflich musste er nach dem Fall der Mauer neu anfangen und schlug sich als Anzeigenverkäufer einer kleinen hessischen Lokalzeitung durch. Später kam er schwer krank ins Pflegeheim, wo er jetzt auch starb. - Lutz Hachmeister, Medienhistoriker und Dokumentarfilmer, war Günter Schabowski eine tragische Figur?
    Lutz Hachmeister: Das würden vielleicht viele nicht sagen, die ihn vor 1989 erlebt haben. Er galt ja durchaus als Hardliner, als Propagandafürst in der SED. Aber natürlich ist die Gesamtbiografie Stoff für einen großen Fernsehfilm zumindest: Jemand, der in der Hitler-Jugend ist, dann seinen Weg über die FDJ und die SED und den Propagandaapparat bis in die höchsten Spitzen macht - er war ja durchaus sogar mal als Nachfolger von Honecker auch im Gespräch - und dann so abstürzt nach dem Mauerfall, den er kurioserweise zumindest mitbewirkt hat, das ist ein großer Romanstoff.
    Allroggen: Würde so ein Stoff Sie reizen? Sie haben ja auch einen Dokumentarfilm über die FDJ gemacht.
    Hachmeister: Ja.
    Allroggen: Das könnte so eine Art Folgeprojekt sein.
    Hachmeister: Ja. Schabowski, wenn man es fiktional macht, ist eine Figur, an der man praktisch die gesamte DDR-Geschichte und den Zusammenbruch sehr, sehr gut erzählen kann wie an kaum jemand anderem.
    Allroggen: Ein Mann, dessen Eingang in die Geschichtsbücher sich aber doch auf das Vorlesen einer Notiz erst mal beschränkt. Verwunderlich ist doch eigentlich erst mal daran, dass ein völlig vernuschelter Satz samt seiner zögernden Momente überhaupt Gehör fand damals bei den DDR-Bürgern. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen? Lag das daran, dass dagegen sein in der DDR hieß, in Chiffren zu sprechen?
    Hachmeister: Das ist eine gute Interpretation, dass man vielleicht in der DDR (Mann und Frau) besser zwischen den Zeilen lesen konnte als Bundesdeutsche, als Westdeutsche. Mich hat das damals sehr verblüfft, nicht die politische Entwicklung und diese Aussage, sondern die spontane Reaktion der DDR-Bevölkerung, dann sofort zu den Grenzübergangsstellen zu gehen und quasi mit der Macht der Masse und der Macht der Körper dann auch die Öffnung der Grenze zu erzwingen. Das hat mich hochgradig verwundert. Das ist für einen Westdeutschen sehr, sehr schwer zu erklären gewesen, dass Leute diesen sehr komplexen Satz oder diese sehr komplexe Pressekonferenz sofort so interpretieren, loszumarschieren und für die Öffnung der innerdeutschen Grenze zu sorgen.
    Allroggen: Es gibt ja durchaus einige Sätze, die Weltgeschichte geschrieben haben, aber das sind eigentlich doch alles Sätze, die auch vom Charisma der Vortragenden gelebt haben und immer noch leben. Hier handelt es sich um einen Satz, der wenig wirkungsvoll, schlecht vorgelesen wurde, muss man sagen. Damit verstieß Schabowski doch erst einmal gegen alle Regeln der DDR-Ideologie, die ja auch die Sprache instrumentalisierten. Warum wurde dieser Satz trotzdem so berühmt?
    Hachmeister: Man muss schon sehen, dass sich die DDR als Staatswesen damals schon in kompletter Auflösung befand. Die innerparteilichen Reibereien und die Diskussionen im ZK und Politbüro waren inzwischen so weit gediehen, dass die Führungsmannschaft der DDR - es waren ja im Wesentlichen Männer - komplett auseinanderfiel. Und einige - dazu gehörte auch Schabowski - hatten natürlich begriffen, dass da Druck aus dem Kessel gelassen werden muss. Das heißt, die Maueröffnung, die Öffnung der Grenzen, die Reisefreiheit, das wäre sowieso gekommen. Das Erstaunliche an dem Satz ist, dass er diese spontane Reaktion ausgelöst hat. Es gibt eine Fraktion von Historikern, die sagen, er wusste ziemlich genau was er da sagte. Das ist kein Zufall und kein Verhaspeln im intentionalen Sinne, also willentlich, sondern er wusste, dass er mit diesem Satz die Mauer schneller öffnen würde, als es Konsens war im Politbüro, und er hatte sich das eigentlich, glaube ich, aufgespart bis zum Schluss und dann kamen diese Fragen des italienischen Journalisten und des "Bild"-Reporters, die damit auch so eine kleine Fußnote in der Weltgeschichte geschrieben haben, und so kam es dann etwas spontaner, als es geplant war. Aber ich würde auch dieser Interpretation zustimmen, dass er da ziemlich genau einen Plan hatte, was er da machte in dieser Pressekonferenz.
    Allroggen: Was bleibt übrig von Günter Schabowski? Mehr als dieser Zettel?
    Hachmeister: Der Zettel natürlich zuerst, aber das ist schon eine sehr einzigartige deutsche Biografie, mit der man sehr viel erklären kann. Er ist ein bisschen so wie Schalck-Golodkowski auch. Das sind sehr zwielichtige, vom Grundtypus her gar nicht mal so unsympathische Figuren, obwohl sie viele Leute in der Zeit der dogmatischen DDR-Politik sehr unsympathisch und auch furchterregend Erlebt haben. Dieses Brüchige auch noch dann konnotiert mit dem Bruch 1989, also der Öffnung der innerdeutschen Grenze, das macht ihn schon ziemlich singulär. Das ist eine faszinierende Figur.
    Allroggen: Aber ein Fernsehsatz, wie er im Buche steht?
    Hachmeister: Ja. Es war die große Stunde des Fernsehens, und ich glaube, kein anderes Medium hätte das so transportieren können. Vielleicht wäre er heute millionenfach getwittert worden.
    Allroggen: Der Dokumentarfilmer und Medienhistoriker Lutz Hachmeister über das politische und mediale Leben des ehemaligen SED-Funktionärs Günter Schabowski.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.