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Zum Tod von Claude Lévi-Strauss

Ethnologen sind fasziniert von der Fremdheit anderer, vor allem außereuropäischer Kulturen, versuchen die Andersheit zu beschreiben, die Gemeinsamkeit mit der eigenen Kultur zu deuten und dies durch Theorien zu untermauern. Claude Lévi-Strauss, der heute im Alter von 100 Jahren in Lignorelles, in Burgund gestorben ist, war einer der würdigsten Vertreter dieser Wissenschaft im 20. Jahrhundert.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 04.11.2009
    Einem größeren Publikum bekannt geworden ist er aber nicht als Wissenschaftler, sondern als Autor eines poetischen und zivilisationskritischen Reiseberichts mit dem einprägsamen Titel "Traurige Tropen".

    Als Claude Lévi-Strauss' viel beachtetes autobiografisches und bekenntnishaftes Buch "Traurige Tropen" 1955 in Paris erschien, war sein Verfasser nur einem kleinen Kreis von Ethnologen vertraut. Jetzt aber interessierte sich auf einmal die intellektuelle und künstlerisch-literarische Szene in Paris (und nach und nach überall in der westlichen Welt) für den Schriftsteller Claude Lévi-Strauss. Auch wenn er keine vergleichbar literarischen Texte mehr geschrieben hat, so ist er doch seiner besonderen Vorliebe für die ästhetische Gestaltung von Texten treu geblieben; er will nie nur Wissen vermitteln. So gleichen denn auch seine großen Werke über die Mythen, Riten und sozialen Strukturen in außereuropäischen Kulturen im Aufbau mehr einem Musikstück als einem trockenen akademischen Text.

    Auf die Frage, ob sein Leben und seine Arbeit den Verlauf genommen haben, den er sich wünschte oder ob er über den eingeschlagenen Weg auch Reue empfinde, antwortete er:

    "Keinen Augenblick lang bereue ich das. Es ist ja im Gegenteil gerade diese Laufbahn, bei der ich all das Vergnügen und jede nur mögliche Befriedigung gefunden habe. Vermutlich wegen einer Schwäche meines Geistes, dass ich nämlich die Ausdrucksformen der menschlichen Schöpfungskraft nur zu begreifen vermag, wenn sie in konkreten Gesellschaften, an einem bestimmten Punkt der Erde und zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte, verkörpert werden."

    Claude Lévi-Strauss wurde am 28. November 1908 als Sohn eines Kunstmalers in Brüssel geboren. Die Familie übersiedelte dann nach Paris und anschließend nach Versailles. 1927 beginnt Lévi-Strauss ein Studium der Rechtswissenschaft und Philosophie an der berühmten Sorbonne, legt 1931 sein Staatsexamen ab und ist von 1932 bis 1934 Gymnasiallehrer für Philosophie. Dann beginnt er ein ganz anderes Lebens, wird Professor für Soziologie an der Universität São Paulo, unternimmt Expeditionen zu den Indianern im Amazonasgebiet, kehrt wieder nach Frankreich zurück, bevor er 1940 ins Exil in die Vereinigten Staaten geht, in New York unterrichtet, bedeutende Ethnologen, Linguisten und zahlreiche Surrealisten kennenlernt. Auf diesem Hintergrund entstehen dann seine großen ethnologischen Arbeiten und das Reisebuch "Traurige Tropen".

    Beeindruckt wird der Leser immer wieder aufs Neue von dem überaus facettenreichen Leben und Werk dieses faszinierenden Reisenden, Forschers und Schriftstellers, des ausgewiesenen Musik-, Malerei- und Literaturkenners. Lévi-Strauss gehört mit seinem Werk in die Atmosphäre jener 50er/60er- und 70er-Jahre, in denen große Einzelgänger mit ihren monumentalen Entwürfen und Visionen die geistige Aufbruchstimmung formten. Gerungen hat er um eine ganz eigene, literarisch-wissenschaftliche Sprache und hat der poetischen Anthropologie somit neue Impulse verliehen. Auf subtile Weise forschte er dem Verhältnis von Ethnologie, Soziologie und Psychoanalyse nach, ging gleichzeitig empirisch in der Beschreibung einzelner konkreter Gesellschaften vor und interessierte sich doch im Grunde vor allem für das Allgemeinste, die menschliche Natur, die Menschheit und, übergeordnet, das Kosmische.

    Wie geht das zusammen? Es ist letztlich ein intellektuelles Abenteuer, wie hier jemand versucht, mit vollem Risiko als Einzelgänger einen neuen Stil und eine neue Dimension in die Ethnologie einzubringen. Die großen Themen in Lévi-Strauss' Theorie sind die Verwandtschaftsverhältnisse und die Mythologie. Der alles bestimmende Begriff ist dabei der der Struktur. Sehr schnell hatte man Lévi-Strauss sowie dem Psychoanalytiker Jacques Lacan, dem Literaturwissenschaftler Roland Barthes und dem Historiker Michel Foucault das Etikett Strukturalist angeheftet und geglaubt, in deren ganz unterschiedlichen Forschungen eine gemeinsame methodische Ausrichtung zu erkennen. Tatsächlich aber war keiner der so bezeichneten Wissenschaftler glücklich darüber und schätzte die Gemeinsamkeiten eher gering ein. Was sie vereinte, war der neue Bezugspunkt auf die moderne, als vorbildhaft präzise angesehene Linguistik, an der sie sich methodisch orientierten. Ihre gegenseitigen Beeinflussungen und Wertschätzungen hielten sich indes in Grenzen.

    Auch wenn Lévi-Strauss äußerst allergisch auf die Versuche reagierte, aus seiner strukturalen Theorie eine für den Zeitgeist brauchbare Botschaft herauszulesen, so gab er doch, wie auch die anderen Strukturalisten, eine veränderte Richtung vor, nämlich unterhalb der vielfältigsten Phänomene nach fundamentalen Tatsachen, Strukturen und Prozessen des Denkens und des Geistes zu forschen. Dieser Überzeugung und einem derart weit ausgreifenden kulturvergleichenden und spekulativen Vorgehen folgt heute kaum noch ein Ethnologe. Aus Vorsicht und Zurückhaltung, Ängstlichkeit, einzelwissenschaftlichem Zwang und einem Mangel an philosophischen und spekulativen Visionen. Der Begriff der Struktur hat auch etwas Fetischhaftes an sich und legt die Vorstellung nahe, alles in den Gesellschaften ereigne sich nach strukturalen Gesetzmäßigkeiten. Aber Lévi-Strauss selbst, ein im übrigen stets äußerst bescheidener Mann, hat einen solchen Anspruch entschieden zurückgewiesen: Der Strukturalismus habe nie behauptet, alles sei struktural: Einige Ebenen ließen eine strukturale Analyse zu, auf anderen Ebenen geschehe alles nach Wahrscheinlichkeiten und nicht nach Notwendigkeiten.

    Claude Lévi-Strauss - der sich übrigens in Amerika Claude L. Strauss nannte, um nicht immer auf die gleichnamigen Jeans angesprochen zu werden - war in den Jahren von 1964 bis 1971 ganz mit der Niederschrift seines epochalen Werks über die Mythen beschäftigt und unternahm erst wieder in den Jahren ab 1977 ausgedehnte Reisen. Mehr und mehr wurde er aber ein Reisender in ganz anderen, kosmischen Dimensionen.

    "Unser Aufenthalt auf der Erde, also der der Menschheit, hat im Maßstab kosmologischer Zeitabläufe wenig Bedeutung. Das müssen wir uns immer vor Augen halten, um uns in einer gewissen Bescheidenheit zu üben."