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Zum Tod von Ernst Nolte
Ein philosophischer Historiker

Im Alter von 93 Jahren ist der Historiker Ernst Nolte gestorben. Mit seinem Aufsatz "Vergangenheit, die nicht vergehen will" von 1986 gilt er als Auslöser des Historikerstreits: Er hatte einen Zusammenhang zwischen der Ermordung der europäischen Juden und dem Gulag-System gesehen.

Von Arno Orzessek | 18.08.2016
    Ernst Nolte posiert in einer Bibliothek in Paris
    Der Historiker Ernst Nolte im Jahr 2002 in Paris. (AFP / Daniel Janin)
    Bieder in puncto Kleidung, korrekt in der Wortwahl, hellwach bis zum Misstrauen, dabei auf spröde Weise freundlich: So konnte man den alten Ernst Nolte in seiner Berliner Wohnung erleben.
    Dass Nolte dort die späten Jahre quasi in Verbannung verbrachte, das verbarg er so wenig wie die Verbannungsgründe: Er hatte 1986 den Historikerstreit mit der These ausgelöst, der Gulag sei "ursprünglicher" als Auschwitz, und war bezichtigt worden, die deutsche Schuld zu relativieren. Ernst Nolte sagte im Rückblick:
    "Das ist eine sehr schlimme Niederlage"
    "Wenn man das Ausmaß der Wirkungsmöglichkeit ins Auge fasst, die nach einem solchen Streit entstehen, habe ich eine geradezu zerschmetternde Niederlage erlitten. Denn ich wurde zu keiner Konferenz, zu keiner Diskussion, zu irgendetwas seit diesem Augenblick in Deutschland mehr eingeladen - völlig an den Rand gestellt, sozusagen eine Unperson geworden. Das ist eine sehr schlimme Niederlage."
    Nichts hatte auf die krasse Lebenswende vorausgewiesen, als Nolte während des Zweiten Weltkriegs - selbst kampfuntauglich wegen verstümmelter Finger - Philosophie, Germanistik und alte Sprachen studierte. "Bei meinen Mitstudenten galt ich als Marxist", erklärte der Sohn eines Wittener Volksschulrektors später. Sein herausragendes Frühwerk "Der Faschismus in seiner Epoche" von 1963 erhielt auch von linker Seite Beifall - zumal die Methode des Heidegger-Schülers, Ideologisches über die bloße Fakten-Geschichte zu stellen, tiefsinnig erschien.
    Bald sah man ihn als "Geschichtsdenker" an, er selbst sprach von "philosophischer Geschichtsschreibung" und sagte dazu:
    "Das heißt, eine Geschichtsschreibung, die mit philosophischen Begriffen zu arbeiten versucht, ohne diese Begriffe ausdrücklich und überwiegend zum Thema zu machen."
    Im Faschismus-Buch betonte Nolte, der NS-Staat habe "jene Untat" begangen, mit der, so wörtlich, "in der Weltgeschichte nichts verglichen werden kann, auch nicht der Terror Stalins" - eben den Holocaust. Gleichzeitig aber erklärte er, zeitlebens störrischen "Ja, aber..."-Argumentationen zugetan, den Faschismus und vor allem den Nationalsozialismus als historische Gegenreaktion. Ohne damals anzuecken, schrieb er: "Faschismus ist Antimarxismus"... und erklärte rückblickend:
    "Die andere Ideologie, die nationalsozialistische oder radikalfaschistische, die ohne die äußere und innere Bezugnahme auf den älteren Todfeind nicht zu verstehen ist, ersetzte die Kapitalisten durch die Juden, und von hier aus wird der Holocaust als die äußerste, jedoch des von den Bedingungen des ideologischen Krieges ab Juni 1941 nicht ablösbare Möglichkeit einer Gegen-Ideologie verstehbar, wenn auch nicht verständlich oder gar gerechtfertigt."
    Noltes Laufbahn als Professor für Neuere Geschichte in Marburg und Berlin verlief ruhig. Er schrieb dicke Bücher, darunter "Deutschland und der Kalte Krieg" und "Marxismus und industrielle Revolution", und erntete 1985 große Anerkennung:
    Ihm wurde, wie später Helmut Kohl und Helmut Schmidt, der Hanns-Martin-Schleyer-Preis verliehen - für "die Förderung der Grundlagen eines freiheitlichen Gemeinwesens".
    Der Aufsatz "Vergangenheit, die nicht vergehen will"
    Dann aber erschien Noltes Aufsatz "Vergangenheit, die nicht vergehen will" in der "FAZ" und löste den beispiellosen Streit um die Deutungshoheit über Nationalsozialismus und Holocaust aus:
    Hier die Historiker Nolte, Andreas Hillgruber, Michael Stürmer und einige andere, dort Jürgen Habermans, Hans-Ulrich Wehler, Micha Brumlik und viele andere.
    Zum Hintergrund gehörten die Pläne von Kanzler Kohl für ein Museum für deutsche Geschichte. Die Habermas-Fraktion lehnte es ab; sie sah generell reaktionäre Tendenzen aufkeimen.
    Im Vordergrund aber stand Noltes These, die Konzentrationslager und den historisch früheren Gulag verbinde ein "kausaler Nexus" - ein missverständlicher, hochumkämpfter Begriff. Nolte wörtlich:
    "Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine 'asiatische' Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer 'asiatischen' Tat betrachteten? War nicht der 'Archipel Gulag' ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der 'Klassenmord' der Bolschewiki das logische und faktische Prius des 'Rassenmords' der Nationalsozialisten? [...] Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit her, die nicht vergehen wollte?"
    Seine Gegner unterstellten, Nolte leugne die Einmaligkeit des Holocausts. Er selbst hörte nie auf, das zu bestreiten.
    "Ich habe nur verneint, was man eigentlich mit großer Selbstverständlichkeit verneinen müsste: nämlich, dass es sich nicht bloß um ein einzigartiges, sondern um ein einziges Geschehen handele, das also sozusagen aus den Zusammenhängen der Geschichte herauszunehmen sei, einer anderen Dimension angehöre, gewissermaßen einer religiösen Dimension. Das habe ich schlicht verneint."
    Wie Ernst Nolte zur "Unperson" wurde
    Historiker wie der 2014 verstorbene Hans-Ulrich Wehler jedoch blieben dabei: Nolte redet den industriellen Juden-Mord klein. Wehler sagte:
    "Es gibt offenbar ein politisch motiviertes Interesse an der Stabilisierung eines Identitätsgefühls, das - jetzt mal ganz plump gesagt -: 'na ja, die anderen haben ihren Idi Amin oder Pol Pot, wir haben einmal für zwölf Jahre Hitler gehabt.'"
    Die Habermas-Fraktion setzte sich durch, der Holocaust wurde das Paradigma des deutschen historischen Bewusstseins, Nolte in der linksliberalen Öffentlichkeit zur Unperson...
    Nicht aber in rechts-konservativen Kreisen wie der Deutschland-Stiftung, die ihm im Jahr 2000 in einer umstrittenen Feierstunde den Konrad-Adenauer-Preis verlieh.
    Indessen hatte Noltes Isolation einen weiteren Grund: Seine anstößigen, rhetorisch verdrucksten, teils verständnisvoll klingenden Erklärungen für den mörderischen Judenhass der Nazis.
    Ernste Nolte glaubte stets, seine Grundannahmen würden überdauern. Vor allem eine: dass jedes Ereignis im historischen Rahmen betrachtet werden muss, wenn es verstanden werden soll.