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Zum Tod von Roman Herzog
Ein überzeugter Europäer

Roman Herzogs berühmteste Rede war wohl die "Ruck-Rede" aus dem Jahr 1997, als er die Bürger aufforderte, sich von alten Gewohnheiten zu verabschieden. Doch nicht nur als Bundespräsident blieb er in Erinnerung, sondern auch als Landes- und Europapolitiker, als Staatsrechtler und Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Von Ursula Welter, Ulrike Winkelmann und Catrin Stövesand | 10.01.2017
    Alt-Bundespräsident Roman Herzog auf einem Sofa auf der Götzenburg in Jagsthausen (Baden-Württemberg).
    Alt-Bundespräsident Roman Herzog. (picture alliance / dpa / Daniel Naupold)
    "Wir haben es nie für möglich gehalten, dass eine solche Stunde wie diese noch einmal zu unseren Lebzeiten möglich sein würde."
    Roman Herzog ringt um Fassung, als er 1994 schildert, wie unwahrscheinlich es ihm in den 60er- Jahren als junger Staatsrechts-Professor schien, dass Berlin und Deutschland je wieder geeint sein würden. Am 23. Mai 1994 wird Roman Herzog zum Bundespräsidenten gewählt – die Bundesversammlung tagt erstmals wieder in Berlin, es ist die erste gesamtdeutsche Bundesversammlung. Herzog nutzt seine Antrittsrede, um ein paar Phrasen zur deutsch-deutschen Einheit abzuräumen:
    "Das böse Wort von der 'Mauer in den Köpfen' geht um. Aber haben wir denn im Ernst annehmen können, wir wären nach 40 Jahren der Trennung, der unterbundenen oder zumindest sehr erschwerten Information, der unterschiedlichen Lebenserfahrungen und dazu hin noch nach zweimaligem Generationswechsel sowohl westlich als auch östlich der Mauer wirklich noch dieselben - von denen uns unsere Großeltern erzählt haben, wohlgemerkt? Das kann doch nicht sein, und es ist auch nicht so. Aber, meine Damen und Herren, damit muss sich doch fertig werden lassen, zumindest dann, wenn man nichts Unmögliches verlangt. Und hinter dem Wort mit der 'Mauer in den Köpfen' steckt die Idee des Einheitsdeutschen, und das ist etwas in jedem Sinne des Wortes Unmögliches."
    Die Einheit - ein europäisches Projekt
    Roman Herzog, der Politiker, der von den Deutschen später den berühmten Ruck einfordert, er begreift die deutsche Einheit von vornherein als europäisches – und europäisch einzuhegendes - Projekt.
    Eben dieses Projekt Europa ist Roman Herzog auch nach seiner Amtszeit als Bundespräsident ein zentrales Anliegen. Im Frühjahr 2014 - unter dem Eindruck von Euro- und Griechenlandkrise veröffentlicht der CDU-Politiker das Buch "Europa neu erfinden". Die Welt ordne sich politisch, ideologisch und wirtschaftlich derzeit völlig neu, schreibt er darin.
    "Und dazu brauchen wir, wenn wir unsere eigenen Interessen wahrnehmen wollen, ein machtvolles Europa. Nicht militärisch gesehen, sondern ein Europa, das faszinierend ist, das neue Ideen entwickelt, und das auch seine eigenen Grundideen: Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit usw. vertritt."
    Europa sei kraftlos und befasse sich mit zu vielen Kleinigkeiten, moniert Herzog in seiner letzten Veröffentlichung. Er zeichnet nach, was seiner Ansicht nach innerhalb der EU falsch läuft. Lösungsvorschläge inbegriffen. Pragmatisch, wenig verkopft und sehr realistisch; allerdings zugleich recht unkonkret. Zu viele Vorschriften und Normen kämen etwa aus Brüssel, kritisiert Herzog. Die Union solle sich auf Richtlinien beschränken und die Art der Umsetzung den Mitgliedsstaaten überlassen.
    Kritik an zu viel Bürokratie in der EU
    "Ich bin ein überzeugter Europäer, aber ein bürokratisches Europa, das 70.000 Seiten auf den Tisch, mit Vorschriften und Regeln und so weiter, auf den Tisch knallt, wenn Bulgarien, oder sonst wer der Europäischen Union beitreten kann, ein solches Europa, das ist ein schwaches Europa, das verstopft sich selbst."
    So Herzog bereits 2010 im Deutschlandfunk. Europa als friedenssichernde Gemeinschaft, als global gewichtige Stimme - das war seine Vision. Im Jahr 2000 leitet er in Brüssel den Konvent, der die EU-Grundrechte-Charta erarbeitet. Eine Herausforderung ist dabei, ob und in welchem Umfang diese Charta auch soziale Rechte sichern sollte.
    "Das, was jetzt im Entwurf der Charta steht, beruht auf einem sehr sorgfältig und zum Teil auch mühsam erreichten Kompromiss zwischen denen, die lieber hundert soziale Rechte wollten und denen, die gar keine wollten."
    Die Charta sollte der Grundstein für die europäische Verfassung werden, eine Verfassung, die jedoch in einzelnen EU-Mitgliedstaaten durchfiel und somit nicht in Kraft treten konnte. Der Widerstand in den entscheidenden Referenden sei vollkommen nachvollziehbar, erläuterte Roman Herzog im Deutschlandfunk, auch hier kritisierte er ein "zu viel":
    "Das, was den Franzosen und den Niederländern vor einigen Jahren unterbreitet worden ist, ein Konvolut von fast 500 Artikeln, das ist keine Verfassung. Das ist zu lang, das ist zu unübersichtlich, zu unverständlich." Es gelte, die geistigen Fundamente der Europäischen Union wieder klar herauszustellen. Das betont Herzog bereits im Jahr 1997, als ihm der Aachener Karlspreis für seine Verdienste um die europäische Einheit verliehen wird. Und er warnt zugleich vor Gefahren, die sich heute - 20 Jahre später - mit den erstarkten Populisten ähnlich zeigen:
    "Wenn wir vermeiden wollen, dass die euroskeptischen Konfliktszenarien allmählich zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen heranwachsen, dürfen wir ihren Urhebern jetzt aber nicht mehr das Feld allein überlassen. Die Gespenster der dreißiger Jahre sind keineswegs für immer gebannt, sondern scheinen sich in allen Teilen Europas wieder zu regen, und dagegen haben wir mit aller Kraft anzugehen!"
    Jura, Geschichte oder Physik?
    Roman Herzog kommt zur Welt, als sich die Gespenster der 30er-Jahre schon auszutoben beginnen: Am 5. April 1934 wird er im niederbayerischen Landshut geboren. Sein Vater Karl-Theodor Herzog ist leitender Angestellter einer Tabakfabrik, später Archivar und Museumsdirektor. Seine Mutter hat vor der Hochzeit ihren Beruf als Bankkauffrau aufgegeben. Sie erzieht Roman und seinen drei Jahre jüngeren Bruder Theo im evangelischen Glauben.
    Der Vater ist Mitglied der NSDAP, erlaubt seinem Sohn aber nicht den Besuch einer NS-Kaderschmiede. In einem Interview mit der FAZ berichtet Herzog aus seiner Schulzeit:
    "…das muss um 1942 gewesen sein. Da sollte ich in so eine nationalsozialistische Kaderschule aufgenommen werden, Napola oder Adolf-Hitler-Schule. Wir Buben in der Schule waren total begeistert, und ich komme nach Hause und habe schon gespürt, dass meine Mutter nicht begeistert war. Dann ist nach einigen Tagen mein Vater auf Urlaub gekommen und hat gesagt: nein. Dann können Sie sich vorstellen, wie ein Neun- oder Achtjähriger darauf reagiert. Ich habe einen riesigen Radau veranstaltet. Und dann muss ich gefragt haben: Gibt es denn überhaupt einen Grund, warum ich das nicht machen darf? Da hat mein Vater erwidert: Es gibt nur einen Grund, meine Kinder erziehe ich selber. Solche Dinge bleiben hängen."
    Nach seinem Einser-Abitur studiert Roman Herzog Jura in München. Dabei sei er sich als Abiturient noch gar nicht sicher gewesen, ob er sich für Jura überhaupt interessiere, erzählt Herzog später. Seine Lehrer und wohl auch sein Vater sollen ihm ein Jurastudium empfohlen haben.
    "Ich selber habe geschwankt zwischen drei Fächern: Jura, Geschichte und Physik und habe dann nebenher, das war damals noch möglich, im ersten Jahr, oder zumindest im ersten Semester, im Grunde in den beiden ersten Semestern, soviel an physikalischen Vorlesungen mitgenommen, wie überhaupt möglich war. Aber dann habe ich einen gigantischen Fehlschluss begangen, ich war der Meinung, wenn ich Physiker werde, gehe ich in die theoretische Physik und die wäre mir dann wieder zu theoretisch gewesen."
    Also wird Roman Herzog alles, nur nicht Physiker.
    "Ich wollte mit Menschen und etwas Praktisches arbeiten. Und habe mich dann für Jura entschieden, die Geschichte immer als Hobby nebenher betrieben."
    … und zwischenzeitlich vergessen, dass er eigentlich nicht "theoretisch" arbeiten wollte.
    "..ich habe diese Überlegung dann auch vergessen, und als sie mir eines Tages wieder eingefallen war, war ich also Professor für Öffentliches Recht."
    Staatsrecht und Staatslehre verbunden
    … womit Herzog doch wieder tief in der Theorie steckt. In jungen Jahren, mit Anfang 30, übernimmt Roman Herzog Mitte der sechziger Jahre die Professur für Staatsrecht und Politik an der Freien Universität Berlin.
    Staatsrecht und Staatslehre bleiben seine Schwerpunkte. Auch später, in Speyer, an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften, deren Rektor er ist, bis er 1973 in die rheinland-pfälzische Landespolitik wechselt. Als Staatsrechtler prägt Herzog die juristische Landschaft. Angehende und gestandene Juristen kommen an seinen Grundgesetzkommentaren nicht vorbei. Von 1983 bis 1994 ist Herzog am Bundesverfassungsgericht tätig, ab 1987 als dessen Präsident.
    Auch in seiner Rolle als Politiker stößt er zahlreiche verfassungsrechtliche Diskussionen an. Immer wieder mahnt er, die Demokratie gerate ins Hintertreffen. Angesichts der Fragmentierung der Parteienlandschaft sei die Parlamentarische Demokratie in Gefahr, formuliert Herzog etwa und fordert eine Wahlrechtsänderung - die 5-Prozent-Hürde müsse überdacht werden.
    Und auch mit dem Regelwerk des Föderalismus in der Bundesrepublik kann Roman Herzog seinen Frieden nicht recht machen. Die Rolle, die dem Bundesrat häufig zugewiesen wird, ist dem Juristen ein Dorn im Auge. Er weiß, wovon er spricht, war er doch selbst in den siebziger und frühen achtziger Jahren als Landespolitiker im Bundesrat aktiv.
    "Was ich selber kritisiere, das ist das Grundprinzip unseres Föderalismus, nämlich, dass die Gesetzgebungskompetenzen gesondert verteilt werden, sodass der Bund das absolute Übergewicht hat, die Verwaltungskompetenzen so verteilt sind, dass die Länder das absolute Übergewicht haben. Bei den Gerichten ist es so, dass die ersten zwei Instanzen Landesgerichte sind und dann kommen Bundesgerichte, und bei den Finanzen geht es sowieso drunter und drüber, und das halte ich für falsch. Ich würde an sich, so wie es die Amerikaner, im Prinzip wenigstens machen, Kompetenzen verteilen, und wer die Kompetenz hat, der erlässt die Gesetze, der vollzieht die Gesetze, der finanziert das Zeug auch. Da kann man dann immer noch zwischen Armen und Reichen einen gewissen Ausgleich bringen, aber das wäre eigentlich das, was mir in sehnsüchtigen Nächten vorschwebt."
    Kritik an der Rolle des Bundesverfassungsgerichts
    Sagt Roman Herzog 2010 im "Zeitzeugen-Gespräch" mit dem Deutschlandfunk. Es sei an der Zeit, mahnt Herzog, die Gewaltenteilung zwischen Bund, Ländern, Verwaltungsgerichtsbarkeit und Verfassungsgericht auf den Prüfstand zu stellen. Und auch die Rolle, die dem Bundesverfassungsgericht im Staatsgefüge der Bundesrepublik von der Politik zugewiesen wird, kritisiert Herzog:
    "Ich beklage zwei Dinge: Das Eine ist, dass das Bundesverfassungsgericht immer wieder unter dem Druck und vielleicht auch etwas in der Versuchung steht, einfach schlechte gesetzgeberische Arbeit, wie die vorkommt, zu korrigieren. Und zweitens, dass es halt zu weit allmählich zur Verfestigung eines Normensystems beiträgt, das - jedenfalls nach meiner Überzeugung -, irgendwo lockerer sein sollte. Die Probleme werden immer feiner gesponnen, es wird auch immer mehr zugepflastert, dazu kommt die Verfassungsbeschwerde, eine wirklich unserer Glanzleistungen in Deutschland, die aber dazu führt, dass jeder Bürger sagen kann, da hätte man also doch hinter dem Komma noch was anderes machen müssen. Es ist nach wie vor, für meine Begriffe, ein fantastisches System, aber mir wird von Tag zu Tag unwohler bei dieser Festkleisterung unserer politischen Entwicklung."
    Als Schüler von Theodor Maunz in München hatte Roman Herzog an dessen Grundgesetzkommentar mitgewirkt, ein Standardwerk. Die rund 200 Seiten zu den "Rechten und Pflichten eines Staatsoberhauptes" stammen aus seiner Feder. Ein Text, den Roman Herzog einem Realitätstest unterziehen kann, als er 1994 für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert.
    Hierbei gilt Herzog sogar zunächst bloß als Verlegenheitslösung. Denn die CDU bemüht sich unter dem Eindruck der Deutschen Einheit zunächst um einen ostdeutschen Kandidaten. Bundeskanzler Kohl wählt den sächsischen Justizminister Steffen Heitmann aus. Doch der erweist sich als unhaltbar: Für seine Äußerungen zur Schoah oder zur Rolle der Frau wird der Sachse als "Reaktionär" kritisiert und muss zurückziehen. So lebensnah und direkt Herzog zu sprechen versteht – in seiner neuen Rolle wird früh deutlich, dass er seine Worte bewusst zu setzen versteht, wenn es darauf ankommt. Im Spätsommer 1994, wenige Monate nach Amtsantritt, bittet Herzog zum 50. Jahrestag des Warschauer Aufstands in der polnischen Hauptstadt um Vergebung. Er erspart den Polen dabei die verlogene Floskel, Unrecht sei "im deutschen Namen geschehen".
    Enge Verbindung zu Helmut Kohl
    "Heute verneige ich mich vor den Kämpfern des Warschauer Aufstandes - wie vor allen polnischen Opfern des Krieges. Ich bitte um Vergebung für das, was ihnen von Deutschen angetan worden ist."
    Helmut Kohl weiß, dass er sich mit Herzog einen unabhängigen Kopf eingehandelt hat – dabei will er auf keinen Fall einen weiteren Richard von Weizsäcker, der als Herzogs Vorgänger den Kanzler relativ unverhohlen und dauernd kritisiert hat. Doch Herzog und Kohl haben nicht umsonst schon in den frühen 70er-Jahren zusammen gearbeitet.
    Altbundeskanzler Helmut Kohl (r) und der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog haben am Montag (11.04.2005) in Berlin vor Beginn eines Empfangs der Konrad Adenauer Stiftung anlässlich des 75. Geburtstages von Helmut Kohl im Deutschen Historischen Museum Platz genommen. 
    Altbundeskanzler Helmut Kohl (r) und der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog. (dpa/ picture alliance/ Peer Grimm)
    Der damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kohl war es, der Herzog 1973 in die rheinland-pfälzische Landesvertretung nach Bonn schickte. Später war Herzog Minister im baden-württembergischen Landeskabinett in Stuttgart, Kohl wurde Kanzler. Herzog erzählt aus dieser Zeit:
    "Ich habe an ihm immer respektiert - das ist eigentlich für mich das Wichtigste - die Zuverlässigkeit, und auch die Zuverlässigkeit oder den Spielraum, den er mir gelassen hatte. Und dann bin ich nie von ihm desavouiert worden - was vielen meiner Kollegen in beiden großen Parteien passiert ist -, nie, er wusste allerdings, dass ich eben vorher alles versucht hatte, ihn zu erreichen, und das ist eine gute Basis für die gegenseitige Arbeit."
    Wie Kohl will sich Herzog als Konservativer vom linksliberalen und 68er-Milieu nicht die eigene Vergangenheitsbewältigung diktieren lassen.
    "Also wir haben uns mit - ich mehr als mein Vater und mein Bruder - aber, wir haben uns mit der Frage des Antisemitismus, der Judenverfolgung, der Judenvernichtung und dergleichen offen auseinandergesetzt. Möglicherweise die ältere Generation etwas zurückhaltender als die jüngere Generation, aber das war alles nichts neues, das sind Vorwürfe, die ich also für viele von den Erwachsenen, die ich damals gekannt und erlebt habe, eigentlich nicht gelten lassen kann."
    In gewisser Weise, sagt er später einmal, habe ihn die 68er Bewegung 1970 erst dazu bewogen, in die CDU einzutreten:
    "Ich habe in der Auseinandersetzung mit den 68ern folgendes beobachtet: Da waren also zum Teil berechtigte, sehr berechtigte Anliegen, dann war sehr viel Schwärmerei à la - na ich sage mal - Jugendbewegung mit drin, und solchen Dingen gegenüber bin ich von vornherein immer skeptisch gewesen, egal in welche Richtung sie gehen. Aber es war dann ein harter Kern, bei dem, in Berlin jedenfalls, ganz deutlich war, das war Marxismus, Leninismus reinsten Wassers, und das wollte ich nicht."
    Kritik an Rentenpolitik der Großen Koalition
    So ist es auch weniger die Geschichtspolitik, für die Herzog steht, sondern ein Eintreten für wettbewerbliches, marktwirtschaftliches Denken. In diesem Geist leitet er auch später, 2003, die nach ihm benannte Kommission, die Sozialreformen für die CDU entwerfen soll – von deren Ideen aber die Union bald wieder abrückt. Noch 2016 kritisiert Herzog die Rentenpolitik der Großen Koalition als zu großzügig.
    Seine berühmte Ruck-Rede hält Herzog 1997, zur Eröffnung des Nobel-Hotels Adlon in Berlin. Ironischerweise zeichnet sich zu diesem Zeitpunkt längst ab, dass die Kohl-Regierung gewiss nicht mehr ruck-, also reformfähig ist. Eine nachfolgende, die rot-grüne Regierung, wird das Wirtschaftsgefüge der Bundesrepublik im Namen der Globalisierung umkrempeln.
    "Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen, vor allen Dingen von den geistigen, von den Schubläden und den Kästchen, in die wir gleich alles legen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, die Großen mehr, die Kleinen weniger, aber es müssen auch alle mitmachen."
    In einem Fernseh-Interview sagt er Jahre später:
    "Ich wusste, dass das Wort "Ruck" die Leute provozieren wird und faszinieren wird. Ich wusste auch, dass es nicht ganz richtig ist im Übrigen. Aber das war mit eingebaut, weil ich ja wollte, dass drüber diskutiert wird."
    Bundespräsident Roman Herzog hebt am 26.4.1997 während seiner Grundsatzrede im Berliner Hotel "Adlon" den Zeigefinger. 
    Herzog fordert in Grundsatzrede Visionen für 21. Jahrhundert (picture-alliance / dpa)
    So wird wohl auch manche Botschaft von Herzog nach seinem Tod verstanden werden: Bei aller juristischen Präzision, bei allem Geschichtsbewusstsein müsse es in Deutschland auch immer darum gehen, eine offene Diskussion zuzulassen, Freiräume zur Gestaltung zu erkennen – und wahrzunehmen:
    "Wir sind ja insgesamt kein lockeres und kein wirklich fröhliches Volk, sondern ein sehr ernsthaftes Volk, das ist auch einer unserer Vorzüge immer gewesen. Aber trotzdem, man darf auch das nicht übertreiben. Man muss sagen: Das probieren wir. Und wenn ich eine Chance habe, dann kann ich nicht verlangen, dass das eine hundertprozentige Chance ist, und wenn ich eine Gefahr sehe, weiß ich auch nicht sicher, dass die sich realisiert. Das muss man gegeneinander abwägen und im Übrigen ein bisschen Gottvertrauen haben."