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Zum Tod von Ror Wolf
Katastrophe und Alltag

Er galt als wichtige Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur. In Romanen, Gedichten, Bild-Collagen und Hörspielen sezierte Ror Wolf mit großer Sprachgewalt die Wirklichkeit. Mit der Montage von Fußball-Hörstücken wurde er bekannt. Am Montagabend starb Wolf nach längerer schwerer Krankheit im Alter von 87 Jahren in Mainz. Ein Nachruf.

Von Helmut Böttiger | 18.02.2020
Der Schriftsteller Ror Wolf sitzt am Dienstag (26.02.2008) in seiner Wohnung in Mainz vor einem Bücherregal auf einem Sofa.
Der verstorbene Schriftsteller Ror Wolf (picture alliance / dpa / Uwe Anspach)
Im Jahr 1992 füllte Ror Wolf jenen berühmten Fragebogen aus, den Marcel Proust in seinem Leben gleich zwei Mal ausgefüllt hatte. Symptomatisch ist Wolfs Reaktion auf die Frage: "Was möchten Sie sein?" Ror Wolf antwortete: "Ein unterschätzter Autor". Damit charakterisierte er äußerst realistisch die Rolle, die er im deutschen Literaturbetrieb spielte, und unterlief sie im selben Moment.
In jedem der Sätze Ror Wolfs ist solch ein doppelter Boden versteckt, das beginnt schon mit seinen ersten Arbeiten in der Frankfurter Studentenzeitung "Diskus" ab 1958 und findet sich genauso im 2015 erschienenen Band "Die plötzlich hereinkriechende Kälte im Dezember". Die Grunderfahrung dieses Autors war immer die einer ganz bestimmten Absurdidät, aber es war keine bloß individuelle, es war vor allem auch eine gesellschaftliche Erfahrung.
"Radikalität! Ich glaube, es gehört zu den Aufgaben eines Autors, so wie ich ihn mir vorstelle, dass er sich Ideologien nicht unterwirft, und dass er sich auch der Ideologie des Marktes nicht unterwirft."
Im Strom des Bewusstseins
Ror Wolf wurde am 29. Juni 1932 im thüringischen Saalfeld geboren. Er legte in der DDR sein Abitur ab und arbeitete danach zwei Jahre lang als Betonbauer, bis er 1953 in die Bundesrepublik übersiedelte. Dort verdingte er sich als Hilfsarbeiter, bis er begann, Literatur, Soziologie und Philosophie zu studieren. Schon in seinen ersten Moritaten zeigt sich sein ganz eigenes literarisches Modell: in eine Alltagssituation, vornehmlich in banale, austauschbare Familienszenen, bricht plötzlich etwas Katastrophisches herein.
Komik und Schrecken sind dabei nie zu trennen, Ror Wolfs bevorzugte ästhetische Ausdrucksform ist die Groteske. 1964 erschien sein Prosadebüt "Fortsetzung des Berichts", ein listiger Titel für ein erstes Buch. Es ist ein Text, der auf den ersten Blick einiges mit dem gerade in Schwange stehenden "nouveau roman" zu tun hat und zwei Erzählstränge aus Gegenwart und Vergangenheit ständig vertauscht und ineinanderfließen lässt. Es ist bezeichnend, dass der damals noch äußerst junge Kritiker Peter Handke die Bedeutung dieses Buches sofort erkannte: es sei der erste ernstzunehmende Versuch, für den "Strom des Bewusstseins eine neue sprachliche Form zu finden".
"Mir war es wichtig, Aufgeschnapptes oder auch Gedachtes, in diesem Moment, wo ich es gedacht habe oder auch aufgeschnappt habe, zu registrieren. Ich habe eine große Menge von Sätzen parat, in ein Ordnungsystem gebracht, und damit kann ich dann auch collagierend oder auch erzählend umgehen. Das heißt, ich kann aus einem Satz dann einen nächsten ableiten und so ergibt sich eine Fülle von Möglichkeiten."
Wortschwall der Gesellschaft
Die Figuren in Ror Wolfs Büchern heißen "Pilzer und Pelzer", wie in seinem Prosaband von 1967, sie heißen Wobser, Gibser, Schlötzer oder Schrader: in ihnen ist genausowenig etwas Eigenständiges, Charakteristisches zu erkennen wie in ihren Namen. Es geht um Entfremdung, um die Austauschbarkeit von Personen, der Einzelne kann überhaupt nur in Form von Reihungen auftreten. Früh widmete sich Wolf den im etablierten Kulturbetrieb damals noch verachteten Disziplinen des Trivialen, wie Western, Comics oder Fußball. Und damit, mit seinem 1971 erschienenen Collageband "Punkt ist Punkt. Fußball-Spiele" wurde er in Fachkreisen berühmt. Zwischen den Jahren 1973 und 1979 setzte er das konsequent fort: er schuf zehn Fußball-Collagen für das Radio, die den Umgang mit Fußball in diesem Medium absolut revolutionierten: "Ball Ball Ball Ball Ball…"
Lust an Live-Reportagen
Damals waren die Sport- und die Kulturredaktionen noch radikal getrennt. Die Berichterstattung von den samstäglichen Spielen der Bundesliga war von einem furiosen, aber auch ironiefreien und nachrichtlichen Bier-Ernst getragen. Diese markanten Männerstimmen ahnten gar nicht, wieviel von ihrem Unbewussten sich in ihrem Kampfgetümmel und ihren Brunftschreien ausdrückte. Schon in seiner literarischen Kunstprosa vorher hatte Ror Wolf mit Material gearbeitet, das, wie er sagte, den "ganzen Wortschwall der Gesellschaft" transportiert. In seinen Fußballcollagen ist das dann in eine ganz neue Kunstform überführt. Hier hat der Gestus des verunglückten Sprechens einen völlig anderen Charakter: "Abseits… Freistoß…"
Ror Wolf zeigt, welche Abgründe, welche existenziellen Dimensionen, welch unbändige Lust in den Live-Reportagen aus den Bundesligastadien verborgen sind, er zeigt hinter dem scheinbar eindeutig daherkommenden Fußballspiel das wahre Spiel, das Spiel des Lebens und der Kunst. Die Emotionen, die hier so stark in den Vordergrund treten, können ganz verschieden interpretiert werden, und Ror Wolf changiert zwischen der ungeheuren Wucht des Faktischen und dem utopischen Potenzial, das die Literatur wachrufen kann: "Tor!Tor!"
Bix Beiderbecke aus Nord-Amerika
Ror Wolf hat damit das letzte Wort zu Fußball als Kunst gesagt. Es ist unmöglich, die Spannung des Fußballs auf die Literatur zu übertragen. Die Literatur liegt im Fußball selbst. Einmal definierte Ror Wolf Fußballfans im Stile Kafkas: sie seien "Naturdarsteller eines nie zu Ende gehenden Totaltheaters", womit er auf Kafkas "Naturtheater in Oklahoma" anspielt. Er hat übrigens nicht nur in diesen geheimen Kafka-Korrespondenzen Gemeinsamkeiten mit seinem Freund Wilhelm Genazino, mit dem er gelegentlich sogar zu Auswärtsspielen der Frankfurter Eintracht im Fanbus mitreiste.
In den siebziger Jahren erkannte Ror Wolf, dass sich seine künstlerischen Absichten an keinem Ort so wirkungsvoll realisieren konnten wie im Radio. Er schrieb eine Zeitlang nur noch Hörspiele, die in einer raffinierten Collagetechnik das ins Radiophone überführten, was er gleichzeitig als Bildender Künster im Anklang an Max Ernst oder auch den surrealistisch inspirierten frühen Peter Weiss erarbeitete. Mit der Zeit mischte er das aber mit ganz anderen Sehnsüchten, zum Beispiel mit seiner frühen Jazzbegeisterung.
1987 erhielt Ror Wolf den renommierten "Hörspielpreis der Kriegsblinden" für sein als "Radioballade" betiteltes Tongemälde: "Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord-Amerika".
"Und beim Vorbeischwimmen wehte eine ganz seltsame schöne Musik herüber. Der Kornettist stand ganz still. Er stand da und blies und alles schwamm bleich vorbei, man hörte nur im Vorbeischwimmen dieses Heranwehen von Musik. Ich werde nie diese Töne vergessen, sie waren ganz rund, ja, ganz fest, verstehn Sie? ganz klar. Ich hatte noch niemals vorher solche Töne gehört, er spielte mit einer unbegreiflichen Leichtigkeit und diese Töne hörten sich an als würden sie gar nicht geblasen, sondern als würde man mit einem…"
Kultstatus für Eingeweihte
Der frühe Jazzer Bix Beiderbecke steht, mit suggestiven musikalisch-radiophonen Mitteln, auch für den Außenseiterstatus des Künstlers. Und den hat Ror Wolf immer wieder lustvoll entworfen und montiert. Mit seinem künstlerischen Pseudonym Raoul Tranchierer betonte er regelmäßig seine Faszination am Collagieren, am surrealistischen grausigen Welttheater. 1984 veröffentlichte er "Raoul Tranchierers vielseitigen Ratschläger für alle Fälle der Welt", und sein Künstlerkollege Ludwig Harig zeigte sich begeistert über das "didaktische Raffinement" dieses Buches, das "den Ratsuchenden zuerst schmeichlerisch" für sich einnehme, zuletzt aber "in die Irre" schicke. Überhaupt die Schriftstellerkollegen!
Deren Lobpreisungen sind charakteristisch. Brigitte Kronauer zum Beispiel sagte über Rolf Wolf, dass sich "ein Höhepunkt an den anderen" reihe, so dass zum Schluss gar kein einzelner Höhepunkt als solcher mehr zu erkennen sei, sondern nur eine einzige "Ebene von Höhepunkten".
Ror Wolf erinnert an den von ihm verehrten Bebop-Musiker Dizzy Gillespie, der wegen seiner für die Zeitgenossen oft unverständlichen, avancierten Spielweise sagte, er spiele nur für Musiker. Dasselbe lässt sich auch von Ror Wolf sagen. Er ist Zeit seines Lebens ein Geheimtipp geblieben. Aber für Eingeweihte hatte er immer einen Kultstatus: "Ich weiß nicht, warum ich so schreibe, wie ich schreibe. Ich will es aber!"