Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Zum Tod von Wilhelm Genazino
Apologet der Erfolgsunwilligen

Wilhelm Genazinos Romanhelden haben wenig Interesse an Geld, Ruhm, Karriere - sie huldigen dem Müßiggang. Mit der Figur des schrulligen Erfolgsverweigerers erschuf er einen ganz eigenen Antihelden. Viele westdeutsche Leser identifizierten sich mit ihm, so Kritiker Helmut Böttiger im Dlf anlässlich des Todes des Autors.

Helmut Böttiger im Gespräch mit Gisa Funck | 14.12.2018
    Der Frankfurter Schriftsteller Wilhelm Genazino
    Der Schriftsteller Wilhelm Genazino im Jahr 2013 (dpa/ picture alliance / Horst Galuschka)
    Gisa Funck: Hallo Herr Böttiger, Sie kannten Wilhelm Genazino gut und Sie kennen sein Werk. Was ist das für ein spezifischer Heldentypus, der ja durchgehend in seinen Büchern und Romanen vorkommt?
    Helmut Böttiger: Ja, dieser Heldentypus - das Wort "Held" bekommt hier eine besondere Konnotation - der ist vor allem im Mannheimer Kleinbürgertum verankert, aus dem Wilhelm Genazino stammt. Der Familienname sollte hier nicht täuschen. Denn Genazino ist ein lupenreiner Mannheimer und ist in ein Elternhaus hineingewachsen, das er des Öfteren beschrieben hat. Sehr eng. Die 50er-Jahre-Mentalität schlägt da überall durch, auch in den Satzschleifen von Wilhelm Genazino. Und dieses kleine Milieu, das Angestelltenmilieu der 60er-Jahre, das hat er selber durchlaufen, und das war dann auch immer Thema seiner Romane, vor allem seines berühmten Abschaffel-Romans, der berühmten Trilogie in den 70er Jahren, mit der er damals berühmt geworden ist.
    Funck: Dieser "Abschaffel" und auch spätere Helden von Wilhelm Genazino, bei denen fällt ja auf, dass die immer so seltsam antriebslos sind. Die sind meistens eben gerade nicht bestrebt, eine glorreiche Karriere zu machen oder viel Geld zu verdienen. Woher rührt diese Lähmung bei Genazinos Helden?
    Merkwürdige Lähmung der Genanzino-Helden
    Böttiger: Also mein Lieblingssatz in Genazinos Abschaffel-Romanen, im ersten Band der Trilogie, der heißt: "Abschaffel schaltete eine kleine Lampe ein, weil er das Gefühl vermeiden wollte mit dem langsamen Dunklerwerden des Abends selbst zu verschwinden." Dieses Selbstverschwinden, dieses Sich-Selbst-Klein-Machen und dem Leben gegenüber nicht richtig gewappnet zu sein: Das ist so das durchgehende Motiv in Genzinos Werk, und das hängt – so glaube ich – mit diesem Milieu zusammen, in das er hineingewachsen ist und das er immer wieder beschreibt, so kleine Büroangestellte, später sind es verlorene Existenzen, die irgendwelchen Jobs nachgehen, die aber gar nicht genau beschrieben werden können. Diese Jobs haben immer etwas mit Akten zu tun, mit Ärmelschonern, aber irgendwie ist es nichts Wichtiges. Und diese Existenzen, die er beschreibt, die befinden sich immer am Rande des Verschwimmens, des Verblassens. Das charakterisiert auch ein bestimmtes Milieu der Bundesrepublik. Und man kann sagen, dass Genazino der Seismograph der frühen Bundesrepublik ist, was die seelischen Regungen anbelangt.
    Funck: Ist das eine Verweigerungshaltung - oder sogar eine Verteidigungspose des Privatmenschen gegen einer zu starken gesellschaftlichen Vereinnahmung?
    Böttiger: Also eine aktive Handlung ist bei Genazino äußerst selten der Fall. Es ist ein Sich-Ducken, also eine defensive Bewegung. Aber es gibt dann so eine merkwürdige Verpuppung. Im Laufe seiner Romane spielt die Kunst eine immer größere Rolle. Nach der Abschaffel-Trilogie schien Genazino ja erst mal ausgeschrieben zu sein, obwohl er mit diesen Romanen wirklich großen Erfolg hatte. Die drei Bände erschienen kurz hintereinander. Udn dann war plötzlich fast ein Jahrzehnt lang Schluss, und er schrieb nichts mehr. Doch dann kam ein Buch, das war plötzlich ganz anders gelagert und hatte den merkwürdigen Titel: "Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz". Und darin ist der Rettungsanker der Kunst erahnbar. Da steht eine verlorene, suchende Künstlerexistenz im Mittelpunkt. Also die Kunst bietet dann so eine Art Fluchtpunkt, und es taucht auch sehr stark der Name Kafka auf, der für Genazino eine große Rolle spielte, obwohl er das in den Büchern nie eigens thematisiert hat. Aber Kafka wird bei ihm manchmal direkt benannt als Identifikationsfigur. Auch als Angestellter, der an der menschlichen Existenz verzweifelt, der als Außenseiter das Treiben der Mitmenschen ängstlich, aber auch belustigt beschreibt. Und das ist – so glaube ich – die typische Konstellation.
    Funck: Wilhelm Genazino wurde 1943 in Mannheim geboren. Das haben sie gerade schon erwähnt, und er hat dann auch lange in Frankfurt am Main gelebt. Und Frankfurt am Main ist ja die Stadt, mit der man die Frankfurter Schule, aber auch die postmodern-ironische Neue Frankfurter Schule verbindet. Hinzu kommt, dass Genazino ja zumindest vom Alter her schon der 68er-Generation zuzurechnen ist. Hatte er denn eigentlich gar keine Beziehung zu den 68ern?
    Mit Alice Schwarzer in einer WG
    Böttiger: Also das kann man natürlich nicht glauben. Tatsächlich war er von Ende der 60er bis Anfang der 70er Jahre Redakteur der Sartire-Zeitschrift "Pardon!", also beim Vorgängerblatt der Titanic. Eine doch sehr zeitkritische Satire-Zeitschrift. Und Genazino wohnte auch eine zeitlang in einer Wohngemeinschaft zusammen mit Alice Schwarzer, was man später kaum mehr für möglich halten konnte. Und das satirische Moment, das Karrikierende, das ist eben die andere Seite von Wilhelm Genazino. Er hatte nicht nur eine melancholische, depressive Haltung, ist in seinen Büchern nicht nur schwarz-apokalyptisch, sondern das wird bei ihm immer wieder aufgebrochen durch Slapsticks und ungeheuer humorvolle Bemerkungen.

    Diese Balance macht Genazino aus. In der Zeitschrift "Pardon!" war er einer der Haupt-Beiträger, hat lustige, zeitkritische Artikel geschrieben. Und es würde sich lohnen, das noch einmal nachzurecherieren. Ich habe die Bände nochmals durchgeblättert. Also da gibt es noch einige Entdeckungen für den Verlag zu machen. Kleine Feuilletons, die durchaus bissig sind. Er hat sich dann allerdings im Laufe der 70er Jahre von der Mainstream-Satireszene in Frankfurt sehr entfernt. Und hatte mit Robert Gernhardt oder Eckhard Henscheid dann eigentlich auch gar nichts mehr zu tun, obwohl er die Anfänge mit ihnen teilte.
    Kontakt zur Neuen Frankfurter Schule
    Funck: Was hat ihn von dieser satirischen Szene der "Neuen Frankfurter Schule" entzweit? Gab es dafür einen Anlass?
    Böttiger: Ich glaube, das war ihm letztlich zu wenig. Er hatte mehrere Ebenen im Blickfeld, vor allem ästhetisch. Mehr Richtung Kafka, auch eine eher meditative Haltung Kunstgegenständen gegenüber, und es ist bei ihm eben dieser doppelte Boden. Es ist nicht einfach nur etwas Humoristisches, Komödiantenhaftes, Talkshowmäßiges, wo die Pointen im Mittelpunkt stehen, sondern der Abgrund ist bei Genazino eben sprachlich auch immer mitverzeichnet. Ich glaube, das ist das Entscheidende. Dass er nicht so diese Haltung einnimmt, über irgendwas drüberzustehen, so mit diesem höhnischen Gestus, die Dinge zu bezeichnen, sondern er ist als Autor immer mittendrin im Geschehen: Er zeichnet sowohl die Verzweiflung als auch das Komische an der Verzweiflung, und das ist – so glaube ich – seine artistische Gratwanderung, die sehr unverwechselbar ist.
    Funck: Was wir noch unbedingt erwähnen müssen: Genazinos Helden tun sich ja nicht nur schwer mit einer Berufskarriere, die tun sich auch auffällig schwer mit der Liebe. Nicht umsonst heißt einer seiner berühmten Romane "Die Liebesblödigkeit". Warum haben seine Helden eigentlich so große Probleme mit der Liebe und der Beziehung zu Frauen?
    Böttiger: Ja, die kennen wir doch eigentlich alle, wenn wir ehrlich sind. Aber es stimmt, das zieht sich durch die Romane von Genazino durch, dass die Mitmenschen eigentlich die größten Ärgernisse sind. Und bei seinen Hauptfiguren sind die Beziehungen zu Frauen eigentlich immer von einem Verhängnis gezeichnet. Es gibt natürlich lustvolle Momente, es gibt das Schweben über allem, aber das hat gleichzeitig immer etwas Groteskes. Das Phänomen der Peinlichkeit ist für Genazino hier auch sehr wichtig. Die Peinlichkeit, sich offen zu zeigen, seine Verletzungen zu zeigen. Die liegt bei ihm awahrscheinlich auch an der kleinbürgerlichen Sozialisation in Mannheim, in dieser kleinen, verwinkelten Wohnung mit seinen Eltern, mit der Mutter. Das hatte ihm wohl ein existenzielles Schamgefühl eingepflanzt, und dieses Schamgefühl wurden dann auch die Figuren seiner Romane nicht mehr los, auch nicht bei ihren Frauenbeziehungen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.