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Zum Tode von Richard von Weizsäcker
Vom Diplomatenkind zum Christdemokraten

Kaum ein Staatsoberhaupt schien für seine Aufgabe so geschaffen zu sein wie der Abkömmling einer bekannten württembergischen Theologen- und Juristenfamilie. Gutaussehend und eloquent, weltgewandt und vornehm - so erschien "König Silberlocke" den Deutschen. 1987 lag er in einer Emnid-Untersuchung an der Spitze der am meisten bewunderten Persönlichkeiten.

Von Brigitte Baetz | 31.01.2015
    Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) spricht am 21.01.2013 in Berlin bei der Vorstellung seiner neuen Biografie.
    Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist im Alter von 94 Jahren verstorben. (picture alliance / dpa - Paul Zinken)
    "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegenüber jedermann üben werde, so wahr mir Gott helfe."
    Richard von Weizsäcker, am 23. Mai 1984 zum sechsten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt, besaß von Anfang an das Vertrauen einer breiten Öffentlichkeit. Keiner seiner Vorgänger verfügte über eine derart große Akzeptanz schon in der parlamentarischen Versammlung. Auch zahlreiche Delegierte von SPD und FDP stimmten für ihn. Bereits vor dem Wahlgang erklärte der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Bundestag, Hans-Jochen Vogel, im Interview mit dem Deutschlandfunk:
    "In erster Linie steht die persönliche Einschätzung dieses Mannes, dass er ein ausgezeichneter Bundespräsident sein würde, dass er fähig ist, anderen zuzuhören, dass er zur Differenzierung fähig ist. Nicht, dass wir ihn alle wählen, das wird nicht sein können, aber dass wir keinen Gegenkandidaten aufstellen und damit ein politisches Zeichen geben."
    Kaum ein Staatsoberhaupt schien für seine Aufgabe so geschaffen zu sein wie der Abkömmling einer bekannten württembergischen Theologen- und Juristenfamilie. In der Bevölkerung, so sahen es jedenfalls die Spötter, nahm er bald den Rang eines unangreifbaren Ersatzmonarchen ein. Gutaussehend und eloquent, weltgewandt und vornehm, so erschien "König Silberlocke" den Deutschen. 1987 lag er in einer Emnid-Untersuchung vor Helmut Schmidt und dem Papst an der Spitze der am meisten bewunderten Persönlichkeiten.
    Gegenentwurf zum Berufspolitiker Helmut Kohl
    Doch bei aller Verbindlichkeit und Redegewandtheit war Richard von Weizsäcker ein Präsident mit eigenen Prinzipien und Ansichten, die er auch vertrat, wenn dies als unzulässige Einmischung in die aktuelle Politik betrachtet werden konnte. So bemühte er sich um Verständnis für die Hausbesetzer in der Hamburger Hafenstraße, so begnadigte er die RAF-Terroristin Angelika Speitel oder mahnte er die Festschreibung der polnischen Westgrenze an. Dabei war er oft genug gerade dem Mann ein Dorn im Auge, der ihn eigentlich in die Politik gebracht hatte, nämlich dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl.
    Der gelernte Jurist Richard von Weizsäcker, geboren am 15. April 1920 in Stuttgart, begann seine politische Karriere relativ spät und war allein dadurch ein Gegenentwurf zum Berufspolitiker Helmut Kohl. Als er 1966 unter Mithilfe des späteren Bundeskanzlers, der damals Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz war, zum ersten Mal in den CDU-Bundesvorstand und 1969 in den Bundestag gewählt wurde, war er schon eine profilierte Persönlichkeit, die sich in der Wirtschaft und in der Arbeit als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages bewährt hatte. Seine Herkunft als Diplomatenkind kam ihm dabei ebenso zugute wie das intellektuell anregende Umfeld, in dem er aufwuchs. Sein älterer Bruder war der bedeutende Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker.
    Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte er Studienaufenthalte in Oxford und Grenoble absolviert, als er 1938 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Im Dienst an der Ostfront wurde er Zeuge der verbrecherischen Natur des Nazi-Regimes. Er hatte Kontakte zum deutschen Widerstand, war aber selbst nicht aktiv daran beteiligt. Was es hieß, vor der Frage zu stehen, wie weit die Loyalität zu einem Staat gehen könne, auch wenn er ein Unrechtsstaat ist, erlebte er an der Person seines Vaters.
    Von Weizsäcker verteidigte seinen eigenen Vater vor den Alliierten
    Ernst von Weizsäcker, von 1938 bis 1944 Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Ribbentrop, ein pflichtbewusster preußischer Diplomat der alten Schule, beileibe kein Nazi, aber eben doch in ihren Diensten, musste sich nach dem Krieg im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess vor den siegreichen Alliierten verantworten. Er, der nach eigenem Bekunden mit seinem Verbleib im Außenministerium helfen wollte, Schlimmeres zu verhüten, wurde in Nürnberg zu sieben Jahren Haft verurteilt. Sein Sohn Richard hat ihm als Hilfsverteidiger beigestanden und hat diese Zeit als seine im menschlichen wie im zeitgeschichtlichen Sinne intensivste Lehrzeit bezeichnet. Die Problematik, wie sich persönliche Unschuld durch den Dienst im Staatsapparat in Mittäterschaft und in objektive Schuld verwandeln konnte, hat Richard von Weizsäcker als Bundespräsident in einer seiner bedeutendsten Reden thematisiert:
    "Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich. Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewusstsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung."
    Barbara John und Richard von Weizsäcker 1981
    Richard von Weizsäcker als Regierender Bürgermeister von Berlin 1981. Hier führte er Barbara John als Ausländerbeauftragte ein. (Landesarchiv Berlin)
    Weizsäckers eigene Bewährungsprobe in der praktischen Politik vollzog sich mit seiner Wahl zum Regierenden Bürgermeister von Berlin 1981. Zum ersten Mal stand damit ein Christdemokrat an der Spitze der Frontstadt des Kalten Krieges. Zwar hatte er nur einen Minderheitssenat hinter sich, konnte aber durch seine integrierende Persönlichkeit auch die SPD zur Zusammenarbeit in Sachfragen bewegen. Doch nicht nur zur Reform der Verwaltung nutzte Weizsäcker sein Amt, er reiste auch im Einvernehmen mit Kanzler Kohl und den Alliierten als erster Regierender Bürgermeister in die DDR, wo er von Erich Honecker empfangen wurde.
    Das deutsch-deutsche Verhältnis blieb eines seiner wichtigsten Themen, auch nachdem er zum Bundespräsidenten gewählt worden war. Versöhnung und Konsens - zwischen Alt und Jung, zwischen Ost und West, zwischen Inländern und Ausländern - versuchte er zu ermöglichen; bloßes Repräsentieren war seine Sache nicht, er wollte auch Orientierung vermitteln.
    Moralische, aber nicht moralisierende Art
    Seine moralische, aber nicht moralisierende Art traf bei vielen seiner Zuhörer einen Nerv. Die Rede, die Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 hielt, in Erinnerung an den 40. Jahrestag des Kriegsendes, setzte dabei ein Zeichen über den innenpolitischen Rahmen hinaus. Er fand klare Worte für Dinge, die in Deutschland ungern thematisiert wurden; in einer Art und Weise, die es vielen Menschen ermöglichte, sich damit auseinanderzusetzen:
    "Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem Rechtsentzug, den unaufhörlichen Schändungen der menschlichen Würde. Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten. Die Fantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah."
    Richard von Weizsäcker 1985 bei seiner Rede am Pult des Bundestags in Bonn.
    Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei seiner vielbeachteten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 im Bundestag in Bonn. (dpa / Heinrich Sanden)
    Richard von Weizsäcker meinte, dass der 8. Mai für die Deutschen kein Grund zum Feiern sei, wohl aber als ein Tag der Befreiung von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verstanden werden müsse. Dieses Diktum fand Anerkennung im Ausland und konnte helfen, im Inland die Standpunkte von Zeitzeugen und von Nachgeborenen zu versöhnen. Umgesetzt hat von Weizsäcker diese politische Schlüsselrede unter anderem bei seinen Staatsbesuchen. Als erstes deutsches Staatsoberhaupt reiste von Weizsäcker 1985 nach Israel, 1987 in die Sowjetunion, 1990 nach Polen und 1991 in die Tschechoslowakei. Für ihn, der als Bundestagsabgeordneter gegen die Haltung seiner eigenen Fraktion für die Ostverträge Willy Brandts geworben hatte, war die Aussöhnung mit dem Osten ein wichtiges Thema.
    Von Weizsäcker wirkte ausgleichend
    Man darf dabei nicht vergessen, dass Weizsäckers Amtszeit in eine Phase fiel, in der Kalter Krieg und Rüstungswettlauf zu eskalieren drohten. In dieser Situation, der amerikanische Präsident Ronald Reagan hatte die Sowjetunion gerade als das „Reich des Bösen" gebrandmarkt, Helmut Kohl den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow mit Joseph Goebbels verglichen, erklärte von Weizsäcker:
    "Friedliche Beziehungen zur Sowjetunion haben für uns ein besonderes Gewicht. Dazu müssen wir die Realitäten ernst nehmen wie sie sind. Kein Bündnis wird das andere mit einem Rüstungswettlauf in die Knie zwingen. An den Verhandlungstisch wird die Sowjetunion kommen, wenn es gelingt, ihre eigenen Interessen dafür zu mobilisieren. Zu einem inneren Reformkurs wird sie sich durch Druck von außen nicht nötigen lassen. Es gilt bei der Sowjetunion, aber auch bei uns selbst, einem gegenseitigen, allzu vereinfachten Weltbild entgegenzuwirken. Unzureichende Informationen und Vorurteile erzeugen wechselseitig unbegründete Angst, die nicht weniger gefährlich sein kann als Rüstung. Auch fördert es den Frieden nicht, die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Wir verlieren unser Unterscheidungsvermögen zwischen Freiheit und Tyrannei keineswegs, wenn wir die Menschen in der Sowjetunion für so gut oder so böse halten wie uns selbst."
    Begrüßung über den Zaun hinweg: Stundenlang haben die Aussiedler am 06.10.1987 auf die Ankunft von Richard von Weizsäcker (r) gewartet. Der Bundespräsident besucht die Institution anlässlich des 30-jährigen Bestehens der Friedland-Hilfe.
    Als Bundespräsident besucht Richard von Weizsäcker am 06.10.1987 Aussiedler der Friedland-Hilfe. (picure alliance / dpa / Thomas Wattenberg)
    Auch das Ende der kommunistischen Herrschaft begleitete von Weizsäcker mit dem ihm zur Verfügung stehenden Mittel der öffentlichen Rede. Er mahnte zur Behutsamkeit beim Zusammenwachsen von DDR und Bundesrepublik und erinnerte immer wieder beharrlich daran, dass die Deutschen im Ostteil nach 1945 die größere Last getragen und sich ihre Freiheit selbst erkämpft hätten. Frühzeitig warnte er vor einer kritiklosen Übernahme des westlichen Konsummodells, dem viele im Osten vielleicht nicht gewachsen sein könnten und empfahl dem ganzen Land etwas mehr Bescheidenheit:
    "Ist der Markt ein Zwang zur ständigen Unbescheidenheit, zum unaufhörlichen persönlichen materiellen Weiterwachsen? Ist das sich mit dem 'Genug zu bescheiden' etwas, was der Markt nicht zulässt? Ich glaube, auf dem Gebiet können wir manches aus Gesprächen mit unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern im Osten lernen, die nicht nur organisatorische, technische, kaufmännische Schwierigkeiten bei der Angewöhnung an den Markt haben, sondern an diese Mentalität."
    Wiedervereinigung war für ihn kein leerer Begriff
    Mit dem 3. Oktober 1990 wurde der sechste Präsident der Bundesrepublik Deutschland zum ersten Staatsoberhaupt des neu vereinigten Landes. Doch der Freudentaumel vor allem im Osten ließ seinen Einfluss auf die öffentliche Debatte zugunsten von Bundeskanzler Helmut Kohl in großem Maße schwinden. Richard von Weizsäcker, dem das Wort Wiedervereinigung wie den meisten Deutschen seiner Generation kein leerer Begriff war, nahm dies nach außen mit der ihm eigenen Gelassenheit zur Kenntnis. Wie gut aber seine Autorität als Präsident auch noch in der DDR in den Zeiten des Wandels zum Tragen kam, belegt eine Anekdote, die Weizsäcker den deutschen Fernsehzuschauern verriet:
    "Am Tag, nachdem die Mauer gefallen war, ging ich auf dem vollkommen leeren großen Potsdamer Platz in Berlin von der westlichen Grenzschutzstelle hinüber in Richtung auf die Baracke der Nationalen Volksarmee, und als ich so kurz davor war, kam aus der Baracke ein Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee heraus, ging militärisch-zackig auf mich zu, machte eine militärische Ehrenbezeugung und sagte: 'Herr Bundespräsident, keine besonderen Vorkommnisse!' Das hat mich sehr bewegt und daran in erfolgreicher Weise, das heißt, insbesondere in menschlich und gesellschaftlich erfolgreicher Weise weiter zu arbeiten, wird uns in den nächsten Jahren beschäftigen und das geht Hand in Hand mit der weiteren europäischen Integration."
    Richard von Weizsäcker und Helmut Kohl, im Hintergrund mehrere Menschen und das Vordach der Kunst- und Ausstellungshalle.
    Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl bei der Eröffnung der Kunst- und Ausstellungshalle 1992 in Bonn. Zuvor hatte von Weizsäcker heftige Kritik am Parteienstaat geübt. (dpa / Martin Gerten)
    Der Umstand, dass Richard von Weizsäcker als Bundespräsident auch immer wieder aktuelle Ereignisse und Entwicklungen kommentierte, führte mehr als einmal zu Unmut in der christlich-liberalen Regierungskoalition. Dass der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, wiewohl ein früher Förderer von Weizsäckers, schon von der Wahl des unbequemen Denkers zum Präsidenten nicht begeistert war, ist kein Geheimnis. Weizsäcker kritisierte Fehler bei der Finanzierung der Deutschen Einheit beispielsweise oder meldete heftige Kritik am Zustand der Parteien an. "Machtversessenheit" warf er ihnen vor und einen gewissen Grad an Unehrlichkeit:
    "Es ist fatal, wenn beim Bürger der Eindruck entsteht, auf ihn käme es gar nicht an, denn die da oben machten ja doch, was sie wollten. In Wirklichkeit wissen doch wir Politiker oft selbst noch keine Lösung und sind dringend auf Mitberatung angewiesen. Ich meine, es ist ehrlicher und überzeugender, dies offen einzugestehen, anstatt zu glauben, wir Politiker, egal welcher Richtung, schuldeten dem Publikum nur einen ermutigenden Optimismus und dem Gegner die scharfe Konfrontation."
    Außenseiter in der Welt der Berufspolitiker
    In der Welt der Berufspolitik war Richard von Weizsäcker im Grunde immer ein Außenseiter gewesen, wenn er auch durchaus machtbewusst genug war, um Karriere zu machen und die Ämter, die ihn interessierten, anzustreben. Der Mann, der als Bundespräsident schnell zur moralischen Instanz avanciert war, machte keinen Hehl daraus, dass er in der Tagespolitik nie einseitigen politischen Überzeugungen zu folgen in der Lage war.
    "So furchtbar nah habe ich in meinem Herzen einer Partei eigentlich nie gestanden, weil es ja unvermeidlich ist, dass eine Partei ein Kompromiss zwischen verschiedenen Interessen und Richtungen ist. Also, das Ideale findet man in einer Partei nicht."
    Auch ein Richard von Weizsäcker beherrschte allerdings durchaus die Kunst, hinter den Kulissen an den Strippen der Macht zu ziehen. Als zum Ende seiner Amtszeit bekannt wurde, dass Bundeskanzler Helmut Kohl den sächsischen Justizminister Steffen Heitmann als nächstes Staatsoberhaupt favorisierte, wussten die Zeitungen zu berichten, dass von Weizsäcker dies gar nicht behagte. Die Wahl seines Nachfolgers solle nicht "allzu sehr parteipolitisch instrumentalisiert werden", ließ der Bundespräsident in der ihm eigenen zurückhaltenden Formulierungsweise wissen.
    Und auch nach seinem Ausscheiden aus dem höchsten Staatsamt mischte sich Richard von Weizsäcker weiter in die politische Debatte ein. So setzte er sich beispielsweise für eine vorurteilslose Bewertung der PDS ein oder schlug vor dem Hintergrund der CDU-Spendenaffäre vor, die Amtszeit des Bundeskanzlers zu begrenzen. In einen wirklichen Ruhestand ging dieser gewiss politischste Präsident der zweiten deutschen Republik nie.
    Auch international blieb er ein gefragter Gesprächspartner und Ratgeber. Im Auftrag der EU-Kommission erarbeitete er gemeinsam mit dem ehemaligen belgischen Regierungschef Dehaene und dem früheren britischen Handelsminister Simon umfassende Reformvorschläge für den EU-Vertrag. Für die Vereinten Nationen leitete er eine Arbeitsgruppe, die die Völkergemeinschaft fit für das 21. Jahrhundert machen sollte.
    Richard von Weizsäcker startet im blauen Trainingsanzug an der 100-Meter-Bahn.
    1993 absolvierte Richard von Weizsäcker einen 100-Meter-Lauf für das Deutsche Sportabzeichen. Er benötigte dafür 18,6 Sekunden. Damals war von Weizsäcker 73. (dpa / Martin Gerten)
    Von Weizsäcker dachte über den Tag hinaus
    Aufsehen im Inland erregten die Vorschläge der sogenannten Wehrstrukturkommission zur Zukunft der deutschen Streitkräfte, der Weizsäcker vorgestanden hatte und die sich von den Plänen des zuständigen Ministers Scharping deutlich unterschieden. Indiskretionen und Querschüsse im Vorfeld, vor allem aus dem Bundesverteidigungsministerium, verärgerten den Politiker alter Schule. Bei der offiziellen Vorstellung der Vorschläge der Weizsäcker-Kommission hielt der Altbundespräsident mit seinem Zorn kaum hinter dem Berg.
    "Sie wissen ja schon alles. (Gelächter) Könnte man meinen. Aber das ist ein Irrtum."
    Richard von Weizsäcker war immer ein Mensch gewesen, der über den Tag hinaus dachte. Umso mehr beschäftigte ihn das bröckelnde moralische Fundament der zweiten deutschen Demokratie. Die Sorge um sie bleibt sein Vermächtnis.
    "Was mir am meisten am Herzen liegt, einerseits im Rückblick auf das, was ich selbst erlebt und erfahren habe und andererseits in Bezug auf die Zeit, die vor uns liegt, das ist die Frage, welche Kraft die liberale Demokratie hat, um mit den gewachsenen Problemen fertig zu werden. Den Pluralismus wollen wir alle: Die Meinungsvielfalt ist notwendiger Bestandteil der Freiheit. Aber weder darf es in eine ethische Beliebigkeit ausarten. Ein ethisches Minimum nicht einzuhalten in der gegenseitigen Erziehung, bei den Familien, den Schulen, den Medien, den Politikern, den Kirchen oder wen es auch immer gibt, was Derartiges nicht einzuhalten, würde uns der Kraft berauben, die wir brauchen für die Lebensfähigkeit der liberalen Demokratie. Man muss immer daran denken: Die Verfassung schafft uns die rechtliche Grundlage, und die Verfassung ist gut. Aber sie schafft nicht die Voraussetzungen, aus denen heraus die Verfassung lebt. Diese Voraussetzungen, die uns mit einem hinreichenden Quantum an Gemeinsinn vorfinden sollen, um die uns zu kümmern, daran wird sich die Überlebenskraft der liberalen Demokratie entscheiden."