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Zumutungen

Wie hat man sich eigentlich erinnert, bevor es das Kino gab mit seiner Rückblendentechnik, passenden Kostümen und dem Ausstattungsstil einer längst verloren geglaubten, vergessenen Zeit? Vergessen kann man ja im Handumdrehen. Erinnern dagegen ist Schwerstarbeit. Edgar Reitz hat das zum Thema seines Films "Heimat-Fragmente" gemacht, dem einzigen deutschen Film, den man in Venedig in diesem Jahr einer Projektion für würdig erachtete.

Von Josef Schnelle | 03.09.2006
    "Zwiebelchen sprang übers Feld und sprach: "Rund ist die Welt." Das hat die Großmutter immer gesagt, wenn ich fortlaufen wollte."Heimat-Fragmente" ist philologischer Kommentar zur kolossalen "Heimat"-Saga mit vielen interessanten Fundstücken, zugleich nostalgischer Abschied vom Mammut-Projekt der Chronik eines Dorfes und seiner Bewohner in 30 Filmen. Und in seiner sprunghaften, assoziativen Erzählweise auch eine heilsame Zumutung im Festival-Betrieb, der meist auf Erzählkino setzt. Aus der Perspektive von Hermännchens Tochter aus erster Liebe, Lulu, wird die Chronik der Familie bis hin zu den 68er Jahren und den Wiedervereinigungsverwicklungen irgendwie noch einmal neu erzählt. Das alles als Traumstrom der Erinnerungen, denen Lulu nachforscht. Ein Film über das Erinnern an das Erinnern.

    "Es gibt so viele, viele, unendlich viele Situationen unseres Lebens aus frühen Zeiten, aus der Jugend, aus Erfahrungen der erste Liebe und was immer auch einem begegnet. Alles Erlebnisse, die einen mit einer gewissen Melancholie des Abschieds erfüllen würden, wenn wir nicht den Film hätten."

    Edgar Reitz hat das Material gefunden, als er einsehen musste, dass der ehrgeizige Plan einer vierten Staffel des Filmprojekts wohl nicht realisiert werden würde. Er musste sein Büro verkleinern und fand jede Menge Kisten mit zum Teil schon fertig geschnittenen Szenen aus allen Teilen der "Heimat"-Filmserie. Manchmal habe er nicht einmal mehr gewusst, warum die eine oder andere Szene aus dem Film gekippt worden war. "Heimat-Fragmente" ist auch ein Kommentar zum neuen deutschen Film und was er hätte werden können: Philosophen-Kino, statt Produzenten-Kino, in dem es immer nur um Geld, Macht und Ruhm geht.

    Genau das, zumindest Macht und Ruhm, ist der Antrieb Tony Blairs in Stephen Frears' Film "The Queen". Der frischgekürte britische Premier mit dem untrüglichen Machtinstinkt macht seinen Antrittsbesuch. Er muss die Verbeugungsrituale lernen und seine erste Lektion in Sachen konstitutioneller Monarchie.

    ""It's "Mam" as in "ham", not "mum" as in "farm". - "Nice to see you again, Mister Blair. And congratulations." "Thank you." "You have started a nuclear war yet?" "Ah, no." "No? First thing we do apparently. Then we take away your passport and spend the rest of the time sending you around the world." "You obviously know my job better than I do." "You are my tenth Prime Minister, Mister Blair. My first, of course, was Winston Churchill."

    Er wird noch viel mehr lernen müssen, dieser junge Labour-Politiker, der im Buckingham-Palast gerne zwei Stufen auf einmal nehmen möchte. Stephen Frears beschreibt die Krise des britischen Königshauses nach dem Tode Lady Dis, die von einem Spindoktor Blairs noch in der Nacht ihres schrecklichen Unfalls zur Königin des Volkes und der Herzen ernannt wird. Für Elizabeth ist sie aber immer noch die unbotmäßige Medienprinzessin. Und so gibt es eine Woche lang kein Zeichen der offiziellen Trauer aus dem Buckingham-Palast. Tony Blair wird zum Retter der Monarchie, gegen die sich draußen zwischen Blumenstraußbergen und improvisierten Kondolenzlisten brave britische Bürger zusammenrotten. Stephen Frears Filmstudie "The Queen" beschreibt detailreich und sogar äußerst kurzweilig, wie sich der Hof an Konventionen klammert und wie der bauernschlaue Tony Blair die erste Krise seiner Regierung bewältigt. Am Ende warnt Elizabeth II den mit charakteristischem Grinselächeln von Michael Sheen gespielten Premier vor dem Hochmut der Macht, der irgendwann auch seinen Sturz herbeiführen könnte.