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Zur Arbeit über die Grenze

Entgegen aller Warnung der Mediziner vor der neuen Honorarverordnung haben sich die Praxiseinnahmen deutlich erhöht. Dennoch sind viele Ärzte unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen in Deutschland. Sie suchen sich daher in den Niederlanden einen Job: Dort herrscht Fachärztemangel.

Von Kerstin Schweighöfer | 24.07.2009
    Sprechstunde bei Doktor Thomas Patt. Der 43 Jahre alte Facharzt aus Düsseldorf spricht fließend Nederlands. Seit 2007 arbeitet er als Orthopäde in der Maartens-Klinik in Woerden, einer niederländischen Kleinstadt bei Utrecht. Patt hätte sich auch in Ostdeutschland Arbeit suchen können. Spezialisten werden dort händeringend gesucht:

    "Stimmt, mein Bruder selbst wohnt in Ostdeutschland. Ich war am Wochenende gerade in Chemnitz. Wobei ich sagen muss: Jeder Tag in Holland macht es mir schwieriger, nach Deutschland zu gehen, vor allem deshalb, weil das Arbeitsklima hier angenehmer ist, mehr im Team gearbeitet wird - und die Bezahlung stimmt."
    An die Teamarbeit allerdings müssen sich viele Deutsche erst gewöhnen und das weitaus mehr hierarchieorientierte Denken, das in Deutschland herrscht, ablegen.

    Denn niedergelassene Fachärzte gibt es in den Niederlanden nicht: Sie arbeiten immer in Teams in den Krankenhäusern - gut ein Drittel als Angestellte im Dienst des Krankenhauses, die restlichen 70 Prozent in einer Gemeinschaft aus Selbstständigen, in sogenannten Maatschappen, die dem Krankenhaus gegen eine Pauschale ihre Dienste anbieten. Die Mitglieder dieser Maatschappen verdienen - einer OECD-Untersuchung zufolge - umgerechnet 210.000 Euro pro Jahr, damit sind sie in den OECD-Ländern Spitzenreiter.

    Thomas Patt gehört keiner Maatschap an, sondern ist Facharzt im festen Dienstverband des Krankenhauses. Er verdient nur 130.000 Euro brutto im Jahr. Aber er ist zufrieden: Erstens arbeitet er wegen seiner beiden kleinen Kinder seit Kurzem nur 80 Prozent; zweitens hat er als Angestellter kaum Unkosten.

    "Wenn Sie das Angestelltengehalt nehmen, dann können Sie rund 50 Prozent draufrechnen, was der Selbstständige verdienen müsste, um das Gleiche zu haben, weil der höhere Abgaben hat. Der hat Versicherungen, Haftpflicht, und so weiter und sofort. Das haben wir im Angestelltenbereich nicht."
    Patts deutsche Kollegen staunen immer wieder darüber, wie flexibel sich ein holländischer Facharzt seine Woche einteilen kann: Die Mitglieder des Orthopädenteams an der Maartens-Klinik in Woerden stehen nur zwei Tage in der Woche im OP, an zwei weiteren Tagen halten sie Sprechstunde. Der fünfte Tag wird für die Forschung genutzt, für die Buchhaltung oder andere administrative Dinge.

    Möglich wird das unter anderem, weil viele Handlungen, die in Deutschland nur der Arzt ausführen darf, vom Pflegepersonal erledigt werden können: Blut abnehmen zum Beispiel.

    "Und das gibt einem Freiheit. Das gibt einem etwas Ruhe."

    Dennoch klagen viele niederländische Fachärzte über das "knallharte Management-Produktions-Denken". Auch in den Niederlanden sei Geld zum alles entscheidenden Faktor geworden. Dem Arzt bleibe noch nicht einmal die Freiheit, zehn Minuten länger am Bett eines Patienten zu weilen. Hans Henneberg aus Leiden ist die strenge Protokollierung ebenfalls ein Dorn im Auge:

    "Diese Protokollierung ist der Anfang vom Ende der niederländischen Heilkunde. Dass die Versicherer den Ärzten zunehmend vorschreiben, was diese zu tun und zu lassen haben, ist ein Skandal."

    Der 66 Jahre alte Psychiater arbeitet seit drei Jahren für ein Facharztzeitarbeitsbüro. Er springt dort ein, wo Not am Mann ist - und hat fünf Tage pro Woche Arbeit. Das liegt am chronischen Facharztmangel. Nirgendwo in den OECD-Ländern, das ergab eine weitere Untersuchung, gibt es so wenige Fachärzte wie in den Niederlanden - nämlich nur einen auf 1000 Einwohner. Der Mangel ist künstlich: Um Kosten zu sparen, begrenzt die Regierung die Zahl der Ausbildungsplätze.

    Immer mehr niederländische Ärzte lassen sich deshalb in Deutschland zu Fachärzten ausbilden und kehren dann wieder zurück. Dennoch sind die Niederländer nach wie vor schon seit Jahren auf Fachärzte aus dem Ausland angewiesen: Neben Deutschen kommen vor allem Belgier, aber auch Engländer und zunehmend Ärzte aus Osteuropa. Inzwischen gibt es sogar ein Headhunterbüro, das gezielt für niederländische Krankenhäuser nach deutschen Fachärzten sucht. Denn Deutsche sind besonders beliebt:

    "Lass sie ruhig kommen, die Deutschen!", meint auch Hans Henneberg. Erstens wird der Arbeitsdruck dadurch auf mehr Schultern verteilt, zweitens loben die Niederländer die gute, solide Ausbildung der Deutschen - und drittens sind da noch typisch deutsche Eigenschaften, die die Holländer durchaus zu schätzen wissen: Sorgfalt, Zuverlässigkeit und, nicht zu vergessen:

    "Die deutsche Gründlichkeit."