Dienstag, 23. April 2024

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Zur Konjunktur von „Risikogebieten“
Im Innersten einer COVID-Matrjoschka

Jeden Tag steigt die Zahl der Risikogebiete - der Begriff "Risiko" ist im Herbst 2020 das Synonym für Corona, meint Dlf-Kolumnist Arno Orzessek. Zugleich lebt es sich jedoch auch im gefährlichsten Corona-Risikogebiet ungefährlicher als in jedem Kriegsgebiet.

Von Arno Orzessek | 11.10.2020
Die Corona-Warn-App mit der Seite zur Risiko-Ermittlung ist im Display eines Smartphone vor der Kuppel des Reichstags zu sehen.
Corona-Warn-App (Michael Kappeler/dpa)
Haben Sie dieser Tage mal "Risikogebiet" gegoogelt? Bis man auf den ersten COVID-19-freien Link stößt, muss man Seite um Seite um Seite umblättern. So oft, dass mir der Geduldsfaden gerissen ist. Aber auch ohne Googeln weiß ich, dass ich in einem Risikogebiet lebe, nämlich Berlin, genaugenommen in einem Kerngebiet des Risikogebiets, nämlich Neukölln. Und wenn ich den jungen Leuten hier im Viertel beim Party-Machen zusehe, steht außer Frage, dass ich sogar mitten Zentrum eines hochriskanten Kerngebiets innerhalb eines Risikogebiets wohne, quasi im Innersten einer hochinfektiösen COVID-Matrjoschka.
Aber wie soll ich sagen? Mein Wohn- und Wohlgefühl ist nicht schlechter geworden, nur weil Exekutive und Virologen jetzt Stadtpläne und Landkarten mit Risikogebieten sprenkeln. Schon klar, der Konjunktur der Risikogebiete liegen ernst zu nehmende statistische Werte zugrunde, die Infektionszahlen. Das heißt aber auch, dass ein positives Test-Ergebnis darüber entscheiden kann, ob ein Gebiet zum Risikogebiet wird oder nicht. Anders gesagt: Risikogebiete sind im Zweifel Nicht-Risikogebiete plus eine Infektion – was die dramatisierende, in ihren Konsequenzen diskriminierende Unterscheidung zwischen den Gebieten als Popanz entlarvt.
Ein Virus wie ein Schildbürger
So oder so haben geographisch fixierte Grenzen im Blick auf ein Virus, das sich mittels zart befeuchteter Luft, sprich Aerosolen, überträgt, etwas Labiles und schildbürgerhaft Improviertes. Anders sah es mit 'Risikogebieten' aus, als der Begriff noch frei von COVID-19 war. Kriegsgebiete etwa galten und gelten als klassische, weithin gefürchtete Risikogebiete. Doch wer in einem solchen weder wohnt noch als Soldat zu tun hat, kann sein diesbezügliches Risiko mühelos auf Null setzen, indem er fernbleibt. Ähnliches gilt für die Bonsai-Risikogebiete namens No-Go-Area.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Bei Corona aber lässt sich das Risiko praktisch nirgends auf Null setzen. Zugleich jedoch lebt es sich auch im gefährlichsten Corona-Risikogebiet ungefährlicher als in jedem Kriegsgebiet. Die allermeisten Menschen werden nach dem Stand der Dinge selbst in Neukölln unbeschadet bleiben – was wunder, dass sie Ausgangssperren mehr fürchten als COVID-19.
Das grundsätzlich Riskante moderner Existenz
In unserem Viertel ist der Graben zwischen der politisch-medialen Risiko-Beschwörung und dem weitgehend normalen Alltag im Risiko-Kerngebiet so tief, dass sich Sarkasmus breit macht. Es heißt, wenn das Infektions-Risiko weiter steige, werde man wohl zur Notschlachtung bei Tönnies abtransportiert. Vermutlich liegt solchem Sarkasmus eine gesunde Risiko-Abwägung zugrunde – die von nicht wenigen Politikern und Virologen fatalerweise als unstatthaft abqualifiziert wird. Doch hätte man seit dem Ausbruch der Pandemie täglich auch über alle sonstigen Krankheiten und Todesfälle alias Risiken Zahlen veröffentlicht, COVID-19 hätte höchstens im April die Spitze behauptet.
Krankenhausbetten stehen in einer Messehalle auf dem Messegelände Hannover. Seit dem Frühjahr wird für den Fall hoher Infektionszahlen mit dem Coronavirus ein Behelfskrankenhaus mit über 400 Betten vorgehalten. Im Einsatz war das Notfall-Krankenhaus bisher nicht. 
Epidemiologe: "Erkrankungszahlen sollten Kernfokus sein"
Personen mit Symptomen sollten vorrangig auf das Coronavirus getestet werden, sagte Epidemiologe Gérard Krause im Dlf. Denn sie trügen offenbar stärker zur Übertragung des Virus bei.
In Ulrich Becks Buch "Risikogesellschaft" von 1986 ging es kaum um medizinische Aspekte. Der Buchtitel indessen wurde zum geflügelten Wort. Und warum? Weil er aus der Sicht Vieler das grundsätzlich Riskante moderner Existenz auf den Punkt brachte. Wir leben in einem Risiko-Rhizom. Das aber gerät durch die politisch-mediale Fixierung auf die COVID-Risiken derzeit aus dem Blick. Risiken abwägen und Maßnahmen verhältnismäßig gestalten ist für die Entscheider schwierig, wenn über allem das Gebot des Zeitgeistes steht: Ich bin COVID-19, du sollst keine anderen Risiken haben neben mir.
Was indessen unser Neuköllner Risikogebiet betrifft, benehmen sich viele Menschen eher so, als hätten sie ein Buch von Frank Böckelmann gelesen. Es trägt den Titel: "Risiko, also bin ich." Und bitte - das betrifft längst nicht nur frivole Party-People.