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Zurück und doch in die Zukunft

Seit beinahe 200 Jahren werden in Danzig Schiffe gebaut. In der Schichauwerft Kanonenboote für die kaiserliche Flotte. Im zweiten Weltkrieg U-Boote für Hitler. Unter sozialistischer Planwirtschaft zählte die Lenin-Werft bald schon zu den fünf größten Schiffsschmieden der Welt. An der Mottlau wurden Fischtrawler und Holzträgerschiffe zu Wasser gelassen, später auch Tanker und Containerschiffe. Jetzt ist der letzte Stapellauf absehbar. Auch in Danzig heißt es Abschied nehmen vom europäischen Industrie-Zeitalter. Sich zu öffnen für das Projekt "junge Stadt". Zu ihr gehört bereits eine Künstlerkolonie, die sich auf dem Gelände der Werft niedergelassen hat. Maler, Fotografen, Musiker. Einige von ihnen wollen dem "alten" Polen ein bleibendes Gesicht geben. Eine Erinnerung an die Werft, ihre Geschichte, ihre Arbeiter und Arbeiterinnen.

Von Sören Harms | 06.08.2005
    Bestimmt hundert Meter streckt sich der fein verzierte Klinkerbau aus der Kaiserzeit in die Länge. An einem Ende residiert die Firma Synergia mit Direktor Janusz Lipinski, am anderen wohnen diejenigen, durch die Lipinski dem Gelände neues Leben einhauchen will - und auch ein bisschen Miete einnehmen. Über dem einstigen Seiteneingang mahnte früher mal eine Uhr die Arbeiter zur Pünktlichkeit; das Loch, in dem sie steckte, ist heute zugemauert. Hier, in diesen alten Gemäuern, wohnt die Zukunft.

    Ins Treppenhaus hat jemand mehrfach die Internet-Adresse kolonia.art.pl gesprüht, doch Besucher würden auch sonst merken, dass hier Künstler wohnen: Eine bunt bemalte Holztür ist einfach schräg an die Wand geschraubt. Im 4. Stock bittet Monika zur Wohnungsbesichtigung.

    " Dies ist unser Wohnzimmer, Gästezimmer, Schlafzimmer, Flur und alles zusammen. Und hier ist unsere Küche. Freunde haben uns mit Möbeln versorgt, und außerdem benutzen alle Hausbewohner Dinge, die sie auf der Werft finden. Die Kiste da haben wir auch gefunden. Und die Regalbretter haben wir aus alten Schubladen selbst gemacht, wie eben alles, was wir auf dem Gelände entdecken."

    Rote Wände, rote Bilder, rote Kühlschranktür: Die kleine Wohnung ist jung und hipp. Fünf Jahre stand das Haus leer, hinter den kaputten Fenstern hatten Tauben genistet. Es hat gedauert, sich hier einzurichten. Monika ist 22 und studiert Pädagogik. Runde Brille, offener Blick, und ihre kurzen Haare strömen oben zusammen wie ein Wellenkamm. Ihr Englisch trägt den Londoner Akzent, fünf Mal war sie dort, einen britischen Freund hatte sie auch. Vor gut einem Jahr ist sie auf die Werft gezogen.

    " Hier wohnen Discjockeys, Maler, Komponisten, hier ist ein Tontechniker-Studio, wir haben unseren eigenen Club, einer organisiert Workshops für Kinder, im Sommer gibt es ein Theater, und einige Jungs haben ihren Motorradfahrer-Club."

    Monica ist mit Mihal zusammen, auch er lebt hier. Als Student an der Akademie der Schönen Künste hat Mihal begonnen, auf der Werft zu fotografieren. Dabei hörte er, dass ein Teil des Geländes verkauft wurde, und bald bot ihm Synergia-Chef Lipinski an, in diesem Haus zu wohnen.

    " Das Beste daran ist, dass ich dadurch freien Zugang zur Werft habe und sie einfacher dokumentieren kann. Großartig. Ich werde wohl fünf Jahre hier leben. Meine erste Dokumentation hat die Industriearchitektur der Werft abgebildet, da ging es überhaupt nicht um Menschen. Der Foto-Zyklus jetzt aber zeigt die Menschen."

    Mihal liegt mit Decke auf einem roten Sofa, seine Nase hat fast eine ähnliche Farbe, er ist vergrippt heute. Während er spricht, kratzt der 25-Jährige an einem Tattoo auf seinem Oberarm: ein großes Herz, rot natürlich, mit dem Schriftzug "Monika". Ein Jahr lang hat Mihal die Werftarbeiter fotografiert, er will eine untergehende Welt festhalten.

    " Ich denke daran, was hier entstehen wird. Auch in Deutschland hat die Großindustrie kaum noch Bedeutung, da bekommt meine Dokumentation einen besonderen Wert - sie zeigt noch mal, was jetzt ist und was es in der Zukunft nicht mehr geben wird. Das sind auch Leute, die einfach alt sind, die es in der Zukunft ebenfalls nicht mehr geben wird."

    Mihal fühlt sich schlapp, und morgen früh um 6 Uhr muss er am Helgen erscheinen - allerdings nicht mit der Kamera, sondern mit der Sprühpistole. Noch verdient er kaum mit seinen Bildern, daher jobbt er als Schiffsmaler. Er kriecht ins Krankenbett zurück, dafür zeigt Monica seine Fotos.

    Sie schiebt eine Tür auf und knipst das Licht an. Dieser Raum war einmal ein Labor, Mihal hat daraus seine Dunkelkammer gemacht. Auf der Arbeitsfläche liegen seine Porträts. Ein Lackierer, ein Lokomotivführer, ein Schweißer - alle stehen in ihren Arbeitsjacken und schauen gerade und zum Teil stolz in die Kamera. Der deutsche Fotograf August Sander hat so in den 20er Jahren die Berufsstände porträtiert, er ist Mihals Vorbild.

    " Mein liebstes Bild ist dieses Porträt eines Tauchers. Der Mann arbeitet hier seit Ewigkeiten. In Mihals Bildern haben die Arbeiter sonst nicht ihr Werkzeug dabei. Aber dieser Mann hält seine Taucherglocke in der Hand. Er ist ein Taucher alten Stils, mit der Glocke sieht er aus wie eine Figur aus der Geschichte vom Kapitän Nemo. Seine Ausrüstung ist bestimmt 40 Jahre alt, und er benutzt Industrie-Sauerstoff. Das ist nicht gut für seine Lungen, hat er mir gesagt, aber er will sich nicht beschweren, weil er Angst hat, seine Arbeit zu verlieren."