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Zurück zu den familiären Wurzeln

Der österreichische Schriftsteller Peter Henisch wurde mit dem autobiografischen Roman "Die kleine Figur meines Vaters" bekannt. Jetzt ist von ihm das Buch "Eine sehr kleine Frau" erschienen. Entlang des Lebens dieser um 1890 in Wien geborenen Frau namens Marta führt uns der Ich-Erzähler hinein in die Gegenwart. Vieles korrespondiert dabei exakt mit Henischs Vater-Geschichte, ohne dabei autobiografisch zu sein.

Von Volker Kaukoreit | 25.02.2008
    Gerechter Gott, sagte meine Großmutter, du willst ein Buch über deinen Vater schreiben, das hat gerade noch gefehlt! Statt dass du dir ein ordentliches Thema suchst, etwas worüber die Leute wirklich lesen wollen, oder wenigstens einen ordentlichen Beruf!

    So heißt es in einem "Klassiker" unter den mehr oder weniger autobiographischen Vater-/Mutter-Büchern der 1970er/80er Jahre. Gemeint ist "Die kleine Figur meines Vaters", der Romanerstling des 1943 geborenen Wiener Autors Peter Henisch.

    Erinnern wir uns: Körperlich "klein" war der Vater, groß dagegen in seiner erfolgreichsten Zeit als Fotograf und "bester Kriegsberichter der gesamten Deutschen Wehrmacht"; scheinbar nur "klein" war dessen Mutter, die "Heldin" des neuesten Henisch-Buchs, eine Krankenschwester, abseits des Rampenlichts der großen Öffentlichkeit - in den Worten des Autors so:

    Eine sehr kleine Frau war sie, ja - ins Kino nahm sie in ihrer alten Krankenschwesterntasche zwei Telefonbücher mit. Wenn sie auf denen saß, war sie oben so groß wie andere Leute, aber unten baumelten ihre Beine. Sie packte die Telefonbücher erst aus, wenn das Licht erlosch, und schob sich dann mit einer Technik, die sie im Lauf der Jahre perfektioniert hatte, auf den hochgestapelten Sitz - die hinter ihr Sitzenden bemerkten das kaum. Am Ende des Films aber galt es, wieder hinunter zu gleiten und die Bücher in der Tasche verschwinden zu lassen, bevor das Licht anging.

    Entlang des Lebens dieser um 1890 in der K.u.K.-Monarchie geborenen Frau namens Marta führt uns ein über sechzig Jahre alter Ich-Erzähler hinein in seine und damit unsere Gegenwart, die Mitte des ersten Dezenniums des 21. Jahrhunderts. Vieles korrespondiert dabei exakt mit Henischs autobiographischer Vater-Geschichte, und doch legt bereits die in den Text geradezu "magnetisch" hineinziehende Eingangspassage des Großmutter-Buchs nahe, das erzählende Ich ja nicht mit dem Verfasser zu verwechseln:

    Es war fast Mitternacht, als ich das erste Mal an diesem Geschäft vorbeikam. In einem Lokal, in dem ich mich fehl am Platz fühlte, hatte ich ein wenig getrunken. Sollte ich nicht. Die Tabletten, die mir der Arzt verschrieben hatte, enthielten Valium. Aber eigenartigerweise fühlte ich mich nicht schläfrig, sondern wach. Das Schaufenster war nicht beleuchtet, doch das Klavier zog meinen Blick auf sich. Dabei stand es im Hintergrund, im Vordergrund finstere Ölbilder und Stilmöbel. In der Mitte zwei Pianos, die mich nicht weiter interessierten. Aber der Flügel, den ich zuerst bloß aus den Augenwinkeln gesehen hatte, übte eine geradezu magnetische Wirkung auf mich aus. Ich kam also genau genommen nicht an diesem Geschäft vorbei, sondern blieb fürs erste ein paar Minuten davor hängen. Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit anders verstrich als sonst. Auch räumlich war ich ein bißchen desorientiert. Das war meine Stadt, aber ich war lange weg gewesen.

    Der solchermaßen erzählt, hat im Unterschied zum Schriftsteller Peter Henisch zuletzt zwanzig Jahre in den USA als Literaturwissenschaftler gelebt und heißt mit Vornamen Paul. In seiner einst freiwillig hinter sich gelassenen "Vater"-Stadt, in die ihn eine medizinische Spezialuntersuchung zurückruft, fühlt er sich - nicht nur Rimbaud und Camus lassen da grüßen - als ein Anderer, als ein Fremder. Doch plötzlich und eigentlich unerwartet - denn auch ein unterschwelliger Amerika- und Lebens-Überdruss haben ihn über den großen Teich zurückgelockt - sieht sich Paul mit den Wurzeln seiner familiären Herkunft konfrontiert, indem er vor besagtem Geschäft den "Bösendorfer" seiner Großmutter wieder zu erkennen glaubt.

    Die Gedanken an dieses, in den Text übrigens leitmotivisch eingebrachte Musikinstrument und seine einstige Eigentümerin ergreifen übermächtig Besitz von Paul. So bricht er zu einer außergewöhnlichen Reise auf, die ihn nicht nur an nach und nach wiedererinnerte und reale Orte seiner Kindheit und Jugend, sondern auch durch ein ganzes Jahrhundert leitet. Virtuos werden dabei verschiedene Erzählstränge und narrative Perspektiven nebeneinander her geführt. Insbesondere in Bezug auf den zweiten Ehemann der Großmutter, einem deutschnationalen Postbeamten, der zunehmend ins Lager der Nationalsozialisten rutscht, entsteht ein punktuell äußerst lebendiges Bild der österreichischen Zwischenkriegszeit und ihrer politischen Gewaltkämpfe. Es skizziert Wien - freilich kein Novum - als antisemitische Hochburg, aus der Hitler seine Mission empfing, entsinnt sich jedoch auch jener weltweit verbreiteten, 1922 in deutscher Sprache erschienenen Schmähschrift "The International Jew" des amerikanischen Auto-Magnaten Henry Ford, die Martas kleinbürgerlicher "Hausfrauenerzieher" mit Begeisterung verschlingt.

    Doch nicht um geschichtlichen Nachhilfeunterricht geht es hier, nicht um simple Parteinahme für die eine oder andere Seite. Denn immer wieder thematisiert der Roman die Frage, wie die Verschränkung individuell-lebensgeschichtlicher und historischer Ebenen literarisch überhaupt in den Griff zu bekommen ist. In den zahlreichen Anläufen dazu, auch in dem Ringen, zunächst einmal überhaupt zu einem erzählerischen Anfang zu gelangen, kann es deshalb ganz märchenhaft so klingen:

    Es war einmal ein Mann Mitte dreißig, der hatte im Krieg Hand und Heimat verloren. Es war einmal eine Frau Mitte zwanzig, der hatte ein anderer Mann ein Kind gemacht. Es war einmal eine große Monarchie, die war Vergangenheit. Es war einmal eine kleine Republik, die war Gegenwart. Es waren einmal Hungerjahre. Es war einmal eine Inflation. Es war einmal eine Zeit, in der Zehntausende auf der Straße standen. Die junge Frau wohnte in Untermiete bei einer alten Frau. Das Kabinett war zwar zwielichtig, und der offiziell gemeldete Untermieter war eigentlich ihr verschwundener Gatte, aber immerhin, es war ein Dach über dem Kopf.

    Derartige Töne hat man in Henischs hauptsächlich protokollarisch-dokumentarischen Vater-Buch kaum vernommen. Der Perspektivenwechsel vom Vater auf die Großmutter hat - trotz des gleichen biographischen Hintergrunds - zu einer deutlichen Öffnung gegenüber der literarischen Fiktionalität geführt:

    "Bei diesem neuen Buch "Eine sehr kleine Frau" ist es mir - bei aller Rückverbindung zu meinem Roman "Die kleine Figur meines Vaters" - darum gegangen, ein Neues zu machen und nicht ein Gleiches. Ich habe einen anderen Zugang zu dem verwandten Stoff gesucht, und dieser andere Zugang war der, dass ich einen Protagonisten eingeführt habe, durch dessen Bewusstsein die Geschichte gefiltert wird. Dieser Mann heißt nicht zufällig Paul Spielmann. Das ist die Spielfigur, mit der ich arbeite. Die Spielanordnung ist die Geschichte eines Enkels und seiner Großmutter. Die Großmutter war für den Enkel ganz, ganz wichtig als die Frau, die sein Bewusstsein für Musik, für Literatur wahrscheinlich in Schwung gebracht hat."

    So geriet Henischs Großmutter-Buch gleichzeitig zu einem Buch über Literatur: Literatur, wie sie ganze Generationen prägte à la Goethe und Schiller, aber eben auch jene, die als Unterhaltungs-, für manche Trivialliteratur - auch durch Verfilmungen - ihren Weg zu einem Massenpublikum gefunden hat, sei es Vicki Baum oder Margret Mitchell. Mit Bedacht wird hier Literatur als Projektionsfläche vorgestellt, aber immer wieder auch als Tor zur Welt. Im Aufrufen seiner Erinnerung wird Paul deutlich, dass ihm dieses Tor zur Welt nicht seine Mutter, sondern die "Oma" geöffnet hat, mit ihren eigenen Liebes- und Lebensgeschichten, ihren Nacherzählungen von Mythen, Sagen und Märchen sowie Erfahrungsberichten aus ihren Romanlektüren. Allein in dieser Hinsicht ist Marta längst nicht so "klein" wie ihr Wuchs und schon gar nicht so "simpel", wie es ihre im Familiengedächtnis allgemeinhin tradierte Lebensgeschichte nahelegt.

    Je intensiver er über sie nachdenkt, vergegenwärtigt sich der Ich-Erzähler, dass auch Martas politische Zurückhaltung in der krisengeschüttelten Zwischenkriegszeit nichts mit bloßer Schicksalsergebenheit und Indifferenz zu tun hat. Natürlich besaß auch die Großmutter ihre Schwächen, schleppte Verdrängtes sowie damit innere Widersprüche mit sich herum und kam nicht umhin, den Tabuisierungen ihrer katholischen Umwelt beziehungsweise ihres politischen Umfelds nachzugeben, obwohl sie es selbst noch im Hitler-Krieg nicht unterließ, den Rest der Familie - und sei es nur durch ein hier und da fallengelassenes Wort oder Idiom - an die gemeinsame jüdische Herkunft zu erinnern.

    Dass die Thematisierung des jüdischen Hintergrunds der betroffenen, im Lauf der Zeit christlich getauften beziehungsweise zum Teil mit "nachbeschafften" Ariernachweisen ausgerüsteten Familie im Großmutter-Roman keine unwesentliche Rolle spielt, gehört zu den signifikantesten Unterschieden gegenüber dem Vater-Buch. Nachweislich nur fiktiver Natur ist die Schilderung, dass die Großmutter noch zu Beginn ihres 96. Lebensjahrs, also kurz vor ihrem Tod, nach Jerusalem auswandern wollte:

    "Ich habe versucht, die Geschichte der Großmutter zu verwesentlichen, das heißt ich habe mir auch erlaubt, am Schluss so etwas wie eine Apotheose der Großmutter zu schreiben. Diese Reise nach Israel wäre der logische Schluss ihres Lebens gewesen."

    Die Frage, ob sich diese "Idealisierung" wirklich "logisch" aus dem Romangeschehen ableiten lässt, sei hier dahingestellt. Außer Frage steht die Empfehlung zur Lektüre diese ungemein raffiniert erzählten und facettenreichen Buchs, einem Familien-, Generationen- und Kindheits-, Wien- und K.u.k.-, strenger gesagt einem österreichischen Groß- und Vorstadt-Roman, einer hochgradig historisch, politisch, psychologisch ausgerichteten Geschichte. Im besten Sinne ist es somit auch ein Buch über Schicksal, Geburt, Tod und Vergänglichkeit, Metaphysik und Identität, menschlichen Sehnsüchten und Ängsten - sowie ein Text, der sich seiner sentimentalen Klischeeanfälligkeit durchaus bewusst ist und gerade deshalb gewissermaßen, wenn man so sagen will, herzzerreißend enden darf. Hier findet der Protagonist zu heimatlicher Geborgenheit zurück, in einem regressiven Akt, der ebenso tröstlich wie von einer höchst trügerischen Idylle ist. Denn da sitzt der "lächelnde" Paul unter einem "falschen" Bösendorfer und lauscht einer altvertrauten Klaviermusik, die aber nur mehr noch via CD-Player erklingt - seine Augen geschlossen, die er dann doch irgendwann wieder einmal aufschlagen muss. Die Sprache, mit der dies geschildert wird, könnte einfacher kaum sein. Doch gerade darin besteht die bestechende Kunst, die Henischs Prosa als so unverwechselbar ausweist, klar und gleichsam durchdrungen von vielschichtiger Poesie, so wie in jenem winzigen Dialog, als Paul bei seinen Wiener Streifzügen einem spielenden Kind begegnet:

    Hallo! sagte ich.
    Wer bist du denn?, sagte das Kind.
    Ich bin der Paul, sagte ich.
    Gar nicht wahr, sagte das Kind.


    Peter Henisch: Eine sehr kleine Frau. Roman.
    Wien: Deuticke 2007