Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Zurück zur Vormundschaft

Nach kontroverser Diskussion gilt ab dem 1. September: Patienten können juristisch verbindliche Patientenverfügungen abgeben. Juristisch steckt dahinter eine Änderung des Betreuungsrechts. Doch ausgerechnet im Namen dieses Gesetzes kommt es immer wieder zu Missbrauch, zu einer Diskriminierung von Alten und Kranken.

Von Annette Eversberg | 29.08.2009
    "Wir haben Erfahrungen gemacht mit einem Onkel, der war im Altenheim, und er hat immer diese Betäubungsmittel bekommen, wollte das nicht mehr einnehmen. Und es wurde ihm mit Gewalt verabreicht. Und dann hat er die Schwester weggestoßen. Und der Hausarzt von dem Heim musste unterschreiben, und der hat dann auch unterschrieben, weil die Schwester das so furchtbar dargestellt hat. Der Onkel hätte einen Vormund da gestellt bekommen von der Stadt. Und die Kinder wurden nicht benachrichtigt, weil es angeblich ein akuter Fall war."

    Anna Berger ist die Empörung noch anzumerken. Dass die Familie nicht eingeschaltet wurde, als es um den Vater und Onkel ging, kann sie einfach nicht verstehen. Hausarzt und Heim konnten sich aber auf ein Gesetz berufen: das Betreuungsrecht. Danach kann eine Betreuung angeordnet werden. Für alte Menschen. Aber auch für kranke Menschen ab einem Alter von 18 Jahren.

    Nach dem Betreuungsrecht können wie im Fall von Anna Berger das Heim oder der Arzt einen Eilantrag beim Vormundschaftsgericht stellen, das ab dem 1. September Betreuungsgericht heißen wird. Die Angehörigen müssen nach dem Gesetz noch nicht einmal benachrichtigt werden, sagt Dr. Martin Probst Buchautor zum Betreuungsrecht und Richter am Oberlandesgericht Schleswig:

    "Im Krankheitsfall nehmen Ehepartner, aber auch andere Angehörige, wie Kinder zum Beispiel oder Eltern an, dass sie da etwas zu sagen hätten. Und lange Zeit haben die Kliniken das auch so gesehen, und nachdem vieles auch bewusster geworden ist, auch die Rechtslage bewusster geworden ist, ist man dort reservierter. Und die Rechtsanlage ist in der Tat so, dass zunächst einmal die Angehörigen und Ehepartner nicht die Rechtsstellung haben, die sie glauben zu haben."

    Das heißt, das Betreuungsrecht sieht nicht vor, dass Ehegatten, Eltern oder Kinder über die medizinische Behandlung des Partners, des Vaters, der Mutter oder des Kindes mitentscheiden können. Anna Berger und ihr Mann hatten Glück. Die Angehörigen konnten die Betreuung übernehmen. Doch nicht alle Fälle gehen so glimpflich aus - immer wieder kommt es im Namen des Betreuungsrechts zu Missbrauch.

    Angehörige, Ärzte, Nachbarn, Bankangestellte, - praktisch jeder Bürger kann beim neuen Betreuungsgericht einen Antrag auf Betreuung stellen, sagt Professor Volker Thieler, Rechtsanwalt aus München:

    "Ich kenne Fälle, wo Nachbarn den Antrag auf Betreuung gestellt haben. Dann kam es zu einer Untersuchung, sogar zwangsweise, weil derjenige das Gesundheitsamt nicht zu sich reingelassen hat, und dann wurde er sogar eingeliefert in eine Klinik. Und dann hat sich herausgestellt, dass sie (sic!) gesund ist. Das kann passieren."

    Der Verein "Handeln statt Misshandeln" in Bonn hat bereits 600 solcher Fälle dokumentiert, über die sich die meisten Betroffenen nicht öffentlich äußern möchten. In der Telefonsprechstunde des Vereins gelten inzwischen fast 90 Prozent aller Anrufe dem Betreuungsrecht. Der Vormundschaftsgerichtstag spricht sogar von 300.000 Beschwerden pro Jahr.

    Als das Betreuungsrecht das alte Vormundschaftsrecht zu Beginn der 90er-Jahre ersetzte, war die allgemeine Hoffnung, die Situation werde sich verbessern. Dr. Martin Probst hat als Fachreferent für Familien- und Betreuungsrecht im schleswig-holsteinischen Justizministerium an der Ausarbeitung des Gesetzes auf Länderebene mitgewirkt.

    "Diskutiert wurde, dass die bisherige und alte Entmündigung eigentlich etwas ganz Fürchterliches ist. Mit ihren Entrechtungen und Sammelvormundschaften, die von Anwälten oder anderen berufsmäßigen Pflegern zu Hunderten geführt wurde, das musste man ändern. Es geht einfach darum, Hilfe statt Bevormundung auszubringen. Es geht darum, dem Menschen in seinem Defektzustand, den er nun mal hat, jemanden an die Seite zu stellen, ohne den Betroffenen gleichzeitig zu entrechten."

    Nach dem Betreuungsrecht soll ein hilfsbedürftiger Mensch immer persönlich betreut werden. Im Gegensatz zur alten Vormundschaft, die es bereits seit dem 13. Jahrhundert gab und die noch im 20. Jahrhundert Eingang ins Bürgerliche Gesetzbuch fand. Wer unter Vormundschaft stand, hatte keine eigenen Rechte mehr. Mit der Psychiatrie-Enquete des Bundestages von 1975 begann jedoch die Kritik an der Vormundschaft. Man empfand sie immer stärker als eine Form der Diskriminierung und als einen Widerspruch zum Freiheitsgedanken des Grundgesetzes.

    Im Betreuungsrecht, das 1992 beschlossen wurde, sollte dieser Freiheitsgedanke auch für die Menschen gelten, die wegen einer Krankheit oder wegen ihres Alters Hilfe benötigen. Deshalb darf bei einem Verfahren nicht über den Kopf des Betroffenen hinweg entschieden werden. Uwe Harm ist Rechtspfleger am Amtsgericht Bad Segeberg.

    "Es geht um seine Rechte, seine Grundrechte, und er ist als Erster zu befragen. Und sein Wille muss erforscht werden. Da hat man erstmals diese Grundrechte umgesetzt sozusagen auf dieses Rechtsgebiet."

    Uwe Harm und seine Kollegen an den Amtsgerichten sehen jedoch auch, dass zwischen Wunsch und Wirklichkeit eine erhebliche Lücke klafft. Die Betreuungszahlen sind seit 1992 von zunächst 300.000 auf inzwischen 1,2 Millionen hochgeschnellt. Nicht nur weil die Menschen immer älter werden, sondern weil es heute viel einfacher ist, eine Betreuung anzuregen, als das beim alten Vormundschaftsrecht der Fall war. Das hat auch Martin Probst gemerkt, der heute als Richter am Oberlandesgericht Schleswig arbeitet und ein Buch über das Betreuungsrecht veröffentlicht hat.

    "Ich will nicht verhehlen, dass man manchmal in der Praxis den Eindruck hat, dass Betreuungen dann zumindest initiiert werden, wenn andere Menschen mit den Betroffenen ein Problem haben. Wenn die ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen, wenn also bestimmte Dinge im normalen Leben nicht mehr so funktionieren. Betreuung sollte nur angeordnet werden, wenn sie erforderlich ist, und sie sollte nicht angeordnet werden, um andere Menschen zu einem normgemäßen Leben bringen zu wollen."

    Ob eine Betreuung eingerichtet wird, hängt vom Verfahren und von der Person des Richters ab, der darüber entscheidet. Und vom psychologischen Gutachten eines Sachverständigen. Kommt der Richter in einem Verfahren zu dem Schluss, dass ein Betreuer eingesetzt werden muss, dann hat er die Wahl. Er kann sich für einen Angehörigen entscheiden. Oder aber für einen ehrenamtlichen oder einen sogenannten Berufsbetreuer.

    Betreuer sind in der Regel Sozialpädagogen. Aber auch ehemalige Bankangestellte, Lehrer oder Menschen ohne jede besondere Qualifikation, die sich sozial engagieren möchten. Ein genaues Berufsbild gibt es noch nicht. Der Bundesverband der Berufsbetreuer arbeitet deshalb daran, Kriterien zu entwickeln.

    Weil das Betreuungsrecht im Gegensatz zum früheren Vormundschaftsrecht eine persönliche Betreuung vorsieht, war der Staat gezwungen, die staatliche Aufgabe zu privatisieren. Harald Schmid ist Politologe in Hamburg.

    "Und doch kommen durch diese Delegierung der Aufgaben an bestenfalls geschulte, verantwortungsvolle, schlimmstenfalls unfähige Betreuer die ganzen Probleme und Ambivalenzen der Privatisierung sozialer Aufgaben zum Tragen. Und die liegen vor allem in einer schwierigeren Kontrolle der Qualifizierung der Tätigkeit der Betreuer."

    Die Betreuer haben eine erhebliche Macht, die sonst nur dem Staat zukommt. Sie können Konten eröffnen oder auflösen, Aktien, Häuser oder Firmen verkaufen. Über den Kopf des Betroffenen hinweg. Sie können den Aufenthaltsort bestimmen und dafür sorgen, dass kranke oder alte Menschen in Altenheime oder psychiatrische Kliniken eingewiesen werden. Und sie können sogar für die Betreuten entscheiden, ob die Eltern oder die Kinder den kranken oder alten Menschen besuchen dürfen.

    Diese Macht maßen sich die Betreuer nicht selber an. Sondern sie wird ihnen ausdrücklich verliehen. Per Gesetz. Dennoch unterliegen Betreuer nach Auskunft eines Gerichts keiner Dienstaufsichtspflicht, obwohl sie im öffentlichen Auftrag tätig sind. Zwar üben die meisten Betreuer ihre Aufgaben sehr umsichtig und zum Wohle der Betreuten aus. Aber bei dieser Machtfülle bleibt es nicht aus, dass es immer wieder zu Missbrauch kommt. Martin Probst.
    "Klar ist, dass natürlich der Betreuer auch immer ein bisschen in Versuchung ist. Die Versuchung, in die Kasse zu greifen, ist sicherlich immer da, der muss er widerstehen, sonst wäre er kein Profi. Die Frage ist gleichwohl, was der Staat tun kann. Natürlich steht ein Betreuer unter der Aufsicht des Vormundschaftsgerichts und künftig Betreuungsgerichts. Die ist vom Ansatz her auch durchaus geeignet, sinnhaft zu wirken. Die Frage ist natürlich die, kann sie effektiv sein?"

    Die Betreuer müssen dem Gericht zwar auf Verlangen Berichte vorlegen. Aber dann können die Konten schon aufgelöst, und das Haus schon verkauft sein. Anders als es der alte oder kranke Mensch wollte, der betreut wird. Nach Auskunft von Juristen sind Betreuer noch nicht einmal gezwungen, ihre Betreuten persönlich aufzusuchen, obwohl das Gesetz eine persönliche Betreuung ausdrücklich vorsieht.

    Die Gerichte sind häufig überlastet. Die Zahl der Richter ist in den vergangenen Jahren sogar gesunken. Mit der Einrichtung der Betreuungsgerichte im September wird sich diese Situation nicht verbessern.

    Die Stellung der Angehörigen aber wird sich am 1. September noch weiter verschlechtern. Nach dem Familienverfahrensrecht haben Angehörige dann noch nicht mal ein Beschwerderecht gegen eine Betreuung von Eltern oder Kindern. Beschweren könnte sich nur der Betroffene selber. Der dürfte aber kaum dazu in der Lage sein, sonst müsste er ja nicht betreut werden. Außerdem könnte er es nur, wenn er einen der wenigen am Bundesgerichtshof zugelassenen Anwälte dafür gewinnen würde, seinen Fall zu vertreten.

    Der künftige Betreuungsrichter Wolfgang Wittek aus Bad Segeberg weist auch darauf hin, dass Angehörige ab dem 1. September noch nicht einmal am Gerichtsverfahren über Familienmitglieder beteiligt werden müssen:

    "Der Gesetzgeber meint, dass Angehörige am Verfahren vielfältigste Interessen verfolgen könnten. Das hat die Vergangenheit auch belegt. Deshalb hat er gesagt, solche Leute sollen nur begrenzt teilnehmen dürfen, wenn das Gericht es für notwendig hält. Und dann nur nicht im eigenen Interesse, sondern nur im Interesse des Betroffenen."

    Professor Walter Zimmermann, Autor eines Buches zum Familienverfahrensrecht und ehemaliger Vizepräsident des Landgerichts Passau empfindet es - so wörtlich - als unanständig, die Angehörigen so hinauszudrängen.

    Denn es kann nämlich passieren, dass nicht nur die persönlichen Daten der Betroffenen auf den Tisch kommen, sondern auch die der Ehegatten, des Partners oder der Kinder, wenn es beispielsweise gemeinsame Immobilien oder Firmen gibt.

    Im Fall einer Betreuung kann es passieren, dass gemeinsame Konten gesperrt werden, sodass zum Beispiel die Ehefrau erst einmal nicht darüber verfügen kann - obwohl sie eine Kontovollmacht besitzt. Doris Wegner leitet den Verein für Betreuung und Selbstbestimmung Nordfriesland e.V., der ehrenamtliche Betreuer zur Verfügung stellt:

    "Das ist ganz schön schwierig, weil die Person, die eben nicht betreut wird, natürlich auf ihrer Freiheit über das Geld zu verfügen, eingeschränkt wird. Dann wird die Vermögenssituation aufgelistet. Und dann wird von der Behörde auch genau vorgegeben, wie viel dem Partner oder der Partnerin in diesem Fall verbleibt. Zur eigenen Verfügung."

    Wie viel das sein kann, ist geregelt. Mit der freien Entscheidung im Kreis der Familie ist es jedoch vorbei.

    Dass Angehörige nicht selbstverständlich füreinander eintreten können, auch Eheleute untereinander nicht, das wurde bei der 2. Betreuungsrechtsänderungsnovelle 2005 noch einmal ausdrücklich bekräftigt.

    Es war die Bundesregierung, die die Änderung zugunsten der Ehegatten abgelehnt hatte. Weil sie Missbrauch befürchtete, wenn einer allein die Konten verwaltet. Wäre die gesetzliche Vertretung der Ehegatten umgesetzt worden, hätte der Staat die Möglichkeit verloren, auf das Vermögen des Betroffenen zuzugreifen, um zum Beispiel die Bezahlung der Pflege sicherzustellen.

    Noch immer werden etwa 60 Prozent aller alten und hilfsbedürftigen Menschen in der Familie betreut. Trotzdem ist mit dem Betreuungsrecht allseits das Misstrauen auch gegenüber den Familien gewachsen. Monika Cremer vom Bundesverband der Berufsbetreuer sieht die Betreuung in den Familien durchaus kritisch:

    "Wenn wir uns vorstellen, dass die Dementen und Hochbetagten 80 oder 90 Jahre alt sind, dann ist die Kindergeneration 60 bis 75. Und die sollen dann die Last tragen, obwohl sie sich selbst mit ihrem eigenen Alter auseinandersetzen müssen. Mal mehr mal weniger. Und wir sind heilfroh, dass diese Idee der gesetzlichen Vertretung nicht umgesetzt worden ist, durch Angehörige direkt."

    Die Sozialreformerin der Weimarer Republik, Gertrud Bäumer, sprach schon im 20. Jahrhundert von der Macht der Familie, die man einschränken und zu ihrem Wohle unter staatliche Obervormundschaft stellen müsse. Der Fürsorgestaat sollte jederzeit die Freiheit der Familien begrenzen dürfen.

    Das ist auch heute nach dem Betreuungsrecht möglich. Dabei wäre gerade jetzt eine Stärkung der Familien nötig, meint der Politologe Harald Schmid.

    "Das kann eine, ja vielleicht die große Chance für eine vorbeugenden Sozialpolitik sein. Das hätte gewiss auch positive Folgen für das ganze Feld der Betreuung. Denn je stärker die Familie, je stärker das soziale Netzwerk der Betroffenen, desto stärker ist auch die Möglichkeit, auf diese unmittelbare Ressource des Privaten zurückzugreifen. Das wäre eine andere Form intimer Kenntnis der Personen und ihrer Interessen, um die es ja ganz besonders geht bei der Betreuung."

    Stattdessen ist Fremdbetreuung ein Mittel der Existenzsicherung für einen neuen Berufszweig geworden. Dem Staat, der für diejenigen zahlen muss, die selber kein Geld haben, wächst es aber immer mehr über den Kopf.
    Allein in Niedersachsen sind die Betreuungskosten seit 1992 um das 120fache auf 60 Millionen Euro jährlich gestiegen. Und sie steigen weiter, trotz der Pauschalierung der Stundensätze für die Betreuer mit der Novelle von 2005. Gabriele Lamers vom Amt für Jugend, Gesundheit und Soziales des Kreises Nordfriesland.

    "Im Zeitraum von 2000 bis 2008 sind in Nordfriesland die Betreuungszahlen um 99 Prozent gestiegen. Das Personal vergleichsweise ist nur um 11 Prozent mitgestiegen. Das führt natürlich dazu, dass immer mehr Druck entsteht. Und das andere ist, dass ein anderer Geschäftsbereich, den wir auch abwickeln, nämlich ehrenamtliche Betreuer werben, der leidet zurzeit. Und das ist schlecht, weil wir die ehrenamtlichen Betreuer ja brauchen, damit wir nicht so viele Berufsbetreuer einsetzen müssen."

    Berufsbetreuer sind erheblich teurer, weil sie bis zu 44 Euro pro Stunde kosten können. Während die ehrenamtlichen Betreuer eine Aufwandsentschädigung von 323 Euro pro Jahr bekommen.

    Wohlhabende - und das ist nach dem Betreuungsrecht jeder, der mehr als 25.000 Euro auf dem Konto hat - zahlen alles aus eigener Tasche. Auch wenn sie nicht um die Betreuung gebeten haben.

    Trotz hoher Kosten ist es für eine Sozialbehörde manchmal einfacher, eine Betreuung zu beantragen, die alle Lebensbereiche eines Menschen erfasst, sagt Wolfgang Wittek. Obwohl es auch die Möglichkeit gibt, nur da zu helfen, wo es unbedingt nötig ist. Beim Putzen oder Einkaufen oder beim Gang zur Bank. Für einzelne Angelegenheiten vor Behörden gibt es die Möglichkeit, einen Verfahrenspfleger zu bestellen.

    "Das Problem dabei ist, derjenige der das bestellt, also der Sozialleistungsträger, müsste diese Maßnahme bezahlen. Deshalb gibt es derartige Anträge in der Praxis praktisch überhaupt nicht."

    Das - so Wolfgang Wittek - ist ein weiterer Grund dafür, dass die Betreuungszahlen inzwischen die Millionengrenze weit überschritten haben. Auch einige Alten- und Pflegeheime neigen dazu, lieber einen Betreuer bei Gericht zu beantragen, als selber einen Rentenantrag oder andere Dinge für ihre Heimbewohner zu erledigen.

    Wer vorsorgen will für den Fall, dass er einmal hilfsbedürftig wird, und schon weiß, wer die Betreuung übernehmen soll, der kann eine sogenannte Betreuungsverfügung oder Vorsorgevollmacht erteilen.

    Bei der Bundesnotarkammer in Berlin sind bereits etwa 900.000 Vollmachten registriert. Die Tendenz ist steigend. Auch Anna Berger und ihr Mann haben eine Betreuungsvollmacht unterschrieben. Sie wollen nicht am eigenen Leib erleben, was mit ihrem Onkel beinahe passiert wäre.

    "Wir haben vorgesorgt und haben das sogar in der Notariatskammer bestätigen lassen, dass da ein Bevollmächtigter eingetragen ist. Wir haben also einen Ausweis bekommen. Da steht der Bevollmächtige drauf. Und wenn man den bei sich hat, dann kann kein anderer die Vollmacht übernehmen. Wenn es ganz schlimm kommt, und die übernehmen die Vollmacht, dann kann das sofort rückgängig gemacht werden, sobald der Bevollmächtigte das erfährt, und auch die Kosten werden erstattet."

    Vor dem Hintergrund steigender Betreuungskosten rufen auch die Justizminister der Länder immer stärker dazu auf, durch eine Vollmacht für später vorzusorgen. Über eine Vorsorgevollmacht können auch Ehepartner, Kinder und Eltern füreinander einstehen. Sozialbehörden und Anwälte helfen bei der Ausfertigung.

    Trotzdem gibt es noch eine Lücke. Für Wolfgang Wittek, der ab kommender Woche als Betreuungsrichter in Bad Segeberg arbeiten wird, hat der Selbstbestimmungswille des Betroffenen in einer Vorsorgevollmacht oberste Priorität. Er muss aber bei seinen Entscheidungen unter Umständen auch darauf Rücksicht nehmen, dass die Vorsorgevollmacht begrenzt sein kann.

    "Das Problem ist, der Gesetzgeber hat zwar die Vorsorgevollmacht erfunden, und er findet sie auch ganz toll, und sie ist auch ganz toll. Er hat aber vergessen, sie mit einer Absolutheit auszustatten."

    Der Sozialstaat will im Rahmen seiner Fürsorge sicherstellen, dass auch der Bevollmächtigte geeignet ist. Unabhängig davon, was der Vollmachtgeber will. Ein Richter kann eine bei der Bundesnotarkammer registrierte Vorsorgevollmacht zwar nicht ignorieren. Er kann aber immer noch gegen den Willen des Betroffenen entscheiden, wenn er den Bevollmächtigten nicht für geeignet hält.

    Die Patientenverfügung, die Teil des Betreuungsrechts ist, ist dagegen absolut verbindlich. Für den Arzt und den Inhaber der Vorsorgevollmacht. Auch ein Richter kann ihr nicht widersprechen.

    Der Bundestag hat die Patientenverfügung am 18. Juni mit großer Mehrheit verabschiedet. Eine breite öffentliche Bewegung hat dafür gesorgt, dass der Patient sich selbst bestimmen und seinen freien Willen uneingeschränkt äußern darf. Beim Betreuungsrecht hat es diese breite öffentliche und politische Diskussion bisher nicht gegeben.