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Zusammenbruch aller Schranken

Der Schriftsteller Iwan Bunin war ein sehr genauer Beobachter der blutigen Tumulte in den Straßen Moskaus und Odessas während der russischen Revolution. Nach seiner Flucht in den Westen veröffentlichte er seine Erinnerungen. Sie dokumentieren die kompromisslose Ablehnung jedes gewaltsamen Umbruchs.

Von Karla Hielscher | 10.02.2006
    Ein Zufall ist es nicht, dass dieses bittere Buch des russischen Literaturnobelpreisträgers Iwan Bunin über die ersten Jahre der bolschewistischen Herrschaft in Russland erst jetzt zum ersten Mal auf Deutsch erscheint. Wurde doch auch im Westen einem großen Teil der intellektuellen Öffentlichkeit erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus das ganze Ausmaß der Tragödie des mit der russischen Revolution beginnenden historischen Experiments bewusst, auf das ein halbes Jahrhundert lang so viele Hoffnungen gesetzt wurden.

    Bunins Tagebuch demonstriert die radikal entgegengesetzte Position: die kompromisslose Ablehnung jedes gewaltsamen Umbruchs, eine Sicht die jede positive Entwicklungsperspektive oder historische Mythisierung ausschließt. Der damals in Russland schon sehr bekannte Schriftsteller hat diese Revolution von Anfang an als Zusammenbruch "aller göttlichen und menschlichen Schranken", als Untergangs Russland und seiner Kultur erlebt, als "blutiges Bäumchen-wechsel-dich-Spiel", bei dem das Volk letzten Endes wie immer "vom Regen in die Traufe kommt". Dabei ist sich der aus dem verarmten Landadel stammende Aristokrat durchaus bewusst, dass seine Sicht des erniedrigten, gedemütigten Betroffenen nicht objektiv ist:

    "Wirkliche Unvoreingenommenheit wird es ohnehin nie geben. Vor allem aber: Unsere 'Voreingenommenheit' wird für den künftigen Historiker außerordentlich wertvoll sein. Ist denn nur die 'Leidenschaft' des 'revolutionären Volkes' von Bedeutung? Und wir, sind wir etwa keine Menschen?"

    Bunins Aufzeichnungen aus den Jahren 1918 in Moskau und 1919 in Odessa, von wo aus er dann mit einem der letzten Schiffe übers Schwarze Meer nach Konstantinopel flüchten konnte, sind in der Tat ein einzigartiges historisches Dokument, erschütterndes Beweismaterial des Chaos und der Auflösung von Recht und Gesetz. Erregt und verzweifelt beschreibt er das tägliche Geschehen: die wilden Schusswechsel einer betrunkenen Soldateska, die Erschießungen unschuldiger Menschen an Ort und Stelle, die ständig durch die Straßen donnernden Lastwagen voller fanatisierter Soldaten und Arbeiter mit "triumphierenden Visagen", die überall zu hörenden hasserfüllten Reden vom "Abschlachten" aller Bourgeois, die wahllosen Plünderungen, den stumpf Sonnenblumenkerne kauenden Straßenmob, der zu allem bereit ist, den Ausbruch von grausamem Judenhass und gewalttätiger Pogrome.

    "Tag und Nacht leben wir in einer Orgie des Todes. Und das alles im Namen der 'lichten Zukunft', die angeblich ausgerechnet aus diesem diabolischen Dunkel geboren werden soll."

    Die Aufzeichnungen manifestieren das qualvolle Ringen Benins um die Bewahrung seiner Würde als Mensch und Schriftsteller gegen den sich ausbreitenden Strom von Unkultur, Schmutz, Niedertracht und Brutalität. Der sensible Dichter leidet körperlich unter den schwülstigen Phrasen sowie der Flut von immer neuen hochtrabenden Wörtern und Wortneubildungen wie etwa "Kommissar" oder "Revolutionstribunal":

    "Alles nur, damit man unter dem Schutz solch heilig-revolutionärer Worte so ungerührt knietief im Blut waten kann, dass dank ihnen selbst die vernünftigsten und anständigsten Revolutionäre, die bei einem gewöhnlichen Raub, Diebstahl oder Mord in Empörung geraten und sehr wohl erkennen, dass man einen Landstreicher, der einen Passanten in normalen Zeiten an der Gurgel gepackt hält, ergreifen und zur Polizei schleppen müsste, sich vor lauter Begeisterung über diesen Landstreicher überschlagen, wenn er genau dasselbe in so genannten revolutionären Zeiten macht."

    Er ist entsetzt über die primitiven blutrünstigen, hasspredigenden Agitplakate und Lieder, über die Verkommenheit der Sprache der Zeitungen mit ihrem unflätigen Jargon und verlogenen Pathos, denen man keine einzige verlässliche Information entnehmen kann, und nach denen er doch jeden Morgen süchtig zum Kiosk läuft. Er fühlt sich abgestoßen von den Feiern zum 1. Mai mit ihren opernhaft volkstümlich kostümierten Schauspielern, die als "lebende Bilder" posieren und brüderlich sich umarmende Kommunisten oder die "Macht und Schönheit der Arbeit" darstellen.

    In diesen Tagen der sich jagenden, einander widersprechenden Gerüchte, des aufreibenden Wartens auf Rettung und des immer wieder enttäuschten Hoffens fragt Bunin nach den Ursachen. Er liest Bücher über die französische Revolution:

    "Wie sie sich doch gleichen, alle diese Revolutionen (...) All das wiederholt sich vor allem deshalb, weil eines der auffälligsten Erkennungsmerkmale einer Revolution die ungezügelte Gier nach Spiel, Verstellung, Pose, Schaubude ist."

    Gleichzeitig setzt er sich intensiv mit der russischen Geschichte und Literaturgeschichte auseinander und erklärt das historische Desaster mit dem blauäugig idealistischen Verhältnis von Generationen russischer Intelligenzler zum Volk, mit jener alles vergiftenden "literarischen Betrachtungsweise" der Wirklichkeit:

    "Was war das? Dummheit, Unwissenheit, entstanden nicht nur aus Unkenntnis des Volkes, sondern auch aus mangelndem Willen, es zu kennen? 'Ich glaube an das russische Volk! Dafür wurde applaudiert.'(...) Und den Bauern, als Individuum, hat er den gesehen? Er kannte nur 'das Volk', 'die Menschheit'."
    Bunin, der als Sohn einer verarmten Gutsbesitzfamilie in engstem Kontakt mit diesem Volk gelebt hatte - auch das Revolutionsjahr 1917 verbrachte er auf dem Land - war schon früher häufig sein zwar von Nähe und Verständnis geprägter, jedoch illusionsloser Blick auf das Volk vorgeworfen worden. Nun gibt er dem "im Grunde sehr herrschaftlichen Idealismus" der russischen Intelligenzija die Schuld:

    "Nicht das Volk hat die Revolution angefangen, sondern ihr. Das Volk hat sich einen Dreck darum geschert, was wir wollten, womit wir unzufrieden waren."

    Mit galligem und durchaus oft auch ungerechtem Sarkasmus urteilt er über seine Schriftstellerkollegen: Majakowskij sei ein "ordinärer Possenreißer", sein einstiger Freund Maxim Gorkij, der die Bolschewiki noch 1918 eine "Horde von Glücksrittern" genannt hatte, biedere sich nun bei der neuen Macht an, und Alexander Block idealisiere das Wüten der Anarchie in seiner Dichtung als "Musik der Revolution".
    Aber dieses Buch ist mehr als das tägliche Notizheft eines über den Zusammenbruch seiner Welt verzweifelten Adeligen. Basierend auf seinen authentischen Tagebuchaufzeichnungen hat Bunin immer wieder daran gearbeitet, alles rein Private getilgt und Erinnerungen aus dem ersten Revolutionsjahr in Petrograd und auf dem Dorf eingefügt. Entstanden ist ein durchkomponierter literarischer Text über die russische Revolution, den man mit nicht nachlassender Spannung liest. Es gelingt ihm, die auf dem Basar, in der Straßenbahn, in Hauseingängen mitgehörten Dialoge und Gesprächsfetzen von Kutschern, Marktfrauen, Rotarmisten mit all ihren Verballhornungen zu präzisen Prosaskizzen zu verdichten. Bunin hat dem Volk aufs Maul geschaut und damit auch ein sprachliches Dokument von höchster Präzision geschaffen.

    Die Schilderungen des Schreckens werden konterkariert durch still leuchtende Beschreibungen der ewigen, gleichgültigen Schönheit der Natur. Den Berichten über die Auflösung aller Traditionen und Werte sind Bilder vom Zauber des alten Russland gegenübergestellt, jener Welt, die "bald für immer verschwunden sein wird".

    "In dem Moment blickte ich auf den wunderbaren grünen Himmel über dem Kreml, auf die goldene Patina seiner Kuppeln - wie lieb und vertraut ist das alles, und erst jetzt richtig empfunden und verstanden!"


    Iwan Bunin: Verfluchte Tage. Ein Revolutionstagebuch.
    Aus dem Russischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dorothea Trottenberg und mit einem Nachwort von Thomas Grob.
    Dörlemann Verlag, Zürich, 2005
    259 Seiten
    19,80 Euro