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Zuwanderung
"Die EU ist keine Sozialunion"

Wenige Tage vor der Europawahl entflammt eine Debatte über Zuwanderung in Deutschland. Laut Statistischem Bundesamt erreicht der Zuzug von Ausländern und Deutschen ein 20-Jahres-Hoch. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verurteilt den angeblichen Sozialmissbrauch durch Zuwanderer aus der Europäischen Union.

22.05.2014
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) (dpa / Stefan Puchner)
    Die Bundeskanzlerin hatte sich in der Vergangenheit stets für eine Angleichung der sozialen Sicherungssysteme, für "mehr Europa" stark gemacht. In ihrer Regierungserklärung zum Europäischen Rat sagte Merkel im vergangenen Dezember, die Bundesrepublik wolle weiterhin eine "integrationsfördernde Rolle in Europa" wahrnehmen. Nach einem Rechtsgutachten des Europäischen Gerichtshofs über einen Ausschluss deutscher Sozialleistungen für EU-Ausländer sagte die CDU-Vorsitzende nun in einem Interview der "Passer Neuen Presse": "Wir wollen Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten. Die EU ist keine Sozialunion." Die Bundesregierung plant, EU-Ausländern die Wiedereinreise nach Deutschland zu verbieten, wenn sie Sozialleistungen missbraucht haben.
    Mit Blick auf Kindergeldzahlungen an EU-Bürger verwies Merkel auf die Freizügigkeitsregelungen der EU und ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Danach hätten in Deutschland arbeitende EU-Bürger grundsätzlich Anspruch auf Kindergeld, wenn sie in Deutschland erwerbstätig sind. "Wir arbeiten daran, hierbei bestmöglich Missbrauch ausschließen zu können", sagte die CDU-Vorsitzende. Die CDU führt mit dem Motto "Gemeinsam erfolgreich" den Europawahlkampf. Mit besonderer Spannung wird erwartet, in welcher Stärke rechtsextreme, populistische und euroskeptische Parteien ins EU-Parlament einziehen.
    Grüne werfen Merkel Populismus vor
    Die Grünen haben der Bundeskanzlerin in der Debatte über Sozialleistungen für EU-Ausländer billigen Populismus vorgeworfen. "Die Union setzt im Endspurt des Europawahlkampfes darauf, Rechtspopulisten wie die AfD scharf rechts zu überholen. Dafür ist ihr nichts zu billig und zu schäbig", kritisierte Grünen-Chefin Simone Peter. Nach der CSU beginne jetzt sogar die Kanzlerin auf dem Rücken der Ärmsten in Europa Wahlkampf zu machen: "Dumpfe Parolen statt wirkliche Problemlösung ist dabei das Motto der Stunde." Merkel werfe zwei zentrale Grundwerte Europas über Bord: "Sie geht der Freizügigkeit, einem Stützpfeiler der europäischen Einigung, an den Kragen und will dieses mühsam errungene Freiheitsrecht wieder einschränken."
    Simone Peter, Grüne
    Simone Peter, Grüne (dpa / Soeren Stache)
    SPD-Vize Ralf Stegner kritisierte die Kanzlerin in der "Bild"-Zeitung: "Europa ist nicht nur eine Währungs- und Wirtschaftsunion. Unser Ziel muss ein soziales Europa mit einheitlichen Standards für gute Arbeit sein. Angstkampagnen, dass unsere Sozialkassen geplündert würden, sind nicht hilfreich. Die meisten Ausländer in Deutschland arbeiten – und zahlen in die Sozialkassen ein."
    Gauck: "Ein neues deutsches 'Wir'"
    Angesichts des Zuwanderungsbooms und der Debatte über Missbrauch von Sozialleistungen hat Bundespräsident Joachim Gauck eine "geistige Öffnung" gegenüber Einwanderern angemahnt. Ausgrenzung von Deutschen "mit Migrationshintergrund" untersage das Grundgesetz, sagte Gauck bei einer Rede in Berlin. "Wir müssen dazulernen."
    Mehr Zuwanderer aus Euro-Krisenstaaten
    Das Statistische Bundesamt veröffentlichte heute Zuwanderungszahlen, die bereits in einem OECD-Bericht vor zwei Tagen zu lesen waren: Zuwanderung boomt. Im vergangenen Jahr zogen nach Angaben der Statistiker rund 1,2 Millionen Menschen in die Bundesrepublik. Ziehe man die Auswanderer ab, seien unter dem Strich 437.000 mehr Ausländer und Deutsche ins Land gekommen als fortzogen. Das sei der höchste Wert seit 1993. Die meisten ausländischen Zuwanderer stammen demnach aus Polen, gefolgt von anderen osteuropäischen Staaten wie Rumänien, Ungarn und Bulgarien; in diese Länder sind auch die meisten Fortzüge zu verzeichnen. Daneben habe die Zuwanderung aus den Euro-Krisenstaaten Spanien, Portugal und Italien deutlich zugenommen.
    Einer der täglichen Linienbusse nach Rumänien in Frankfurt am Main. Viele, die hier einsteigen, pendeln regelmäßig zwischen ihrer Heimat und einer Arbeitsstelle in Deutschland.
    Einer der täglichen Linienbusse nach Rumänien in Frankfurt am Main. Viele, die hier einsteigen, pendeln regelmäßig zwischen ihrer Heimat und einer Arbeitsstelle in Deutschland. (dpa / Boris Roessler)
    "Europa hat ein soziales Gesicht"
    Die Europäische Union sei gerade auf einem sozialen Fundament gebaut, sagte der Jenaer Rechtswissenschaftler Eberhard Eichenhofer im Deutschlandfunk. Es sei die Idee Europas, "dass Wanderarbeit nicht mit sozialrechtlichen Nachteilen verbunden sein soll", sagte Eichenhofer. "Europa hat nämlich ein soziales Gesicht, was selten gesehen wird. Das erste Gesetz, was die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erließ, betraf die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, dazu gehört die Regelung über die Kindergeldzahlungen. Das ist eine große soziale Errungenschaft, die man mehr würdigen sollte als es zuweilen geschieht." Der geringe Zuwachs an Hartz-IV-Beziehern auch aus Rumänien und Bulgarien falle insgesamt aber kaum ins Gewicht.
    Das wichtigste Finanzierungsinstrument der Europäischen Union ist der 1958 eingerichtete Europäische Sozialfonds (ESF). Mit diesen Mitteln werden junge Menschen besser qualifiziert, um so Nachteile auf dem Arbeitsmarkt abzubauen. Deutschland hat in der vergangenen Förderperiode in den Jahren 2007 bis 2013 rund 3,5 Milliarden Euro erhalten.
    (sdö/stfr)