Freitag, 29. März 2024

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Zwangsarbeit in Deutschland

Der Ethnologe und Migrationsfoscher Norbert Cyrus schätzt, dass in Deutschland rund 15.000 Menschen in Zwangsarbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Diese Beschäftigungen seien dadurch gekennzeichnet, dass die Betroffenen gegen ihren Willen zu Tätigkeiten gezwungen werden und zugleich nicht in der Lage sind, sich aus ihrer Lage zu befreien. Als Beispiele nannte Cyrus Zwangsprostitution, aber auch die Ausbeutung von Migranten zum Beispiel im Baugewerbe.

Moderation: Michael Köhler | 01.05.2006
    Michael Köhler: Das Verbot der Sklaverei, es zählt zu den absoluten Menschenrechten. Es ist mit der Menschenwürde natürlich nicht vereinbar. Deshalb Frage an Norbert Cyrus, Ethnologe, Migrationsforscher, der über das Thema der sklavereiähnlichen Beschäftigung von Arbeitsmigranten sprechen wird. Wir müssen mal Arbeit am Begriff erst einmal leisten. Was ist Sklaverei? Und was ist sklavereiähnlich? Und was findet davon in der EU oder sogar in Deutschland statt?

    Norbert Cyrus:! Ja, Sie haben natürlich vollkommen Recht. Sklaverei ist weltweit geächtet. Es gibt eine Konvention der Vereinten Nationen, in der eindeutig festgelegt wurde, dass Sklaverei und sklavereiähnliche Verhältnisse aufs Schärfste bekämpft und verhindert werden müssen. Viele Staaten haben diese Konvention unterschrieben. Dennoch muss man feststellen, dass in den letzten Jahrzehnten Sklaverei, sklavereiähnliche Verhältnisse wieder zugenommen haben weltweit. Die internationale Arbeitsorganisation sieht die Zunahme der Sklaverei und sklavereiähnlicher Beschäftigungsverhältnisse als die Kehrseite der Globalisierung.

    Was meinen wir mit Sklaverei? Im Prinzip bedeutet Sklaverei, dass eine Person zu einem Eigentum einer anderen Person gemacht wird und wie ein Gegenstand, wie eine Ware oder auch wie ein Tier verkauft und gekauft werden kann. Das ist die ursprüngliche Bedeutung von Sklaverei. Und sklavereiähnliche Verhältnisse bezeichnen solche Situationen, in denen Menschen gegen ihren Willen in Situationen gebracht werden, aus denen sie sich nicht mehr mit eigener Kraft befreien können und dann zu Dingen gezwungen werden, entweder Zwangsprostitution oder auch Beschäftigungsbedingungen, Arbeitsverhältnisse zu akzeptieren, die sie freiwillig nicht akzeptieren würden.

    Köhler: Und diese sklavereiähnlichen Verhältnisse, die finden wir in der EU wie auch in Deutschland, um Ihr Beispiel aufzugreifen, also Fälle von Leibeigenschaft, Zwangsheirat, Kinderhandel oder auch Schuldknechtschaft?

    Cyrus: Wir finden diese Verhältnisse tatsächlich auch in den freien Industrieländern, auch in der Europäischen Union. Die Erscheinungsformen sind sehr, sehr vielfältig. Sie haben es ja bereits gesagt, Zwangsprostitution, Zwangsheirat, aber auch Formen der Zwangsarbeit sind in Deutschland tatsächlich in den letzten Jahren ja auch stärker thematisiert worden. Auch das hat zu tun mit den Formen der Globalisierung. Migration hat zugenommen, die Grenzen sind ja weggefallen, und in diesem Zusammenhang kommen Menschen auch nach Europa, die in Situationen geraten, wo sie verletzlich sind, wo sie ausbeutbar sind, weil das Recht sie nicht genügend schützen will oder schützen kann, und diese Schutzlosigkeit wird ausgenutzt und ausgebeutet.

    Köhler: Herr Cyrus, wo findet Ihrer Meinung nach Zwangsarbeit in Deutschland statt, denn ich glaube, wir sind uns doch einig, es ist nicht damit gemeint irgendwelche Arbeitsverhältnisse auf Baustellen. Das kann sich heute keiner mehr leisten, auf einer Baustelle Osteuropäer sklavereiähnlich zu beschäftigen. Der Zoll auf der einen Seite würde das verhindern und überprüfen, aber auch inzwischen die Solidarität unter den Arbeitern selber teilweise. Wo finden wir solche Zustände, an die Sie denken?

    Cyrus: Sehen Sie, ich habe für das internationale Arbeitsamt eine Studie, eine Recherche durchgeführt zu dem Thema Zwangsarbeit in Deutschland. Ich habe eine ganze Reihe von auch Ermittlungsbehörden, Hauptzollämter, Polizei, Landeskriminalämter, Bundeskriminalamt, befragt. Ich habe auch mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern Gespräche geführt, habe Kontakt aufgenommen zu Gewerkschaftlern. Und das Bild, was mir vermittelt wurde, ist doch sehr niederschmetternd. Es gibt eine sehr große Grauzone von solchen Beschäftigungsverhältnissen. Es sind sehr, sehr unterschiedliche Formen, und es geht wirklich bis zur Zwangsarbeit, wo Menschen gegen ihren Willen in diese Arbeitsverhältnisse gebracht und gehalten werden und sich nicht mit eigener Kraft daraus befreien können.

    Das eine sehr große Feld, in dem solche schrecklichen Arbeitsverhältnisse stattfinden, ist natürlich die Prostitution. Wir wissen das, wo Frauen mit falschen Versprechungen gelockt werden und dann in die Fänge von Zuhältern, von Bordellbesitzern geraten, und dadurch, dass ihnen systematisch Kosten auferlegt werden, ihnen werden Versprechungen gemacht, und dann wird gesagt, sie müssen die Kosten für die Reise jetzt plötzlich selber bezahlen. Darüber, durch diese Mechanismen werden sie immer tiefer in diese Abhängigkeitsverhältnisse verstrickt und geraten dann in Situationen, wo sie gezwungen werden, die Prostitution gegen ihren Willen zunächst auszuüben.

    Köhler: Das ist aber doch ein Problem, sage ich mal, von Grenzkriminalität, von organisiertem Verbrechen und doch weniger von sklavereiähnlicher Beschäftigung, oder?

    Cyrus: Nun, ich habe auch andere Fälle gefunden, die sehr viel alltäglicher sind. Also Sie haben das Baugewerbe erwähnt. Tatsache ist, dass natürlich kein großes Bauunternehmen, das als Generalunternehmen auftritt und große Baustellen abwickelt, es sich leisten kann, mit diesen Arbeitsverhältnissen in Verbindung gebracht zu werden. Nun gibt es aber die Möglichkeit, dass diese Unternehmen Subunternehmen beauftragen. Und diese beauftragen andere Subunternehmen. Und diese ganze Kette der Subunternehmer hat das Ziel, die Preise zu drücken, dass billiger produziert wird, die Gebäude billiger zu errichten. Und am Ende erhält dann ein Subunternehmer den Zuschlag, der diese Arbeiten, die er da übernimmt, gar nicht zu den regulären Bedingungen ausführen kann. Es ist also schon von der Kalkulation her sehr deutlich, dass diese Verträge nur realisiert werden können, wenn die Arbeitnehmer ausgebeutet werden, wenn sie nicht zu den geltenden, zu den vorgeschriebenen Bedingungen eingestellt werden können.

    Ich hatte einen Fall recherchiert, da handelte es sich um Afrikaner, die in Deutschland gelebt haben, die hatten, da sie als Asylbewerber dem Arbeitsverbot unterliegen, eine illegale Beschäftigung ausgeübt, sind dann von ihrem Subunternehmer um den Lohn für die geleistete Arbeit gebracht worden. In dem Fall haben die Leute sich gewehrt, sie haben also mit Hilfe von Unterstützern eine Demonstration organisiert und tatsächlich in dem Falle den Lohn für die Arbeit bekommen.

    Köhler: Kann man das beziffern EU-weit oder deutschlandweit, denn wir reden hier nicht über Wirtschaftsflüchtlinge aus den Adenstaaten Südamerikas, die hier vielleicht eine Putzstelle wahrnehmen, sondern wir reden über entwürdigende Arbeit unter menschenverachtenden Verhältnissen, wie Sie offenbar recherchiert haben. Kann man das beziffern?

    Cyrus: Ja, lassen Sie mich zwei Zahlenkolonnen nennen. Das eine sind die Gewinne, die gemacht werden mit geschleusten Zwangarbeitern jährlich. Da hat die internationale Arbeitsorganisation Berechnungen angestellt, und die kommen zu dem Ergebnis, dass pro Jahr weltweit 31 Milliarden US-Dollar durch die Ausbeutung geschleuster Zwangsarbeiter erwirtschaftet werden. Davon sind die Hälfte, nämlich 15 Milliarden US-Dollar, in den Industrieländern angesiedelt. Das heißt also, dieses Problem, von dem wir immer glauben, das haben wir eigentlich schon überwunden, das ist gerade in unseren Ländern besonders virulent. Hier wird die Hälfte dieser Gewinne mit Schleusung, mit Ausbeutung auch von Zwangsarbeitern erzielt.

    Zahlen, natürlich ist es sehr schwierig, hier konkrete Zahlen zu haben: Wie viele Menschen sind tatsächlich davon betroffen, dass sie Opfer von solchen Zwangsarbeitsverhältnissen, von sklavereiähnlichen Verhältnissen werden? Wir haben Schätzungen angestellt, haben also die Daten angeschaut, analysiert, haben die Situation uns angeschaut und sind zu einer Schätzung gekommen, das ist natürlich nur eine Schätzung, dass in Deutschland etwa 15.000 Personen in solchen Zwangsarbeitsverhältnissen zurzeit sich befinden.

    Köhler: Herr Cyrus, Marokko und Algerien gehen mit zentralafrikanischen Flüchtlingen sehr rigide um. Marokko etwa bekommt Millionen zur Grenzsicherung auch von der EU. Meine Frage, verschärft vielleicht ein wenig der Wille zum Schutz des EU-Binnenraums das Problem, vor dem man sich eigentlich selber schützen will, also wird das dadurch angekurbelt, Zwangsarbeit?

    Cyrus: Ja, die Ergebnisse der Migrationsforschung sind ja letztendlich eindeutig. Die Verschärfung der Kontrollen führt nicht dazu, dass die illegale Einwanderung abnimmt, sondern dass neue, andere gefährlichere Wege gesucht werden, dass das Risiko also für die Einwanderer steigt, dass zweitens die Preise, die gezahlt werden an die Schlepper, an die Schleuser steigt, also die Gewinne vergrößern sich im Prinzip dadurch. Es zeigt sich auch, dass die Schutzlosigkeit der Menschen noch größer wird. Es zeigt sich auch, dass Menschen, wenn sie einmal in das Land gekommen sind, sich überlegen, ob sie zurückgehen oder ob sie nicht länger bleiben, denn auf Grund gerade dieser immer stärkeren Grenzkontrollen sind Menschen, die einmal in das Land gekommen sind, natürlich nicht bereit, leichter wieder zurückzugehen, weil die wissen, wenn ich jetzt gehe, dann muss ich wieder diese ganzen großen Anstrengungen, Gefährdungen, Risiken auf mich nehmen, um in das Land zu kommen, und insofern hat die Migrationsforschung auch hier gezeigt, dass durch Verschärfung der Grenzkontrollen letztendlich die Anreize für illegale Migranten, länger zu bleiben, sich erhöht haben.

    Köhler: Herr Cyrus, ein Letztes, den Begriff Sklaverei, ich habe damit begonnen, kenne ich eigentlich heute nur noch umgangssprachlich, also wir verwenden das Wort in unserem Sprachgebrauch heute vielleicht in so seltsamen Verbindungen wie Sexsklaven oder so etwas. Also da handelt es sich um Formen freiwilliger Unterwerfung, oder wenn man einer Sache versklavt ist, hat man sich einer Sucht oder Passion hingegeben, also irgendeiner Form von, ich sage mal, befristeter Abhängigkeit. Ist dieser Begriff, an dem ich mich zu Beginn schon ein bisschen gestoßen haben, ist der eigentlich Common Sense, benutzt man den so in der öffentlichen Sphäre, oder ist das neu, dass man von sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnissen spricht?

    Cyrus: Das ist natürlich neu. Das hat auch etwas damit zu tun, dass in den letzten Jahrzehnten, sage ich mal, so lange wie Deutschland relativ abgeschottet war und die Gewerkschaft und die Arbeitgeber sich an die vorgegebenen Standards gehalten haben, es diese krasse Form der Ausbeutung nicht in dem Maße gab wie heute, wo es zu einer Deregulierung des Arbeitsmarktes kommt. Ich hatte dieses Prinzip der Subunternehmerketten ja bereits beschrieben. Dadurch kommt es auch zu einer Zunahme natürlich dieser Arbeitsverhältnisse. Und dass Sklaverei inzwischen tatsächlich zu einem Problem geworden ist, das sich wieder stellt, zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass der Gesetzgeber selber den Tatbestand der Sklaverei im letzten Jahr, im Jahr 2005 durch die 37. Strafrechtsreform zum ersten Mal in das deutsche Strafgesetz eingeführt hat.