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Zwangsarbeiter als Rückgrat der Wirtschaft

Als 1936 die Arbeitslosigkeit in Arbeitskräftemangel umschlug, versuchten die Arbeitsämter das Problem zunächst freiwillig, dann mit Zwang zu lösen. Die Gemeinde Esslingen am Neckar stellt sich seiner Geschichte der Zwangsarbeit und legte jetzt eine Forschungsarbeit vor. Sie zeigt, dass das Dritte Reich auf die Mitwirkung von Kommunen und Wirtschaft angewiesen war.

Von Cajo Kutzbach | 09.04.2009
    Manchmal verrät der genaue Blick auf das Lokale mehr, als Übersichtsstudien zu leisten vermögen. Die Historikerin Dr. Elisabeth Timm vom Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien hat sechs Jahre lang die Zwangsarbeit in Esslingen untersucht und jetzt eine über 460 Seiten dicke Studie vorgelegt. Gerade weil Esslingen am Neckar keine Großstadt war, lassen sich hier die Zusammenhänge zwischen Gemeinde, Wirtschaft, Zwangsarbeit und Nationalismus anschaulich beschreiben. Hinzu kommt, dass Esslingen besonders viele Zwangsarbeiter hatte:

    "Meine Forschung hat zunächst mal ergeben, dass die Zahl der Zwangsarbeiter, von der man bisher für Esslingen ausgegangen ist, deutlich nach oben korrigiert werden muss. Allein für Ende 1944 ist dokumentiert, dass 11.000 Menschen hier in Esslingen Zwangsarbeit geleistet haben. Das war deportierte, nicht jüdische Zivilbevölkerung aus allen besetzten Gebieten des Deutschen Reichs. Insgesamt, wenn man die ganze Kriegsdauer betrachtet, wird man wahrscheinlich von etwa 25.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern im Stadtgebiet Esslingen ausgehen müssen, die sowohl bei den Unternehmen gearbeitet haben, also hier eben vor allem im Maschinenbau, aber auch bei der öffentlichen Hand etwa in Sozialeinrichtungen, vor allem aber auch beim Luftschutzstollenbau und beim Trümmerräumen."

    Insgesamt gab es damals wohl 13 Millionen Zwangsarbeiter. Genug um die in den Krieg gezogenen Männer an deren Arbeitsplätzen zu ersetzen?

    "Das stimmt nur zum Teil, weil in Esslingen auf Grund dessen, dass der Maschinenbau für die Rüstungsindustrie eine außerordentlich wichtige Branche war, auch diejenigen Arbeitsplätze besetzt werden mussten, die durch die Expansion der Betriebe entstanden sind. Die Esslinger Metallindustrie ist schon vor Kriegsbeginn stark expandiert, also allein in der Zeit zwischen 1933 und 1939 haben sich die deutschen Belegschaften in den Esslinger Maschinenbauunternehmen fast in allen verdoppelt. Und nach Kriegsbeginn sind ein Teil der deutschen Belegschaften abgezogen worden. Und nach Kriegsbeginn gab es aber noch mal eine weitere Expansion der Industrieproduktion für die Rüstungswirtschaft."

    Diese Steigerung der Produktion wäre ohne Zwangsarbeiter nicht möglich gewesen. Zwangsarbeiter trugen dadurch zum Ausbau der Rüstungsindustrie bei.

    Doch die Firmen waren keine reinen Befehlsempfänger der Berliner Zentralregierung. Die Maschinenfabrik Esslingen zum Beispiel weigerte sich, die Fertigung von Lokomotiven und Triebwagen aufzugeben und stattdessen Panzer zu bauen. Die Firma fürchtete, dass beim Bau der relativ simplen Panzer ihre Mitarbeiter das für den Lokomotivbau nötige Wissen verlören - oder aber irgendwo anders hin abwanderten.

    Die deutsche Maschinenbauindustrie nutzte die Zerschlagung der Arbeitnehmervertretung und die Zwangsarbeit, um die neuen Techniken Taktarbeit und Fließband einzusetzen. Elisabeth Timm:

    "Die Durchsetzung dieser neuen Produktionsmethoden, die typisch sind für die sogenannte fordistische Produktionsweise, Massenproduktion mit stark vertakteten Arbeitsgängen, hohe Stückzahlen, geringe Typenzahl und so weiter wurde im deutschen Maschinenbau vor allem auch während des Krieges mit der Möglichkeit der Ausbeutung der Zwangsarbeiter durchgesetzt. Und vor allem haben sich diese Methoden auch durchgesetzt nicht im so viel zitierten Freien Wettbewerb, sondern mit massiven staatlichen Subventionen, die Betriebe bekommen haben für die Einführung dieser neuen Produktionsmethoden, zum Beispiel durch das Reichsluftfahrtministerium."

    Mit Hilfe der Zwangsarbeiter wurden die Betriebe während des Krieges modernisiert. Dies und die erwirtschafteten Gewinne erlaubten es nach dem Krieg rasch wieder eine konkurrenzfähige Produktion aufzubauen. Die Zwangsarbeiter trugen so indirekt auch zum Wirtschaftswunder bei.

    Ohne diese 30 Millionen verschleppten Arbeitskräfte, die unzureichend ernährt und notdürftig untergebracht waren, hätte das Dritte Reich früher kapitulieren müssen. Die Zwangsarbeiter wurden überall gebraucht, nicht nur in den Rüstungsbetrieben, sondern auch in der Landwirtschaft oder den Kommunen.

    "Beispielsweise waren schon 1940 bei den Waldarbeitern, die die Stadt Esslingen auf kommunaler Ebene beschäftigt hatte, 40 Prozent Kriegsgefangene, ausländische. Man kann hier für den Luftschutzstollenbau in Esslingen feststellen, dass drei Viertel der Arbeitsstunden für den Luftschutzstollenbau hier in der Stadt von ausländischen Zwangsarbeitern geleistet worden ist. Das heißt: Ohne den zwangsweisen Einsatz, ohne die massenhafte Deportation von Zivilbevölkerung, hätte es für die deutsche Zivilbevölkerung kaum eigentlich einen Schutz bei Luftangriffen gegeben."

    Die Studie belegt, dass Zwangsarbeit für die Zivilbevölkerung wesentlich wichtiger war, als man bisher annahm. Die Kommune setzte sich sogar über geltendes Recht hinweg, wenn es um die Unterbringung oder Bestrafung von Zwangsarbeitern ging. Natürlich blieben persönliche Kontakte nicht aus, die aber sowohl am Arbeitsplatz, als auch im Privatleben nicht erwünscht waren. Elisabeth Timm:

    "Wenn man es ganz allgemein sagen will - was dann immer schnell und genau und deswegen auch falsch wird - kann man aber vielleicht doch sagen: Dass die Haltung der deutschen Zivilbevölkerung gegenüber diesen ausländischen Deportierten vor Allem eine Haltung der Indifferenz war. Man muss dazu sagen, dass eine massive Propaganda betrieben worden ist, grade auch natürlich in Betrieben, wie Esslingen, die zuvor eine starke Arbeiterbewegung gehabt hat, wo auch damit gerechnet wurde, dass zum Beispiel Solidarisierungseffekte entstehen durch das gemeinsame Arbeiten. Auch die deutschen Belegschaften waren ja ihrer Interessenvertretung beraubt und hatten unter Repressionen zu leiden, wenn auch nicht unter so lebensbedrohlichen, wie die Ausländer. Und da hat man mit massiver Propaganda sozusagen die Spaltung der Belegschaften auch erreicht."

    Ähnlich war es im Alltag. Zwar halfen Zwangsarbeiter nach Feierabend Bauern und Gärtnern gegen Naturalien, aber es kam in der Regel weder zu einer Verbrüderung noch zu offener Ablehnung. Gerade diese indifferente Haltung stabilisierte die Situation. Eine eindeutige Haltung in der einen oder anderen Richtung, Solidarität oder Ablehnung, hätte den Einsatz erschwert, weil die Zwangsarbeiter manchmal in der Mehrzahl waren:

    "In manchen Industrieunternehmen, wie etwa der Maschinenfabrik Esslingen, ging der Anteil auch auf 60 Prozent. Das ist ein vergleichsweise hoher Anteil. Um einen Vergleichsgebiet zu nennen, das wäre etwa die sächsische Rüstungsindustrie die auch einen starken Maschinen-, Metallbau-Anteil hatte. Dort war nur jeder fünfte Arbeitsplatz mit einem ausländischen Zwangsarbeiter besetzt. Das liegt nun nicht daran, dass die Esslinger Unternehmen besonderes nationalsozialistisch orientiert waren, sondern geht einfach darauf zurück, dass die Industriestruktur hier am Ort eben einen starken Schwerpunkt im Maschinenbau hatte, der in der Rüstungsindustrie eine außerordentlich hohe Bedeutung hatte."

    Und wie reagieren die Esslinger auf die Forschung und die jetzt veröffentlichte Studie? Der Leiter des Esslinger Stadtarchives, Dr. Joachim Halbekann, freut sich,

    "dass die Resonanz in den politischen Gremien eine intensive ist, und auch bei den Veranstaltungen, die es zum Thema gegeben hat, also die Resonanz sehr groß war. Frau Timm hat hier auch schon mal einen Vortrag gehalten - oder war bei einer Diskussionsveranstaltung. Das ist auch intensiv in der Presse begleitet worden, sodass ich davon ausgehen, dass die Resonanz doch eine erhebliche sein wird."